Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 29



86 IV 29

10. Urteil des Kassatlonshofes vom 22. Januar 1960 i.S. Polizeirichteramt
der Stadt Zürich gegen Schwager. Regeste

    Art. 1 Abs. 1 MFG. Unter welchen Voraussetzungen untersteht das Areal
eines Güterbahnhofes den Regeln des MFG?

Sachverhalt

    A.- Am 31. Dezember 1958 fuhr Schwager mit einem Lastwagen über das
Areal des Güterbahnhofes Zürich. Als er sein Fahrzeug wendete, um rückwärts
gegen die Güterhalle zu fahren und dort Waren zum Transport abzuliefern,
stiess er mit dem Rollerfahrer Wiesmann zusammen.

    Das Areal des Güterbahnhofes ist teils durch einen Zaun, teils durch
die an der Hohlstrasse liegenden Gebäude eingeschlossen. Die Zufahrt wird
durch zwei an jedem Ende des Areals liegende Tore ermöglicht, an denen
Tafeln mit der Aufschrift: "Bahnpolizeilich Durchgangsverkehr verboten"
angebracht sind.

    B.- Der Polizeirichter der Stadt Zürich büsste Schwager am 12. März
1959 wegen Übertretung von Art. 48 Abs. 3 MFV mit Fr. 25.-.

    Schwager verlangte gerichtliche Beurteilung.

    Der Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich sprach mit Urteil vom 9.
Oktober 1959 Schwager von der ihm zur Last gelegten Übertretung frei
mit der Begründung, das Areal des Güterbahnhofes Zürich sei keine "dem
Motorfahrzeug oder dem Fahrrad geöffnete Strasse" im Sinne von Art. 1
Abs. 1 zweiter Halbsatz MFG. Die Verkehrsvorschriften des MFG seien daher
auf diesem Areal nicht anwendbar, weshalb Schwager nicht wegen Verletzung
von Art. 48 MFV bestraft werden könne.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt der Polizeirichter der Stadt Zürich
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil sei aufzuheben und die
Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Schwager beantragt unter Hinweis auf die Erwägungen des angefochtenen
Urteils, die Beschwerde sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das MFG regelt nach Art. 1 Abs. 1 die Verwendung von
Motorfahrzeugen und Fahrrädern im öffentlichen Verkehr (vgl. die Art. 5
bis 16 MFG und 7 bis 36 MFV), und es stellt Verkehrsvorschriften auf
für die Benützer der dem Motorfahrzeug oder dem Fahrrad geöffneten
Strassen (Art. 17 bis 36 MFG und 37 bis 76 MFV). Die beiden Ausdrücke
"im öffentlichen Verkehr" ("sur la voie publique") und "dem Motorfahrzeug
oder dem Fahrrad geöffnete Strassen" ("routes ouvertes aux véhicules
automobiles ou aux cycles") besagen das gleiche: Die Bestimmungen des MFG
gelten nur für den Verkehr auf öffentlichen Strassen. Das Verhalten des
Beschwerdegegners ist daher nach dem MFG (bzw. der MFV) zu beurteilen,
wenn das Areal des Güterbahnhofes Zürich als öffentliche Strasse im Sinne
von Art. 1 Abs. 1 MFG zu betrachten ist.

Erwägung 2

    2.- Rechtsprechung und Literatur stimmen darin überein, dass
der Begriff der öffentlichen Strasse im Sinne des MFG weit ausgelegt
werden muss, wenn die Sicherheitsvorschriften des Gesetzes ihren Zweck
erfüllen sollen (BGE 63 II 212 lit. a; STREBEL, Note 15 zu Art. 1
MFG). Auch Plätze, Brücken, Unterführungen usw. sind daher als Strassen
anzuerkennen. Gleichgültig ist ferner, ob die Strasse in öffentlichem
oder privatem Eigentum steht. Entscheidend ist die Art und Weise ihres
Gebrauches: Dem MFG unterstehen alle Strassen, die tatsächlich der
Allgemeinheit zum Verkehr mit Motorfahrzeugen oder Fahrrädern geöffnet
sind. Den öffentlichen Charakter verliert eine Strasse selbst dann nicht,
wenn sie nur unter gewissen Einschränkungen (z.B. nur als Fahrradweg) oder
nur für bestimmte Zwecke (Kirch- oder Schulweg), zu diesem beschränkten
Gebrauche aber von jedermann benützt werden darf. In allen diesen Fällen
ist der Kreis der Benützer unbestimmbar und damit das Schutzbedürfnis
der Öffentlichkeit gegeben.

    Von diesem weitgefassten Begriff der öffentlichen Strasse
abzugehen, rechtfertigt sich umso weniger, als er auch dem neuen
Strassenverkehrsgesetz zu Grunde gelegt worden ist. So führte der
Bundesrat in seiner Botschaft zum Gesetzesentwurfe aus, öffentlich sei
eine Strasse, die von jedermann benützt werden könne, selbst wenn sie
nicht allen Verkehrsarten offen stehe; auch der Fahrradweg sei öffentlich,
sofern jeder beliebige Radfahrer ihn benützen dürfe (Bundesblatt 1955
II S. 8/9). Und bei den Gesetzesberatungen im Nationalrat erklärte
der deutsche Berichterstatter, entscheidend für den öffentlichen
Charakter einer Strasse sei die Tatsache des allgemeinen Gebrauches,
"die faktische Benützungsmöglichkeit durch jedermann unter für alle
gültigen Voraussetzungen". Im Interesse des Publikums dürfe Art. 1 Abs.
1 StrV nicht einschränkend interpretiert werden. Im gleichen Sinne äusserte
sich der französische Berichterstatter (StenBull NatR 1956 S. 322).

    Entsprechend legen auch die deutsche Lehre und Rechtsprechung den
Begriff des "öffentlichen Weges" aus. Sie erklären das StVG anwendbar
auf jede Strasse, die "von einem nicht durch persönliche Beziehungen
untereinander zusammenhängenden Personenkreis... ohne weiteres oder auch
nach Erfüllung gewisser Bedingungen (Gebühr), wenn auch nur beschränkt,
benützt wird" (vgl. MÜLLER, Strassenverkehrsrecht, 21. Aufl., S. 138).

Erwägung 3

    3.- Aus diesen Überlegungen folgt, dass das Areal des Güterbahnhofes
Zürich unter den Begriff der öffentlichen Strassen im Sinne des MFG fällt.
Zwar ist es eingezäunt, der Durchgangsverkehr ist verboten, und der
Zutritt ist allen Fahrzeugen verwehrt, die nicht Waren abzuholen oder
zum Transport aufzugeben haben. Zu diesem beschränkten Zwecke aber darf
jeder Kunde der SBB - also ein unbestimmmbarer Personenkreis - das Areal
des Güterbahnhofes benützen. Das genügt, um aus dieser Verkehrsfläche
eine öffentliche Strasse im Sinne des MFG zu machen. Ob nach den gleichen
Grundsätzen die Vorschriften des MFG auch Anwendung zu finden haben auf
private Parkplätze von Gaststätten, auf Fabrikareale und dergl., braucht
hier nicht entschieden zu werden.

    Hat sich die Kollision, an der Schwager beteiligt ist, auf einer
öffentlichen Strasse ereignet, so hat es die Vorinstanz zu Unrecht
abgelehnt, sein Verhalten nach den Bestimmungen des MFG zu überprüfen. Das
Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirks Zürich vom 9. Oktober 1959 wird
aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen an
die Vorinstanz zurückgewiesen.