Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 84



86 IV 84

23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. Mai 1960 i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB. Auf ein während der Probezeit begangenes
Verbrechen oder Vergehen, über das noch kein rechtskräftiges Urteil
ergangen ist, darf der Widerruf des bedingten Strafvollzuges nur gestützt
werden, wenn die neue Straftat ohne weiteres und unzweifelhaft feststeht.

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Bezirksgericht St. Gallen begründet den Widerruf des
bedingten Strafvollzuges gestützt auf Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB mit
dem vom Beschwerdeführer während der Probezeit begangenen Verbrechen der
Unzucht mit einem Kinde. Das darüber ergangene Urteil des Bezirksgerichts
Untertoggenburg sei zwar noch nicht rechtskräftig, da der Beschwerdeführer
vor der Urteilsfällung landesflüchtig geworden sei und sein Aufenthalt
nicht habe ausfindig gemacht werden können; nach der Judikatur genüge
jedoch, dass die neuen Delikte rechtsgenüglich nachgewiesen und vom
Angeschuldigten zugestanden seien, was hier zutreffe.

    Die Staatsanwaltschaft dagegen bezeichnet das Urteil des
Bezirksgerichts Untertoggenburg als rechtskräftig, teilt im übrigen
aber die Auffassung der Vorinstanz, wonach für den Widerruf genüge,
dass die neuen strafbaren Handlungen zur vollen Überzeugung des Richters
nachgewiesen und vom Angeklagten zugestanden seien.

Erwägung 2

    2.- Tatsächlich hat der Kassationshof entschieden, dass über das
neue Vergehen (oder Verbrechen) ein Strafverfahren nicht eröffnet
worden zu sein brauche; der Richter, der über den Vollzug der bedingt
aufgeschobenen Strafe zu erkennen habe, könne die Straftat selber
feststellen, sie vorfrageweise strafrechtlich würdigen und ihr als
Täuschung des richterlichen Vertrauens Rechnung tragen (BGE 79 IV
113). Voraussetzung dazu ist aber, dass das neue Vergehen oder Verbrechen
ohne weiteres und unzweifelhaft feststeht. In den andern Fällen darf der
Widerrufsrichter nicht vorgreifen, auf die Gefahr hin, dass widersprechende
Entscheidungen gefällt werden. Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB, der bestimmt,
dass vorsätzliche Vergehen oder Verbrechen, die in der Probezeit begangen
werden, den Widerruf des bedingten Strafvollzuges unter Vorbehalt von
Abs. 2 zwingend nach sich ziehen, hat grundsätzlich den Sinn, dass die neue
Straftat in dem dafür vorgesehenen und mit den entsprechenden Garantien
versehenen Urteilsverfahren festgestellt wurde.

    Der Beschwerdeführer hat in Wirklichkeit nur die objektiven
Straftatbestände, die unzüchtigen Handlungen mit dem Mädchen, zugegeben,
während die subjektive Seite, das Bewusstsein, dass das Mädchen noch
nicht 16 Jahre alt sei, von ihm bestritten wurde, was im Urteil des
Bezirksgerichts Untertoggenburg ausdrücklich festgestellt wird. Insoweit
beruht die Annahme der Vorinstanz, X. habe die Delikte zugestanden,
auf einem offensichtlichen Versehen im Sinne von Art. 277 bis Abs. 1
BStP. Im übrigen ist vom Beschwerdeführer ebensowenig zugestanden worden,
er habe in Kauf genommen, dass das Mädchen noch nicht 16 Jahre alt sei,
wie das Bezirksgericht Untertoggenburg als erwiesen angenommen hat. Der
Widerruf des bedingten Strafvollzuges könnte infolgedessen nur dann
auf das dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Verbrechen der Unzucht
gestützt werden, wenn das darüber ergangene Urteil des Bezirksgerichts
Untertoggenburg rechtskräftig wäre (BGE 74 IV 17, 80 IV 215).