Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 II 132



87 II 132

19. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. Februar 1961
i.S. Frau L. gegen Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich. Regeste

    Besteht eine in der Schweiz gegenüber einem Schweizer angeordnete
Beiratschaft (Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB) weiter, wenn der Schutzbefohlene
seinen Wohnsitz in das Ausland verlegt hat? In welchem Verhältnis
steht Art. 28 NAG zu den Artikeln 29 und 30 NAG?

Sachverhalt

    A.- Frau Ruth L., geboren 1914, von Zürich, steht seit 16. August
1954 gemäss einem Beschluss des Bezirksrates Zürich unter Beiratschaft im
Sinne des Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB. Seit dem Monat Februar 1959 weilt
sie mit einer Tochter in Buenos Aires, während ihr Vermögen weiter von
ihrem Beirat in Zürich verwaltet wird.

    B.- Mit Gesuch vom 14. Juli 1959 hat sie die Aufhebung der Beiratschaft
verlangt. Der Bezirksrat Zürich hat das Gesuch abgewiesen, ebenso die
Justizdirektion des Kantons Zürich und, mit Entscheid vom 30. Juni 1960,
der Regierungsrat.

    C.- Gegen diesen Entscheid hat die Gesuchstellerin Berufung an das
Bundesgericht eingelegt. Der Antrag geht auf Aufhebung der Beiratschaft,
eventuell auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur nähern Abklärung
des Sachverhaltes und zu neuer Beurteilung. Die Gesuchstellerin nimmt
weiterhin den Standpunkt ein, sie habe in Argentinien Wohnsitz genommen,
und die argentinische Gesetzgebung unterstelle alle Bewohner des Landes in
Bezug auf vormundschaftliche Massnahmen dem dort geltenden Recht. Darauf
sei nach Art. 28 NAG auch in der Schweiz Rücksicht zu nehmen. Somit
sei die seinerzeit in der Schweiz angeordnete Beiratschaft infolge der
Wohnsitznahme in Argentinien ohne weiteres aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    In welchem Verhältnis Art. 28 NAG zu den speziell die Vormundschaft für
Auslandschweizer betreffenden Artikeln 29 und 30 NAG stehe, ist umstritten.
Nach der einen Ansicht gilt Art. 28 NAG auch für die Vormundschaft (und
andere vormundschaftliche Massnahmen) uneingeschränkt. Art. 29 (und ebenso
Art. 30) grenzt nach dieser Betrachtungsweise lediglich die Zuständigkeit
der schweizerischen Vormundschaftsbehörden unter sich ab für den in
Art. 28 Ziff. 2 NAG vorgesehenen Fall, dass die ausländische Gesetzgebung
den in ihrem Gebiet wohnhaften Schweizer dem ausländischen Recht nicht
unterwirft (so namentlich ISENSCHMID, Die Vormundschaft über Ausländer
in der Schweiz und über Schweizer im Ausland, S. 30 ff.). Nach der andern
Ansicht stellen die Artikel 29 und 30 selbständige, nicht an die Schranken
des Art. 28 gebundene Regeln auf. Bei dieser Art der Auslegung greift
die in den Artikeln 29 und 30 NAG vorgesehene Fürsorge schweizerischer
Vormundschaftsbehörden für Auslandschweizer Platz ohne Rücksicht auf die
im Wohnsitzstaate geltenden Zuständigkeits- und Rechtsanwendungsnormen (so
namentlich ALEXANDER, Die Vormundschaft für Ausländer in der Schweiz und
für Auslandschweizer, S. 88 ff.). Das Bundesgericht ist neulich in bezug
auf Art. 30 NAG der zweiten Auffassung beigetreten (BGE 86 II 323 ff.). Was
in jenem Entscheid, unter Würdigung der verschiedenen Lehrmeinungen,
zu Art. 30 NAG ausgeführt wurde, gilt um so mehr für die Anwendung des
Art. 29, der die Weiterführung einer bereits vor der Auswanderung des
Betroffenen angeordneten Vormundschaft vorsieht. Unzutreffend ist auf
alle Fälle die von ISENSCHMID (aaO) vertretene Meinung, schon infolge des
systematischen Zusammenhanges könne Art. 29 keinen Gegensatz zu Art. 28 NAG
bilden. Denn die beiden Vorschriften weichen in einer Hinsicht offenkundig
voneinander ab: Nach Art. 28 Ziff. 2 wäre für die vormundschaftliche
Betreuung eines dem ausländischen Rechte nicht unterworfenen Schweizers
der Heimatkanton zuständig; nach Art. 29 in Verbindung mit Art. 10 NAG und
Art. 376 ZGB ist es dagegen der Wohnsitzkanton. Aber auch abgesehen hievon
gilt Art. 29 nicht nur in den Schranken des Art. 28 NAG. Das ist aus dem in
jener Bestimmung ausgesprochenen Gebote zu schliessen, die schweizerische
Vormundschaft sei am bisherigen Orte weiterzuführen, "solange der Grund der
Vormundschaft fortbesteht". Damit ist zweifellos der nach schweizerischem
Recht gegebene Grund der Vormundschaft (bezw. Beiratschaft) gemeint, wie er
eben zu dieser Massnahme geführt hat, und im übrigen wird eine fortdauernde
Zuständigkeit der schweizerischen Vormundschaftsbehörde vorgesehen ohne
jeden Vorbehalt, wie er sich aus Art. 28 ergeben könnte. Die Vorschrift
des Art. 29 hat nur dann einen guten Sinn, wenn sie dahin verstanden wird,
die Vormundschaft falle in keinem Falle schon mit der Begründung eines
ausländischen Wohnsitzes weg, also auch dann nicht, wenn das Mündel nach
der Gesetzgebung des Wohnsitzstaates dem ausländischen Recht untersteht.

    Die Durchsetzung dieses Grundsatzes kann freilich auf praktische
Schwierigkeiten stossen. Die schweizerischen Behörden sind bisweilen nicht
in der Lage, den landesabwesenden Bürger gehörig zu betreuen. Das ist
jedoch kein Grund, die gesetzliche Regel überhaupt nicht anzuerkennen und,
soweit es möglich ist, anzuwenden (wofür unter Umständen die Rechtshilfe
ausländischer Behörden in Anspruch genommen werden kann). Gerade im
vorliegenden Falle lässt sich die Beiratschaft in ihrer wichtigsten
Beziehung, der Vermögensverwaltung, trotz dem Wegzug der schutzbedürftigen
Person ausüben. Das ganze Wertschriftenvermögen der Berufungsklägerin
liegt in der Schweiz und kann daher vor einer etwa noch drohenden
Verschleuderung durch die unter Beiratschaft gestellte Person bewahrt
werden.

    Im übrigen wäre es unrichtig anzunehmen, einem im Wohnsitzstaate dem
(dortigen) ausländischen Recht unterworfenen Schweizer werde in jenem
Staat ohnehin die nötige Fürsorge zuteil. Das trifft nur zu, wenn die
Behörden des Wohnsitzstaates ihre Befugnisse tatsächlich ausüben,
wobei vom Standpunkt der Art. 29 und 30 NAG ausserdem die Geltung
einer dem schweizerischen Recht entsprechenden Vormundschaftsordnung
vorausgesetzt werden müsste. Selbst Autoren, die grundsätzlich auch im
Gebiete des Vormundschaftswesens den Art. 28 NAG angewendet wissen wollen,
halten denn auch dafür, es komme nicht einfach auf die Zuständigkeits-
und Rechtsanwendungsnormen des Wohnsitzstaates an, sondern auf die
effektive, dem Auslandschweizer wirksamen Schutz bietende Ausübung der
vormundschaftlichen Befugnisse (A. SCHNITZER, Internationales Privatrecht,
4. Auflage, I S. 487; A. HEINI, Zum kollisionsrechtlichen Problem der
Vormundschaft üher Auslandschweizer, SJZ 55-1959 S. 301 ff., besonders
S. 307 Ziff. 2). Ein solcher Vorbehalt liesse sich aber schwerlich mit
den Regeln des Art. 28 NAG in Einklang bringen. Indessen bedarf es einer
speziellen Auslegung des Art. 28 für die Zwecke des Vormundschaftswesens
gar nicht, da die Artikel 29 und 30 NAG von jener Bestimmung unabhängig
sind und den schweizerischen Behörden volle Handlungsfreiheit zum Schutz
der Auslandschweizer gewähren.

    Anderseits zwingen die Artikel 29 und 30 NAG die schweizerischen
Behörden nicht, an jeglichen etwa im Ausland getroffenen
vormundschaftlichen Massnahmen vorbeizusehen und ihre Befugnisse unter
allen Umständen auszuüben. Wie in BGE 86 II 330 ausgeführt wurde,
können sich Massnahmen im Sinne des Art. 30 NAG als "unnötig" erweisen,
wenn dem betreffenden Bürger im Wohnsitzstaate der ihm gebührende Schutz
gewährt wird. Auch eine in der Schweiz bereits vor der Auswanderung des
Bürgers angeordnete vormundschaftliche Massnahme kann wegen entsprechender
Vorkehren der ausländischen Behörden unter Umständen gänzlich überflüssig
werden. Lässt der Wohnsitzstaat dem Auslandschweizer einen gleichwertigen
Schutz angedeihen, so ist damit der Grund einer in der Schweiz zu führenden
Vormundschaft (bezw. Beiratschaft), wie ihn Art. 29 NAG im Auge hat,
dahingefallen, was ihre Aufhebung im gegebenen Falle rechtfertigen würde.