Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 61



86 IV 61

17. Entscheid der Anklagekammer vom 10. März 1960 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Basel-Stadt gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
Regeste

    Art. 263 BStP; Abweichung vom Gerichtsstand des Art. 350 bzw. des
Art. 346 StGB.

    1.  Voraussetzung ist das Vorliegen triftiger Gründe, die den
Gerichtsstand des Art. 350 bzw. des Art. 346 StGB als offensichtlich
unzweckmässig erscheinen lassen.

    2.  Trifft diese Voraussetzung zu, wenn von zahlreichen gleichartigen
Deliktshandlungen, die verschuldensmässig ungefähr gleich schwer wiegen,
gut die Hälfte in einem anderen, als dem nach Art. 350 bzw. Art. 346 StGB
zuständigen Kanton ausgeführt werden?

Sachverhalt

    A.- Karl Fischbach wird in den Kantonen Aargau, Basel-Stadt und
-Landschaft, Luzern und Zürich wegen gewerbsmässigen Betruges, ferner
im Kanton Luzern wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung und im
Kanton Basel-Stadt wegen eines Betrugsversuches und einer Veruntreuung
verfolgt. Von den 23 Tatbeständen, die im Kollektivdelikt des Art. 148 Abs.
2 StGB zusammengefasst werden, entfallen auf den Kanton Aargau fünf,
auf Basel-Stadt dreizehn und auf die Kantone Zürich und Luzern je zwei;
einer entfällt auf den Kanton Basel-Landschaft.

    Die erste Strafanzeige gegen Fischbach wurde am 13. Oktober 1959
wegen einer in Aarau ausgeführten Betrugshandlung bei der aargauischen
Kantonspolizei eingereicht. Seit dem 30. Januar 1960 befindet sich der
Beschuldigte in Basel in Untersuchungshaft.

    B.- Am 19. Februar 1960 ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons
Basel-Stadt den öffentlichen Ankläger des Kantons Aargau um Übernahme
der Strafverfolgung gegen Fischbach, weil gemäss Art. 350 Ziff. 1 StGB
die Behörden dieses Kantons zuständig seien und kein Grund vorliege,
gestützt auf Art. 263 BStP vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen. Die
aargauische Staatsanwaltschaft lehnte die Übernahme der Strafverfolgung ab.

    C.- Mit Gesuch vom 26. Februar 1960 beantragt die Staatsanwaltschaft
des Kantons Basel-Stadt der Anklagekammer des Bundesgerichtes, die
Behörden des Kantons Aargau seien berechtigt und verpflichtet zu erklären,
Fischbach für die ihm zur Last gelegten Handlungen zu verfolgen und zu
beurteilen. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass die Untersuchung
wegen der mit der schwersten Strafe bedrohten Tat zuerst im Kanton Aargau
angehoben worden sei.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau hält die Behörden von
Basel-Stadt für zuständig, weil das Schwergewicht der strafbaren Tätigkeit
eindeutig in diesem Kanton liege.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Von den strafbaren Handlungen, die Fischbach vorgeworfen werden,
ist der gewerbsmässige Betrug mit der schwersten Strafe bedroht. Der zur
Verfolgung und Beurteilung dieses Verbrechens zuständige Kanton hat daher
gemäss Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB auch die Gerichtsbarkeit zur Verfolgung
und Beurteilung der anderen strafbaren Handlungen Fischbachs zu übernehmen.

Erwägung 2

    2.- Der gewerbsmässige Betrug, der ein einziges, einheitliches
Verbrechen darstellt (BGE 71 IV 85 und zahlreiche seitherige
Entscheidungen), ist nach der Regel des Art. 346 Abs. 2 StGB, wenn er
- wie hier - in mehreren Kantonen ausgeführt wird, dort zu verfolgen,
wo die Untersuchung zuerst angehoben worden ist (nichtveröffentlichte
Entscheidungen der Anklagekammer vom 31. Oktober 1946 i.S. Rüttimann,
vom 25. März 1959 i.S. Bern gegen Basel-Landschaft und vom 8. März 1960
i.S. Basel-Stadt gegen Zürich).

    Dieser Ort liegt im vorliegenden Falle im Kanton Aargau. Angehoben im
Sinne von Art. 346 Abs. 2 StGB (Art. 349 Abs. 2, Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2
StGB) ist eine Untersuchung schon mit dem Eingang einer Strafanzeige
bei der zuständigen Behörde, insbesondere bei der gerichtlichen Polizei
(BGE 68 IV 6, 53; 71 IV 59; 72 IV 95). Im Kanton Aargau ist Fischbach
wegen in Aarau ausgeführter Betrugshandlungen am 13. Oktober 1959 bei der
Kantonspolizei verzeigt worden, während in den anderen Kantonen Anzeigen
gegen Fischbach erst später eingereicht wurden.

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 263 BStP (Art. 399 lit. e StGB) kann die Anklagekammer
allerdings einen anderen Gerichtsstand bestimmen. Von dieser Möglichkeit
ist jedoch nach feststehender Rechtsprechung zurückhaltend Gebrauch
zu machen. Die Überlegungen, die den gesetzlichen Gerichtsstand als
unzweckmässig erscheinen lassen, müssen sich gebieterisch aufdrängen
(BGE 68 IV 6 Erw. 5; 76 IV 207/8; 85 IV 206 Erw. 2). Im vorliegenden
Falle trifft das nicht zu.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau hält eine Überweisung an
die Behörden des Kantons Basel-Stadt für angezeigt, weil auf diesen
Kanton weit mehr Tatbestände entfallen als auf den Kanton Aargau. Ob
das Verfahren im Kanton Basel-Stadt oder im Kanton Aargau durchgeführt
wird, ändert jedoch nichts daran, dass zahlreiche auswärtige Fälle, die
sich auf vier Kantone verteilen, einbezogen werden müssen. Freilich ist
die Zahl der Fälle, die von anderen Kantonen übernommen werden müssen,
erheblich grösser, wenn das Verfahren im Kanton Aargau durchgeführt
wird, als wenn es an die baselstädtischen Behörden überwiesen würde. Das
mag die Durchführung des Verfahrens erschweren, dürfte für sich allein
jedoch keineswegs zu derartigen prozessualen Schwierigkeiten führen,
dass sich deswegen ein Abweichen von der Ordnung des Art. 350 aufdrängen
würde. Wäre, wie es die Gesuchsgegnerin annimmt, der Gerichtsstand vor
allem so zu bestimmen, dass möglichst wenig auswärtige Fälle übernommen
werden müssten, so würde dadurch der Anwendungsbereich des Art. 350 StGB
erheblich eingeschränkt. Das widerspräche dem Sinn und Zweck des Art. 263
BStP, durch dessen Erlass die Möglichkeit des Abweichens vom gesetzlichen
Gerichtsstand lediglich für ausserordentliche Fälle eingeräumt werden
wollte (vgl. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf
eines BG über die Bundesstrafrechtspflege vom 10. September 1929, BBl 1929
II S. 634 f.; StenBull NatR 1932 S. 3, Votum des franz. Berichterstatters
Rais). Die Annahme eines solchen kann nach der Rechtsprechung der
Anklagekammer u.a. in Betracht fallen, wenn in einem anderen, als dem
nach Art. 350 StGB zuständigen Kanton, ein ausgesprochenes Schwergewicht
der deliktischen Tätigkeit liegt (vgl. BGE 69 IV 40 Erw. 4; 72 IV 96;
73 IV 143 Erw. 3). Dass von zahlreichen gleichartigen Deliktshandlungen,
die auch verschuldensmässig ungefähr gleich schwer wiegen, gut die Hälfte
im gleichen Kanton ausgeführt wird, vermag für sich allein die Annahme
eines solchen Schwergewichtes jedoch nicht ohne weiteres zu rechtfertigen,
jedenfalls dann nicht, wenn - wie hier - auf den nach Art. 350 StGB
zuständigen Kanton ein verhältnismässig grosser Teil der restlichen
Fälle entfällt und der Angeschuldigte sich in vier Kantonen, teils sogar
wiederholt, vergangen hat, bevor er seine deliktische Tätigkeit in jenes
Kantonsgebiet verlegte, in das schliesslich die zahlenmässige Mehrheit
der ihm zur Last gelegten Verfehlungen fällt.

    Im vorliegenden Falle wäre es übrigens selbst dann, wenn im Kanton
Basel-Stadt offensichtlich das Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit
läge, unzweckmässig, vom gesetzlichen Gerichtsstand (Aargau) abzuweichen
und die Basler Behörden mit der weiteren Verfolgung des Fischbach zu
betrauen. Da Fischbach im Kanton Aargau heimatberechtigt ist, dort auch
ansässig war und in diesem Kanton überdies schon weit über zwanzig
Strafverfahren gegen ihn durchgeführt wurden, bereitet die möglichst
umfassende Abklärung seiner persönlichen Verhältnisse, der insbesondere
auch im Hinblick auf die allfällige Anwendung des Art. 42 StGB besondere
Bedeutung zukommt, offensichtlich am wenigsten Schwierigkeiten, wenn das
Verfahren durch die aargauischen Behörden durchgeführt wird.

Entscheid:

Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Die Behörden des Kantons Aargau werden berechtigt und verpflichtet
erklärt, Karl Fischbach für alle ihm zur Last gelegten strafbaren
Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.