Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 187



86 IV 187

47. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 14. Oktober 1960
i.S. Buess gegen Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 27 Abs. 1 MFG. Im Innerortsverkehr kann an der Einmündung eines
Fabrikweges in eine Durchgangsstrasse das Vortrittsrecht den Benützern
des Fabrikweges zustehen.

Sachverhalt

    A.- Buess führte am Abend des 30. Oktober 1959 einen Personenwagen
von Laufen auf der Durchgangsstrasse Delsberg-Basel Richtung Dornach. Als
er kurz nach 20 Uhr mit höchstens 60 km/Std. auf der über zehn Meter
breiten, auf der rechten Seite mit einem Trottoir versehenen Strasse
durch die Ortschaft Zwingen fuhr, nahm er auf eine Entfernung von 60
bis 70 m einen Rollerfahrer wahr, der im Begriffe stand, von rechts
aus einem fünf Meter breiten, im Bereiche der Einmündung erheblich
ausgeweiteten und asphaltierten Fabrikweg in die Hauptstrasse Richtung
Laufen einzuschwenken. Buess verminderte seine Geschwindigkeit erst,
als er sich in seiner Annahme, der Vespafahrer werde vor dem Einbiegen in
die Baselstrasse anhalten, getäuscht sah. Die beiden Fahrzeuge stiessen
im Einmündungsgebiet so heftig zusammen, dass der Rollerfahrer den beim
Unfall erlittenen Verletzungen erlag.

    B.- Das Amtsgericht von Laufen sprach Buess von der Anschuldigung
der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Störung des öffentlichen
Verkehrs mangels Verschuldens frei.

    Das Obergericht des Kantons Bern erklärte ihn dagegen am 31. März
1960 wegen Verletzung des Vortrittsrechtes (Art. 27 Abs. 1 MFG) in
beiden Anklagepunkten schuldig und verurteilte ihn zu 30 Tagen Gefängnis,
bedingt vollziehbar.

    C.- Buess bestreitet mit der Nichtigkeitsbeschwerde, dass dem
Rollerfahrer das Vortrittsrecht zugestanden sei. Er beantragt, die Sache
sei demzufolge zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach ständiger Rechtsprechung gelten Stellen, wo Feld- und andere
Zufahrtswege, die für den Motorfahrzeugverkehr praktisch ohne Bedeutung
sind, mit öffentlichen Strassen zusammentreffen, nicht als Kreuzung
oder Einmündung im Sinne von Art. 27 Abs. 1 MFG. Der Kassationshof hat
diese Ordnung im Urteil vom 21. März 1958 i.S. Kunz auch auf den Fall
anwendbar erklärt, in dem eine grosse Durchgangsstrasse innerorts mit
einem Strässchen oder Gässchen zusammentrifft, das offensichtlich nicht
für den Durchgangsverkehr bestimmt und im Verhältnis zur Hauptverkehrsader
praktisch ohne Verkehrsbedeutung ist (BGE 84 IV 34).

Erwägung 2

    2.- Der in Frage stehende Fabrikweg ist nicht für den Durchgangsverkehr
bestimmt, sondern er dient vor allem als Zu- und Wegfahrt für einen Teil
der Belegschaft der Papierfabrik Zwingen und zu einem bescheidenen Teil
dem Werkverkehr dieses Unternehmens. Insofern ist die Verkehrsbedeutung
des Weges eine beschränkte und im Verhältnis zu derjenigen der viel
befahrenen Hauptstrasse, in die er einmündet, wesentlich geringer. Nach
den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz wird der Fabrikweg
neben dem unbedeutenden Anstösser- und Werkverkehr aber immerhin täglich
sieben Mal, bei Arbeitsbeginn, bei den Schichtwechseln und namentlich bei
Arbeitsschluss von einer Anzahl zu- und wegfahrender Arbeiter benützt;
so wickelte sich z.B. am 28. März 1960 beim Schichtwechsel um 20 Uhr
der Verkehr von fünf Motorrädern, zwei Autos und sechs Radfahrern
ab. Bei diesem regelmässig zu gewissen Stunden dichter werdenden
Motorfahrzeugverkehr kann im Gegensatz zu dem in BGE 84 IV 34 beurteilten
Falle von einem praktisch bedeutungslosen Verkehrsweg nicht die Rede
sein. Daran ändert nichts, dass der Fabrikweg an der Stelle, wo die
eigentliche Einfahrt in das Fabrikareal beginnt, d.h. ca. 40 m von der
Hauptstrasse entfernt, zeitweise durch ein Eisenportal geschlossen wird
und dass noch andere Zufahrtswege zur Fabrik offen stehen. Ebensowenig
wird die Verkehrsbedeutung des Fabrikweges dadurch gemindert, dass der
grössere Teil des Weges beschottert ist und in Privateigentum steht und
nur das an die Hauptstrasse angrenzende Teilstück der Gemeinde Zwingen
gehört und teilweise einen Asphaltbelag hat. Für die Frage, ob eine
Einmündung oder Kreuzung im Sinne des Art. 27 Abs. 1 MFG vorliege, ist
übrigens nicht der Rechtscharakter, sondern die Verkehrsbedeutung des
einmündenden Weges entscheidend. Das Ausmass des Motorfahrzeugverkehrs
hängt nicht notwendig vom öffentlichen Charakter eines Weges ab (BGE 84
IV 34), und ebenso kann die Verkehrsdichte auf einem Privatweg grösser
sein als auf einem Weg, der im öffentlichen Eigentum steht.

    Der Fabrikweg, der an der Einmündung auch nach seiner Anlage und
Grössenordnung nicht als unbedeutender Verkehrsweg in Erscheinung tritt,
ist daher an der Stelle des Zusammentreffens mit der Durchgangsstrasse
objektiv eine Kreuzung im Sinne von Art. 27 Abs. 1 MFG.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer hätte die Einmündung des Fabrikweges
als Stelle, an der er einem dort Einbiegenden den Vortritt zu lassen
verpflichtet war, auch erkennen können. Der Weg ist im Einmündungsgebiet
asphaltiert und verbreitert, und seine Verkehrsbedeutung wird noch dadurch
unterstrichen, dass das rechtsseitige Trottoir der Baselstrasse im Bereiche
der Einmündung auf einer Länge von 30 m unterbrochen ist. Angesichts
dieser äussern Merkmale konnte und durfte auch das einreihige Band von
Pflastersteinen, das auf der Grenze zwischen Hauptstrasse und Fabrikweg
in den Boden eingelassen ist, einen gewissenhaften Motorfahrzeugführer
nicht zur Annahme verleiten, es mit einer bedeutungslosen Einmündung zu
tun zu haben. Die vorliegenden Verhältnisse können mit der völlig anders
gestalteten Ausfahrt, die im Falle BGE 84 IV 34 zu beurteilen war, nicht
verglichen werden. Der Beschwerdeführer hat daher den Irrtum, dass dem
Rollerfahrer, den er frühzeitig gesehen hat, das Vortrittsrecht nicht
zustehe, seiner pflichtwidrigen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben.

Erwägung 4

    4.- .....

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.