Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 65



86 IV 65

18. Entscheid der Anklagekammer vom 8. April 1960 i.S. Pache gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Untersuchungsrichter des
Kantons Waadt. Regeste

    Art. 264 BStP.

    Bis zu welchem Zeitpunkt kann der Beschuldigte die Anklagekammer zur
Bestimmung des Gerichtsstandes anrufen, wenn dem Begehren ein kantonales
Verfahrehren vorausgegangen ist, in welchem über die Zuständigkeitsfrage
entschieden wurde (Erw. 1)?

    Art. 346 Abs. 1 Satz 2, Art. 348 StGB.

    1.  Gerichtsstand des Erfolgsortes bei Wucher, begangen durch Gewährung
von Darlehen seitens eines im Ausland befindlichen Kreditinstituts an in
der Schweiz wohnhafte Personen (Erw. 2).

    2.  Der Gerichtsstand des Erfolgsortes geht den Gerichtsständen aus
Art. 348 StGB vor (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Pache, vormals in Vaduz, nunmehr in der Waadt wohnhaft,
wird beschuldigt, im Jahre 1958 durch die von ihm geleitete Firma
Etablissement Transcrédit in Vaduz zum Nachteil verschiedener Personen
in Zürich wucherische Darlehensgeschäfte getätigt zu haben. So sollen
drei Personen, die sich auf Grund von Prospekten oder Inseraten um
Darlehen an die genannte Firma gewandt hatten, nach Ausstellung der von
dieser verlangten Schuldanerkennungen und (verbürgten) Darlehenswechsel
Beträge von Fr. 1000.--, Fr. 1500.-- und Fr. 2000.-- erhalten haben, die
zu ungefähr 30% jährrlich zu verzinsen waren. Die Verhandlungen zwischen
der Firma und den Borgern waren nach den Akten ausschliesslich auf dem
Korrespondenzweg geführt worden.

    B.- Von der Bezirksanwaltschaft Zürich aufgefordert, sich zur Sache
vernehmen zu lassen, bestritt Pache die örtliche Zuständigkeit der Zürcher
Behörden, indem er geltend machte, die Darlehensverträge seien in Vaduz
abgeschlossen worden und dort sei auch der Erfolg eingetreten.

    Die Einrede der Unzuständigkeit wurde in zweiter Instanz von der
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich mit Verfügung vom 9. Dezember
1959 abgewiesen.

    C.- Mit Eingabe vom 19. Februar/11. März 1960 ersucht Pache die
Anklagekammer des Bundesgerichtes um Bestimmung des Gerichtsstandes. Er
beantragt, es sei den Behörden des Kantons Zürich die örtliche
Zuständigkeit abzusprechen, eventuell sei der Kanton Waadt gemäss Art. 348
Abs. 1 StGB als Wohnsitzkanton mit der Sache zu befassen.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt im Einvernehmen
mit dem Untersuchungsrichter der Waadt Abweisung des Gesuches.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Gesuch um Bestimmung des Gerichtsstandes nach Art. 264 BStP ist
an keine gesetzliche Frist gebunden. Der Beschuldigte hat daher formell
das Recht, bis zu seiner Aburteilung die Anklagekammer anzurufen (BGE
85 IV 209); dies auch dann, wenn dem Begehren ein kantonales Verfahren
vorausgegangen ist, in welchem die Einrede der örtlichen Zuständigkeit
Gegenstand einer besonderen Entscheidung der mit der Strafuntersuchung
befassten oder einer dieser übergeordneten Behörde (Rekursinstanz)
bildete. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass der Beschuldigte mit
dem Weiterzug des über die Zuständigkeitsfrage ergangenen kantonalen
Entscheides beliebig lange zuwarten dürfe. Die Anklagekammer hat
gegenteils stets verlangt, dass der Beschuldigte, der den Gerichtsstand
bestreiten will, das in einem Zeitpunkt tue, in dem das Verfahren noch
nicht soweit gediehen ist, dass sich eine Änderung des Gerichtsstandes
mit dem Erfordernis einer raschen Abwicklung der Strafverfolgung nicht
mehr verträgt (BGE 72 IV 194, 85 IV 209).

    In Anwendung dieser Grundsätze könnte sich fragen, ob das
vorliegende Gesuch, das erst drei Monate nach dem Rekursentscheid der
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich bei der Anklagekammer eingereicht
wurde, nicht verspätet sei. Indessen wird eine solche Verspätung
weder von den beteiligten kantonalen Behörden geltend gemacht, noch
ist den dem Bundesgericht eingereichten Akten zu entnehmen, dass die
Untersuchung in der Zwischenzeit bereits soweit vorangeschritten sei,
dass sie unmittelbar vor dem Abschluss stehe und sich aus diesem Grunde
ein Wechsel des Gerichtsstandes nicht mehr verantworten liesse. Es ist
daher zu prüfen, ob das Gesuch nach den gesetzlichen Normen begründet sei.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 346 Abs. 1 StGB sind für die Verfolgung und Beurteilung
einer strafbaren Handlung die Behörden des Ortes zuständig, wo die
strafbare Handlung ausgeführt wurde. Liegt nur der Ort, wo der Erfolg
eingetreten ist oder eintreten sollte, in der Schweiz, so sind die Behörden
dieses Ortes zuständig.

    Dass die strafbaren Handlungen, deren Pache beschuldigt wird,
in der Schweiz ausgeführt worden seien, hat die Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich in ihrer Verfügung vom 9. Dezember 1959 nicht
angenommen. Sie hielt jedoch dafür, dass der deliktische Erfolg in
Zürich eingetreten sei. Der Wortlaut des Gesetzes (Art. 157 StGB)
lasse deutlich erkennen, dass die Erfüllung des Tatbestandes durch das
"Gewährenlassen" oder "Versprechenlassen" von Vermögensleistungen eine
Tätigkeit des Bewucherten voraussetze. So hätten denn im vorliegenden
Fall die ausgebeuteten Personen die ihnen auf dem Korrespondenzweg aus
Vaduz zugestellten Unterlagen prüfen, die Darlehensverträge unterzeichnen
und die Vertragsinstrumente dem Beschuldigten zurücksenden müssen. Ihre
Tätigkeit sei, auch wenn zivilrechtlich die Darlehensverträge damit
nicht als zustandegekommen betrachtet werden könnten, dem strafrechtlich
relevanten Erfolg zuzurechnen. Dieser sei zumindest sowohl in Zürich
als auch in Vaduz eingetreten.

    Demgegenüber wendet der Gesuchsteller ein, die Staatsanwaltschaft
gehe von einem unrichtigen Begriff des Erfolges im Sinne des Art. 346
Abs. 1 StGB aus. Sie übersehe, dass in der Tatbestandsumschreibung des
Art. 157 StGB nichts davon stehe, dass der Bewucherte dem Wucherer etwas
gewähre oder verspreche; vielmehr gehöre zum Wesen des Wucherdeliktes,
dass der Täter sich etwas gewähren oder versprechen lasse, er somit die
Offerte des Opfers annehme.

    Des Wuchers macht sich gemäss Art. 157 StGB schuldig, wer die
Notlage, die Abhängigkeit, die Geistesschwäche, die Unerfahrenheit, die
Charakterschwäche oder den Leichtsinn einer Person ausbeutet, um sich
oder einem andern für eine Vermögensleistung Vermögensvorteile gewähren
oder versprechen zu lassen, die mit der Leistung in einem offenbaren
Missverhältnis stehen. Danach genügt, dass die Ausbeutung zum Mittel
gemacht werde, um einen auf Austausch von Vermögensleistungen gerichteten
Vertrag, in welchem Leistung und Gegenleistung in einem offenbaren
Missverhältnis stehen, zustande zu bringen (BGE 80 IV 18). Vollendet
ist das Verbrechen mit dem Abschluss des wucherischen Geschäftes. Vorher
kann, was auch der Gesuchsteller anerkennt, Versuch gegeben sein, indem
sich beispielsweise die Verhandlungen über den abzuschliessenden Vertrag
zerschlagen, weil sich der Auszubeutende noch rechtzeitig eines Besseren
besinnt (THORMANN/v. OVERBECK, Kommentar, N. 11 und LOGOZ, Kommentar, N. 5
zu Art. 157). In jedem Falle wird der Tatbestand entscheidend durch das
Merkmal der Ausbeutung geprägt, die notwendigerweise ein Opfer voraussetzt,
von dem sich der Täter die wucherischen Vermögensvorteile gewähren oder
versprechen lässt. Durch diese Ausbeutung wird der Bewucherte nicht bloss
im Sinne einer "Fernwirkung", sondern unmittelbar betroffen, unbekümmert
darum, ob er mit dem Geschädigten identisch sei oder nicht (vgl. BGE 80
IV 18). Entsprechend tritt denn auch der verbrecherische Erfolg mindestens
teilweise schon dort ein, wo der Bewucherte auf Veranlassung des Wucherers
tätig wird, von wo aus er die von diesem ausbedungenen Vermögensleistungen
gewährt oder verspricht (anderer Auffassung, HAFTER, Lehrbuch, Bes. Teil
I S. 303 und LOGOZ, Kommentar, N. 5 zu Art. 157; vgl. ferner für die
unerlaubte Handlung auf dem Gebiete des Zivilrechtes BGE 76 II 111). Dass
im vorliegenden Fall die wucherischen Darlehensverträge zivilrechtlich
erst mit der Entgegennahme der Willenserklärung der Bewucherten durch
den Gesuchsteller zustandekamen, steht der Bestimmung des Gerichtsstandes
nach Art. 346 Abs. 1 Satz 2 StGB nicht entgegen. Voraussetzung für die
Anwendung dieser Vorschrift ist lediglich, dass die Strafverfolgung einer
Tat in Frage steht, die - auch als Distanzdelikt - gemäss Art. 7 StGB
im Inland verübt wurde. Das ist bei den dem Gesuchsteller vorgeworfenen
strafbaren Handlungen, deren Erfolg, wie ausgeführt, nach der Aktenlage
zumindest teilweise in der Schweiz eingetreten ist, der Fall.

Erwägung 3

    3.- Für die Anwendung von Art. 348 StGB bleibt daher kein Raum. Diese
Bestimmung gilt bloss subsidiär, nämlich dann, wenn der Tatort sich im
Ausland befindet oder nicht ermittelt werden kann. Der Gerichtsstand
des in der Schweiz gelegenen Erfolgsortes geht somit wie derjenige des
Ausführungsortes den Gerichtsständen aus Art. 348 StGB vor (vgl. BGE 68
IV 54, 73 IV 59).

Entscheid:

Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird abgewiesen.