Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 77



86 IV 77

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. März 1960
i.S. Sigrist gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn. Regeste

    Art. 397 StGB. Bundesrechtlich steht nichts im Wege, dass der
Revisionsrichter, der im neuen Sachurteil auf Strafe erkennt, bei der
Würdigung des Vorlebens und der persönlichen Verhältnisse des Täters
(Art. 63 und Art. 41 Ziff. 1 StGB) auch Umstände berücksichtigt, die erst
nach dem früheren Urteil eingetreten sind.

Sachverhalt

    A.- Sigrist wurde am 15. November 1955 vom Obergericht des Kantons
Solothurn wegen Unzucht mit einem Kinde in Anwendung von Art. 191 Ziff. 2
Abs. 1 StGB zu acht Monaten Gefängnis, bedingt vollziehbar mit einer
Probezeit von fünf Jahren, und zu Fr. 500.-- Genugtuung an das geschädigte
Kind verurteilt.

    Am 29. August 1958 verurteilte das Obergericht des Kantons Bern Sigrist
wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflichten und wegen Übertretung
des MFG zu zwei Monaten Gefängnis und Fr. 50.- Busse. Gestützt auf diese
Verurteilung ordnete das solothurnische Obergericht am 16. Oktober 1958
gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB den Vollzug der am 15. November 1955
ausgefällten Gefängnisstrafe an.

    B.- Am 9. Mai 1959 bewilligte das Obergericht des Kantons Solothurn
auf ein Revisionsgesuch hin, in welchem Sigrist unter Hinweis auf
ein ärztliches Zeugnis Unzurechnungsfähigkeit geltend machte, die
Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Unzucht. Es erklärte am 29. September
1959 nach Durchführung einer psychiatrischen Begutachtung Sigrist erneut
der Unzucht mit einem Kinde schuldig und verurteilte ihn im Rahmen des
Art. 63 StGB zu sechs Monaten Gefängnis, unter Verweigerung des bedingten
Strafvollzuges.

    C.- Der Verurteilte führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, es sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung,
eventuell zur Milderung der Strafe und zur Gewährung des bedingten
Strafvollzuges an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Art. 397 StGB bestimmt bloss, dass und unter welchen Voraussetzungen
von Bundesrechts wegen die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten
des Verurteilten zu gestatten ist. Darnach ist die Wiederaufnahme zu
bewilligen, wenn Tatsachen glaubhaft gemacht oder Beweismittel beigebracht
werden, die dem Gericht im früheren Verfahren nicht bekannt waren und
die den Tatbestand des beurteilten Falles so verändern, dass ein neues
Urteil, wenn vom berichtigten Sachverhalt ausgegangen wird, für den
Verurteilten günstiger ausfallen kann (BGE 76 IV 36, 81 IV 44). Für
den Fall der Gutheissung des Wiederaufnahmebegehrens stellt dagegen
das eidgenössische Strafgesetzbuch keine Vorschriften darüber auf, nach
welchen prozessualen Grundsätzen das neue Sachurteil auszufällen sei.
Aus dem Zweck der Revision ergibt sich freilich, dass das neue Urteil
das frühere rückwirkend ersetzt (BGE 85 IV 170). Daraus folgt aber nicht
notwendig, dass für die neue Beurteilung ausschliesslich die Verhältnisse
zur Zeit des früheren Urteils massgebend sein müssen, d.h. dass der
Revisionsrichter überhaupt nur ex tunc und in keinem Falle ex nunc
urteilen dürfe. Bundesrechtlich steht jedenfalls nichts im Wege, dass
bei der Würdigung der Person des Gesuchstellers, bei der Strafzumessung
wie beim Entscheid über die Gewährung des bedingten Strafvollzuges, auch
Umstände mitberücksichtigt werden, die erst nach dem früheren Urteil
eingetreten sind. Es wäre unbefriedigend, wenn der Richter, der nicht
bloss die strafbare Handlung, sondern auch die Persönlichkeit des Täters
zu beurteilen hat, im Revisionsverfahren - im Gegensatz zum ordentlichen
Verfahren - nicht auch dem Verhalten seit der Tat und den persönlichen
Verhältnissen im Zeitpunkt der Neubeurteilung Rechnung tragen könnte. Was
insbesondere die Verweigerung des bedingten Strafvollzuges anbetrifft,
müsste die Berücksichtigung später eingetretener Tatsachen auch aus
Gründen der Prozessökonomie zugelassen werden; es wäre unzweckmässig,
in Fällen wie dem vorliegenden, wo die früher ausgesprochene Strafe
bedingt aufgeschoben wurde, später aber gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1
StGB vollziehbar erklärt werden musste, im Revisionsverfahren nur auf
den zur Zeit des früheren Urteils bekannten Sachverhalt abzustellen
und nachträglich im Widerrufsverfahren die Gewährung des bedingten
Strafvollzuges wieder rückgängig zu machen, anstatt ihn schon bei der
Ausfällung des neuen Urteils zu verweigern.

    Die Verweigerung des bedingten Strafvollzuges verstösst daher nicht
gegen Art. 397 StGB. Sie verletzt auch nicht Art. 41 Ziff. 1 StGB. Die
Tatsache, dass der Beschwerdeführer während der ihm im früheren Urteil
angesetzten Probezeit sich eines vorsätzlichen Vergehens schuldig
gemacht hat, beweist, dass ihn eine blosse Warnungsstrafe von weiteren
Verbrechen oder Vergehen nicht abzuhalten vermag. Die Vorinstanz
begründet die ungünstige Prognose ausserdem mit der Einsichtslosigkeit
des Beschwerdeführers, welche nach dem psychiatrischen Gutachten und den
haltlosen Einwendungen, die er im Revisionsverfahren zur Bestreitung
seiner Schuld und in der vorliegenden Beschwerde zur Beschönigung der
vom bernischen Obergericht rechtskräftig beurteilten Vernachlässigung
der Unterstützungspflicht erhoben hat, offenkundig ist.

Entscheid: