Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 I 33



86 I 33

6. Urteil vom 24. Februar 1960 i.S. Haniel GmbH gegen Giger und
Bezirksgericht Affoltern. Regeste

    Art. 81 Abs. 3 SchKG. Soweit Staatsverträge über die Vollstreckung
gerichtlicher Urteile bestehen, ist im Rechtsöffnungsverfahren zu
entscheiden, ob das auf Geldzahlung oder Sicherheitsleistung gerichtete
Urteil eines ausländischen Gerichts zur Vollstreckung zuzulassen sei
(Erw. 1).

    Art. 1 des Vollstreckungsabkommens mit Deutschland vom 2. November
1929. Der Vollstreckungsbefehl im Sinne von §§ 699 und 700 der deutschen
ZPO kann in der Schweiz vollstreckt werden.

Sachverhalt

    A.- Die Haniel GmbH erwirkte beim Amtsgericht Stuttgart gegen den
damals dort wohnenden Jean Giger einen Zahlungsbefehl wegen 639.20
DM nebst Zinsen und 57.10 DM Kosten. Der Schuldner erhob keinen
Widerspruch. Das Amtsgericht erklärte darauf den Zahlungsbefehl mit
Vollstreckungsbefehl vom 8. Oktober 1958 für vorläufig vollstreckbar. Der
Vollstreckungsbefehl wurde dem inzwischen nach Hedingen (Kanton Zürich)
übergesiedelten Schuldner am 10. Dezember 1958 durch das Bezirksgericht
Affoltern zugestellt. Der Schuldner liess die auf drei Wochen angesetzte
Einspruchsfrist unbenützt verstreichen. Der Vollstreckungsbefehl ist gemäss
Bescheinigung des Amtsgerichts Stuttgart vom 14. August 1959 rechtskräftig.

    B.- Die Gläubigerin leitete in der Folge gegen den Schuldner in
Hedingen die Betreibung ein. Als er Recht vorschlug, ersuchte sie den
Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirks Affoltern, den
Vollstreckungsbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 8. Oktober 1958
für vollstreckbar zu erklären und ihr gestützt darauf für die Beträge
von Fr. 660.95 und Fr. 59.05 nebst Zinsen und Kosten definitiv das
Recht zu öffnen. Der Einzelrichter hat das Gesuch am 1. Oktober
1959 abgewiesen. Er hat dazu ausgeführt, der ins Recht gelegte
Vollstreckungsbefehl sei keine vollstreckbare Entscheidung im Sinne
von Art. 1 des schweizerisch-deutschenVollstreckungsabkommens vom 2.
November 1929. Nach dem Sinn und Geist des Abkommens seien nur Akte der
Rechtsprechung vollstreckbar, die in einem Verfahren ergangen seien, das
der beklagten Partei alle Verteidigungsrechte einräume. Wohl sei der in
Frage stehende Vollstreckungsbefehl von einem bürgerlichen Gericht erlassen
worden; dieses habe indes nicht als rechtsprechende Behörde, sondern
als Organ der Zwangsvollstreckung gehandelt. Das "Betreibungsverfahren",
worin der Vollstreckungsbefehl ergangen sei, biete keine Gewähr für die
volle Wahrung der Verteidigungsrechte.

    C.- Die Haniel GmbH führt gestützt auf Art. 84 Abs. 1 lit. c
OG staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 1 des
schweizerisch-deutschen Vollstreckungsabkommens mit den Anträgen, es sei
die Verfügung des Einzelrichters aufzuheben, der Vollstreckungsbefehl des
Amtsgerichts Stuttgart vom 8. Oktober 1958 für vollstreckbar zu erklären
und die nachgesuchte definitive Rechtsöffnung zu erteilen.

    D.- Der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirks Affoltern
hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Giger hat sich nicht vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 6 des schweizerisch-deutschen Vollstreckungsabkommens
werden die Entscheidungen der Gerichte des einen Staates, die nach dem
Staatsvertrag im Gebiet des anderen Staates anzuerkennen sind, auf Antrag
einer Partei von der zuständigen Behörde dieses Staates für vollstreckbar
erklärt. Welcher Behörde die Vollstreckbarerklärung obliegt, bestimmt
sich wie die Art und Weise der Vollziehung nach dem Recht des Staates,
in dem die Vollstreckung beantragt wird.

    Das Urteil, dessen Vollstreckung die Beschwerdeführerin begehrt,
hat die Verpflichtung zu einer Geldzahlung zum Gegenstand. Es ist nach
schweizerischem Recht auf dem Wege der Schuldbetreibung zu vollziehen
(Art. 38 Abs. 1 SchKG). Soweit Staatsverträge über die Vollstreckung
gerichtlicher Urteile bestehen, ist gemäss Art. 81 Abs. 3 SchKG von
Bundesrechts wegen im Rechtsöffnungsverfahren zu entscheiden, ob das auf
Geldzahlung oder Sicherheitsleistung gerichtete Urteil eines ausländischen
Gerichts zur Vollstreckung zuzulassen sei (BGE 35 I 462 Erw. 2, 61 I 277
Erw. 3; ZR 57 Nr. 150 Erw. 1 mit Verweisungen). Dem Betriebenen steht es
dabei zu, die Einwendungen zu erheben, die im betreffenden Staatsvertrag
vorgesehen sind. Mit Bezug auf alle Fragen, die sich aus der Anwendung des
Vollstreckungsabkommens ergeben, steht den Parteien nach Art. 84 Abs. 1
lit. c OG die staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht offen
(BGE 81 I 142 Erw. 1 mit Verweisungen), ohne dass sie vorgängig von den
kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch zu machen hätten (Art. 86 Abs. 3 OG;
BGE 83 I 20 Erw. 2 mit Verweisungen). Das Bundesgericht überprüft die
Auslegung und Anwendung der staatsvertraglichen Bestimmungen in rechtlicher
und tatsächlicher Hinsicht frei (BGE 85 I 44 Erw. 1 mit Verweisungen).

Erwägung 2

    2.- Art. 1 des schweizerisch-deutschen Vollstreckungsabkommens
bezeichnet als beiderseits anerkennungs- und vollstreckungsfähig "die
im Prozessverfahren über vermögensrechtliche Ansprüche ergangenen
rechtskräftigen Entscheidungen der bürgerlichen Gerichte ... ohne
Unterschied ihrer Benennung (Urteile, Beschlüsse, Vollstreckungsbefehle),
jedoch mit Ausnahme der Arreste und einstweiligen Verfügungen". Die
kantonale Instanz ist zum Schluss gelangt, der ins Recht gelegte deutsche
Vollstreckungsbefehl sei in der Zwangsvollstreckung und nicht in einem
"Prozessverfahren" ergangen; er stelle keine "Entscheidung" im Sinne der
angeführten Bestimmung dar. Dem kann nicht gefolgt werden.

    Der Vollstreckungsbefehl wird von einem bürgerlichen Gericht
erlassen. Er ergeht nicht in der Zwangsvollstreckung im Sinne des
8. Buches der deutschen Zivilprozessordnung (§§ 704 ff.), sondern
im sogen. Mahnverfahren, das im 7. Buch der ZPO (§§ 688 ff.) geregelt
ist. Dieses Verfahren will für voraussichtlich unstreitige Ansprüche dem
Gläubiger ohne Sachverhandlung zu einem rechtskräftigen und vollstreckbaren
Titel verhelfen. Auf einseitige, unbeglaubigte und nur auf Schlüssigkeit
zu prüfende Behauptung des Gläubigers hin erlässt der Rechtspfleger des
Amtsgerichts bei gewissen Ansprüchen (§§ 688) einen Zahlungsbefehl, gegen
den der Schuldner Widerspruch erheben kann (§ 694). Geschieht das, so geht
das Verfahren in den ordentlichen Prozess über (§ 696 ff.), andernfalls
wird auf Gesuch des Gläubigers der Vollstreckungsbefehl erlassen, der
den Zahlungsbefehl vollstreckbar macht (§ 699), und der hinsichtlich
der Anfechtbarkeit und der Rechtskraftfähigkeit dem Versäumnisurteil
gleichsteht (§ 700 Satz 1). Gegen den Vollstreckungsbefehl kann der
Schuldner Einspruch erheben (§ 700 Satz 2). Unterlässt er das, so
ist der Vollstreckungsbefehl eine endgültige Entscheidung, der auch
materielle Rechtskraft zukommt (ROSENBERG, Lehrbuch des deutschen
Zivilprozessrechts, 8. Aufl., S. 794 f.; STEIN/JONAS/SCHÖNKE/POHLE,
Kommentar zur Zivilprozessordnung, 18. Aufl., Vorbemerkungen zum 7. Buch).

    Nach dem Gesagten treten im Mahnverfahren Rechtsträger als
Gegner auf; es geht darin um einen Entscheid über das Recht. Das
Mahnverfahren ist mithin ein "Prozessverfahren" im Sinne von
Art. 1 des Vollstreckungsabkommens (LEVIS, Deutsch-schweizerischer
Vollstreckungsvertrag, ZSR 56 S. 360, 365). Da der Schuldner gegen den
Zahlungsbefehl Widerspruch und gegen den Vollstreckungsbefehl Einspruch
erheben kann, bleiben seine Verteidigungsrechte ungeachtet des Fehlens
einer mündlichen Verhandlung voll gewahrt. Der Vollstreckungsbefehl selbst
ist (im Gegensatz zu den schweizerischen Rechtsöffnungsentscheiden)
eine Entscheidung über den materiellen Anspruch. Art. 1 des
Vollstreckungsabkommens hat dem Rechnung getragen, indem er darauf
hinweist, dass die "Vollstreckungsbefehle" als "Entscheidungen"
im Sinne des Staatsvertrags zu verstehen sind. Mit der Erwähnung der
"Vollstreckungsbefehle" wurde, wie die Botschaft des Bundesrats klarstellt,
auf die "deutschen Vollstreckungsbefehle (§§ 699 und 700 der deutschen
ZPO)" Bezug genommen (BBl 1929 III S. 533; vgl. auch ALEXANDER, Die
internationale Vollstreckung von Zivilurteilen, ZbJV 67 S. 5; KALLMANN,
Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Zivilurteile, S. 8; LEVIS,
a. a. O., S. 373; SCHNITZER, Internationales Privatrecht, 4. Aufl.,
S. 921; STAUFFER, Die neuen Verträge der Schweiz über die Vollstreckung
von Zivilurteilen, S. 7).

Erwägung 3

    3.- Der Vollstreckungsbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 8. Oktober
1958 stellt demzufolge einen Vollstreckungstitel im Sinne von Art. 1
des schweizerischdeutschen Vollstreckungsabkommens dar. Die angefochtene
Verfügung, die dies verneint, verstösst somit gegen den Staatsvertrag;
sie ist deshalb aufzuheben. Sache des Einzelrichters wird es sein, das
Vorliegen der weiteren Voraussetzungen für die Erteilung der verlangten
definitiven Rechtsöffnung zu prüfen.