Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 212



86 IV 212

55. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. September 1960
i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    1.  Art. 191 StGB. Darunter fällt auch Unzucht mit einer ehemündigen
Italienerin, die das 16. Altersjahr noch nicht erreicht hat (Erw. 2);

    2.  Art. 32, 20 StGB. Zureichende Gründe zur Annahme, der
voreheliche Verkehr mit einer ehemündigen Italienerin unter 16 Jahren
sei erlaubt? (Erw. 3 und 4);

    3.  Art. 41 Ziff. 5 StGB. Unzulässige Verweigerung des bedingten
Aufschubes der Landesverweisung (Erw. 6).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer bestreitet mit Recht nicht, dass er als
Ausländer für die in der Schweiz begangenen Straftaten gemäss Art. 3
Ziff. 1 Abs. 1 StGB den Bestimmungen des schweizerischen Strafgesetzbuches
unterworfen ist. Er macht dagegen geltend, das 15 1/2-jährige Mädchen,
mit dem er geschlechtlich verkehrte, sei als Italienerin heiratsmündig
und daher kein Kind mehr gewesen, wie Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
voraussetze, und infolgedessen habe er es auch nicht im Sinne dieser
Bestimmung missbraucht.

    Es trifft zu, dass die Frage der Ehefähigkeit des Mädchens auf Grund
des Haager Eheschliessungsabkommens vom 12. Juni 1902 sich nach dem Gesetz
des Heimatstaates beurteilt und Art. 84 des italienischen Codice civile
die Frau, die das 14. Altersjahr erfüllt hat, ehemündig erklärt (BGE 75 I
84). Was unter Kind im Sinne von Art. 191 StGB zu verstehen ist, bestimmt
jedoch ausschliesslich das schweizerische Strafgesetzbuch. Geschützt
ist nach dem Wortlaut und Zweck dieser Bestimmung jeder Knabe und jedes
Mädchen unter sechzehn Jahren. Das Gesetz will die geschlechtliche
Integrität dieser Personen nicht bloss für den Fall wahren, dass sie
noch körperlich unreif sind, sondern auch dann, wenn sie physiologisch
bereits geschlechtsreif geworden sind, und dies aus der Erkenntnis,
dass Jugendliche unter 16 Jahren geistig und sittlich noch nicht genügend
entwickelt sind, um den ihnen bei frühzeitiger geschlechtlicher Betätigung
drohenden Schädigungen körperlicher und psychischer Art gewachsen zu
sein. Art. 191 stellt somit weder auf den Eintritt der Geschlechtsreife
oder Ehefähigkeit, noch sonstwie auf den körperlichen oder sittlichen
Zustand oder auf den Charakter des Opfers ab (vgl. BGE 72 IV 67, 73 IV 157,
78 IV 81, 82 IV 156); entscheidend für die Zuerkennung des strafrechtlichen
Schutzes ist einzig die Altersgrenze von 16 Jahren.

    Wie der Kassationshof bereits entschieden hat, bedeutet schon
der Beischlaf und die beischlafsähnliche Handlung mit einem Partner,
der das 16. Altersjahr noch nicht überschritten hat, in allen Fällen
Missbrauch des Kindes (BGE 72 IV 67). Hätte der Ausdruck "missbrauchen"
den vom Beschwerdeführer vertretenen Sinn, dass die fehlende körperliche
oder sittliche Unreife des Kindes die Strafbarkeit des Täters ausschliesse,
so müsste in jedem Einzelfall über den Reifegrad des Kindes Beweis geführt
werden, was nicht nur unerwünscht und schwierig wäre, sondern auch den vom
Gesetzgeber gewollten absoluten Kinderschutz wiederum in Frage stellen
würde. Es wäre auch nicht einzusehen, weshalb die Strafbarkeit bei den
Beischlafshandlungen (Art. 191 Ziff. 1) hätte eingeschränkt werden sollen,
bei den andern unzüchtigen Handlungen (Ziff. 2) dagegen nicht. Dass eine
solche unterschiedliche Behandlung des Täters nicht beabsichtigt war,
ergibt sich sodann schlüssig aus dem französischen und italienischen Text,
wo nur vom Vollzug des Beischlafes und beischlafsähnlicher Handlungen
und nicht von Missbrauch des Kindes die Rede ist.

    Der Umstand, dass der Beschwerdeführer das Mädchen nach Heimatrecht
hätte heiraten können, nützt ihm daher nichts. Weder die Ehemündigkeit des
Mädchens noch die Absicht des Beschwerdeführers, es später zu heiraten,
vermögen an der Tatsache etwas zu ändern, dass das 15 1/2jährige Mädchen
noch ein Kind gemäss Art. 191 StGB war und dass es der Beschwerdeführer
durch den Vollzug des Geschlechtsverkehrs im Sinne von Ziff. 1 Abs. 1
dieser Bestimmung zur Unzucht missbraucht hat. Art. 191 wäre nur dann
nicht anwendbar, wenn er das Mädchen vor Aufnahme der geschlechtlichen
Beziehungen geheiratet hätte, da es in diesem Falle am Merkmal der Unzucht
fehlte, die unter Ehegatten ausgeschlossen ist.

Erwägung 3

    3.- Art. 32 StGB, auf den sich der Beschwerdeführer beruft, ist
nicht anwendbar. Der Geschlechtsverkehr mit einem noch nicht 16-jährigen
Mädchen wird weder durch Gesetz noch durch eine Berufs- oder Amtspflicht
geboten. Der Beschwerdeführer war nur berechtigt, mit dem Mädchen die
Ehe einzugehen; einen Rechtssatz, der den vorehelichen Verkehr mit einem
noch nicht 16 Jahre alten Kinde erlaubt oder straflos erklärt, vermag er
selber nicht zu nennen.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer wusste, dass die Tochter noch nicht 16
Jahre alt war, als er mit ihr geschlechtlich zu verkehren begann, und
es war ihm auch bekannt, dass in der Schweiz der Geschlechtsverkehr
mit Mädchen, die im schutzwürdigen Alter stehen, verboten und strafbar
ist. Wenn er trotzdem angenommen hat, er sei zur Tat berechtigt, so fehlten
ihm hiefür zureichende Gründe im Sinne von Art. 20 StGB. Seine Annahme
stützte sich einzig auf die Überlegung, dass der voreheliche Verkehr mit
einer ehemündigen Italienerin nach italienischem Recht nicht strafbar
sei. Er hat aber selber nie behauptet, geglaubt zu haben, dass er für sein
Verhalten in der Schweiz dem italienischen und nicht dem schweizerischen
Strafrecht unterstehe, und dafür, dass das schweizerische Strafrecht den
Geschlechtsverkehr mit einer 15-jährigen Italienerin, die der Partner zu
heiraten beabsichtigt, ausnahmsweise straflos lasse, hatte er keinerlei
Anhaltspunkte. Vielmehr musste er mit der Möglichkeit, dass die Tat auch
unter diesen Voraussetzungen unerlaubt sei, ernsthaft rechnen, nachdem die
Mutter des Mädchens, die ja seine Heiratsabsichten kannte, ihn schon im
Jahre 1957 und dann wieder unmittelbar vor dem ersten Geschlechtsverkehr
mit der Tochter ausdrücklich auf die Strafbarkeit seines Vorhabens
aufmerksam gemacht hatte. Nach dieser unmissverständlichen Warnung
hätte er bei gehöriger Gewissenhaftigkeit, die auch von einem Südländer
einfacher Herkunft zu erwarten ist, zum mindesten Zweifel haben müssen,
ob er zum Geschlechtsverkehr berechtigt sei, und diese hätten ihn von
der Tat abhalten müssen (vgl. BGE 85 IV 76). Hat er aber den Rechtsirrtum
selber verschuldet, so kann er sich nicht auf Art. 20 StGB berufen.

Erwägung 6

    6.- Der Richter kann beim Zusammentreffen mehrerer Strafen den
bedingten Vollzug auf einzelne derselben beschränken (Art. 41 Ziff. 5
StGB) und dementsprechend z.B. den Vollzug der Hauptstrafe bedingt
aufschieben, die Nebenstrafe aber unbedingt aussprechen, namentlich dann,
wenn die Prognose auf dem Gebiete, in das die Nebenstrafe eingreift,
eine ungünstige, diejenige für die übrige Lebensführung des Verurteilten
aber eine günstige ist (BGE 77 IV 145).

    Die Vorinstanz verweigerte den bedingten Vollzug der Landesverweisung
mit der Begründung, der Beschwerdeführer habe sich durch sein Verhalten des
schweizerischen Gastrechtes unwürdig erwiesen und durch seine Verfehlung
gezeigt, dass er nicht gewillt sei, sich schweizerischen Verhältnissen
anzupassen und sich dem Recht des Gastlandes zu unterwerfen. Auf den ersten
Teil dieser Begründung lässt sich jedoch die Verweigerung des bedingten
Vollzuges der Nebenstrafe nicht stützen (vgl. BGE 68 IV 78 Erw. 5), denn
der Beschwerdeführer ist für sein strafbares Verhalten zu Gefängnis und
für seine an den Tag gelegte Unwürdigkeit des schweizerischen Gastrechtes
zu Landesverweisung verurteilt worden. Die Gewährung des bedingten
Vollzuges hängt vielmehr einzig von den Besserungsaussichten ab und
könnte nach Art. 41 Ziff. 1 StGB nur versagt werden, wenn Vorleben und
Charakter des Beschwerdeführers oder die besonderen Tatumstände nicht
erwarten liessen, dass er durch den bedingten Aufschub der Nebenstrafe
von weiteren Delikten abgehalten werde. Gerade die Frage, ob sich der
Beschwerdeführer künftig wohlverhalten werde, hat aber die Vorinstanz
im Zusammenhang mit dem Entscheid über die Gewährung des bedingten
Vollzuges der Hauptstrafe günstig beurteilt, indem sie erklärte, dass
im Hinblick auf das Vorleben des Angeklagten und die gesamten Umstände
des Falles schon die Ausfällung einer bedingt aufgeschobenen Strafe
eine Bewährung erwarten lasse. Diese Beurteilung ist unangefochten
geblieben. Ist aber von einer günstigen Voraussage auszugehen, so hält
auch der zweite Teil der vorinstanzlichen Begründung nicht stand, da das
erwartete Wohlverhalten geradezu voraussetzt, dass der Beschwerdeführer
sich den schweizerischen Gesetzen anpasst und sich ihnen unterwirft. Der
bedingte Aufschub der Landesverweisung, der die an den bedingten Vollzug
der Hauptstrafe geknüpften Erwartungen nur begünstigen kann, ist daher
bei dieser Sachlage zu gewähren.