Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 II 209



87 II 209

30. Urteil der II. Zivilabteilung von 22. Juni 1961 i.S. G. gegen F.
Regeste

    Ehescheidung. Begriff der Schuldlosigkeit nach Art. 151/52 ZGB.

    Ein für die Zerrüttung und Scheidung nicht kausaler, viele Jahre
zurückliegender Ehebruch der Frau ist ihr nicht mehr als Verschulden
anzurechnen, nachdem der Mann in Kenntnis dieser Verfehlung sich einer
frühern Scheidungsklage der Frau widersetzt und diese zum Rückzug derselben
veranlasst hatte.

Sachverhalt

    A.- Der am 12. Februar 1935 geschlossenen Ehe der Parteien entsprossen
drei Kinder, deren zwei noch minderjährig sind. Im Oktober 1953 klagte
die Ehefrau ein erstes Mal auf Scheidung mit der Begründung, der Beklagte
sei vom Anfang der Ehe an dem Alkohol ergeben und sehr häufig betrunken;
im Rausch sei er streitsüchtig, ihr gegenüber wiederholt tätlich geworden
und habe sie zweimal mit Erschiessen bedroht; geschlechtlich habe er sie
vernachlässigt und nur im betrunkenen Zustande mit ihr verkehren wollen.
Um die Kinder habe er sich kaum bekümmert und ihr zu wenig Haushaltungsgeld
gegeben. Bei diesem Zustand des ehelichen Verhältnisses habe sie, die
Klägerin, 1947 bis anfangs 1948 sich mit dem damaligen Zimmermieter S. in
ehebrecherische Beziehungen eingelassen.

    Der Beklagte widersetzte sich der Scheidung. Er bezeichnete die
Darstellung der Klägerin über sein Verhalten als übertrieben und machte
seinerseits geltend, die Klägerin habe noch im April 1950 mit S. zusammen
in Lausanne übernachtet. Die Klägerin gab dies zu, erklärte jedoch,
es sei dabei nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen.

    In der Folge einigten sich die Parteien dahin, die eheliche
Gemeinschaft fortsetzen zu wollen. Demgemäss zog die Ehefrau am 31. März
1954 die Scheidungsklage zurück.

    Da sich die Verhältnisse in der Ehe nicht besserten, erwirkte die
Ehefrau 1956 die Bewilligung zum Getrenntleben, konnte jedoch mangels
einer andern Wohngelegenheit davon nicht Gebrauch machen. Gestützt auf
eine neue derartige Verfügung vom Frühjahr 1958 hielt sich die Klägerin
mit den Kindern bis Januar 1959 in N. bei einem gewissen L. auf, dem sie
den Haushalt besorgte und drei Kinder betreute, wofür sie als Entgelt
Kost und Wohnung für sich und ihre beiden jüngern Kinder erhielt. Im Mai
1959 kehrte sie auf Wunsch des Mannes zu diesem zurück.

    Am 15. Oktober 1959 reichte Frau G. erneut Scheidungsklage ein. Sie
machte geltend, die Ehe sei infolge der Trunksucht und des durch dieses
Laster bedingten ehewidrigen Verhaltens des Beklagten unheilbar zerrüttet.

    Dieser verlangte ebenfalls die Scheidung gemäss Art. 142 ZGB. Beide
Parteien beanspruchten die beiden Kinder.

    B.- Das Bezirksgericht sprach die Scheidung - wie aus den Motiven
hervorgeht in Gutheissung der Klage der Frau wegen weit überwiegenden
Verschuldens des Mannes - aus, teilte die Kinder der Mutter zu und
verpflichtete den Beklagten zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von
Fr. 120.-- für jedes Kind und einer Entschädigungsrente von Fr. 160.--
an die Klägerin gemäss Art. 151 Abs. 1 ZGB.

    C.- Auf Berufung des Beklagten hat das Obergericht des Kantons Thurgau
mit Urteil vom 8. November 1960 die Entschädigungsrente in Ansehung
des frühern ehebrecherischen Verhältnisses der Klägerin auf Fr. 100.--
im Monat herabgesetzt.

    D.- Mit der vorliegenden Berufung beantragt der Beklagte gänzliche
Abweisung der Rentenforderung der Klägerin.

    Diese trägt auf Bestätigung des Urteils an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    Der Beklagte macht mit der Berufung geltend, die Vorinstanz habe
Bundesrecht, nämlich Art. 151 ZGB, dadurch verletzt, dass sie die
Klägerin als schuldlos im Sinne dieser Bestimmung erachtet habe. Auf
diese Qualifikation und damit auf eine Entschädigung aus Art. 151 habe
die Klägerin keinen Anspruch, weil sie sich des Ehebruchs schuldig
gemacht habe.

    Beide Vorinstanzen haben - gestützt auf die Rechtsprechung des
Bundesgerichtes (BGE 71 II 52, 79 II 134, 85 II 11) - das frühere
Verhältnis der Klägerin mit S. nicht zum Anlass genommen, ihr jegliche
Forderung aus Art. 151 Abs. 1 ZGB abzusprechen, und dies mit Recht. Nach
den für das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen Feststellungen
der Vorinstanz hat der Beklagte durch seine Trunksucht und sonstiges
pflichtwidriges Verhalten die Zerrüttung der Ehe und damit die
Scheidung allein verursacht, während die Verfehlung der Klägerin von
1947/48 weder für die bereits damals zufolge des Verhaltens des Mannes
vollendete, noch für die heute vorliegende Zerrüttung der Ehe von kausaler
Bedeutung war. Darin liegt ein entscheidender Unterschied zu dem in der
Berufungsbegründung herangezogenen Entscheid im Falle Leuch c. Leiser (BGE
85 II 10 f.), wo die Ehefrau ein für die Zerrüttung und Scheidung kausales
Verschulden traf. Handelt es sich, wie hier, auf Seite der durch die
Scheidung ökonomisch geschädigten Partei um ein Verschulden, das für die
Scheidung nicht kausal ist, dann müsste dieses Verschulden, angesichts der
schadenersatzrechtlichen Natur des Art. 151 ZGB, grundsätzlich überhaupt
ausser Betracht gelassen werden, sogut wie anderseits auf Seite der nach
Art. 151 belangten Scheidungspartei nur ein für die Scheidung kausales
Verschulden diesen Eheteil zur Leistung einer Entschädigung verpflichten
kann (BGE 79 II 134/35). Wenn die Rechtsprechung trotzdem auch ein für die
Scheidung nicht kausales Verschulden der durch sie geschädigten Partei
unter Umständen genügen lässt, um dieser einen Anspruch aus Art. 151 zu
versagen, so geschieht dies aus der Überlegung heraus, dass ein Ehegatte,
der sich selber grob ehewidrig verhalten hat, das (kausale) Verschulden
des andern nach Treu und Glauben nicht soll zum Anlass nehmen dürfen,
sich von diesem eine Entschädigung zahlen zu lassen (BGE 55 II 16, 71
II 52 f.). In einem Falle wie dem vorliegenden drängt sich jedoch diese
Erwägung nicht nur nicht auf, sondern wäre durchaus fehl am Platze.

    Als die Klägerin im Jahre 1953 wegen der Trunksucht, Grobheit und
Lieblosigkeit des Beklagten, und nicht etwa wegen ihres damals schon
mehrere Jahre zurückliegenden Verhältnisses mit S., die Scheidung
verlangte, widersetzte sich der Beklagte in voller Kenntnis dieser
Verfehlung der Frau dem Scheidungsbegehren und veranlasste die Klägerin
zum Klagerückzug. Damit haben die Parteien einander alles frühere Unrecht
verziehen und sind gleichsam an den Anfang ihrer Ehe zurückgekehrt. Beide
durften in guten Treuen erwarten, dass bei Bewährung des einen Ehepartners
der andere ihm das Vergangene nicht mehr vorhalten werde. Insbesondere
durfte die Klägerin erwarten, dass sie bei Rückfall des Beklagten in
seine alten, ehezerstörenden Fehler nicht nach Jahren vor der Wahl stehen
würde, entweder in der wieder zerrütteten Ehe auszuharren und bis an ihr
Lebensende die Trunksucht des Mannes mitsamt ihren Begleiterscheinungen zu
erdulden, oder dann ohne jede Entschädigung die Scheidung zu erwirken. Der
Anspruch der Klägerin auf Entschädigung ist gleich zu beurteilen, wie wenn
es 1954 zur Scheidung und bald darauf zur Wiederverheiratung der Parteien
gekommen wäre. Dem Sinne nach war der vom Beklagten damals erwirkte
Klagerückzug nichts anderes. Die Vorinstanz hat mithin mit Recht der
Klägerin die Schuldlosigkeit im Sinne des Art. 151 ZGB zugebilligt. Dass
sie im Widerspruch dazu die frühere Verfehlung der Klägerin bei der
Bemessung der Entschädigungsrente als Reduktionsgrund berücksichtigt hat,
ist von der Klägerin hingenommen worden.

    .....

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des
Kantons Thurgau vom 8. November 1960 bestätigt.