Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 175



86 IV 175

43. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. August 1960
i.S. Winiger gegen Hofmann. Regeste

    Art. 173 Ziff. 2 StGB. An den Beweis des guten Glaubens sind geringere
Anforderungen zu stellen, wenn die ehrverletzende Äusserung im Prozess
zur Wahrung berechtigter Interessen getan worden ist.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die nach Art. 173 Ziff. 2 StGB an den Beweis des guten Glaubens zu
stellenden Anforderungen richten sich nach den Umständen des einzelnen
Falles und sind deshalb nicht immer die gleichen. An die Sorgfalt,
die der Täter anzuwenden hat, um eine rufschädigende Beschuldigung oder
Verdächtigung in guten Treuen für wahr halten zu dürfen, ist ein weniger
strenger Massstab anzulegen, wenn er mit der Äusserung berechtigte
Interessen verfolgte. Der Richter darf und muss daher namentlich der
besonderen Lage Rechnung tragen, in der sich die Prozesspartei befindet,
die sich vor die Wahl gestellt sehen kann, entweder auf die Wahrnehmung
ihrer Interessen zu verzichten oder eine ehrverletzende Äusserung zu tun,
die sich möglicherweise als unzutreffend erweisen wird (BGE 85 IV 186/7);
er wird den Gründen, die geeignet waren, die Überzeugung des Beschuldigten
von der Richtigkeit seiner Vorbringen zu rechtfertigen oder ihn von
der sonst zu fordernden Überprüfung seiner Behauptungen abzuhalten,
mit Rücksicht auf die Besonderheiten des Rechtsstreites und die auf
dem Spiele stehenden Parteiinteressen umso grössere Bedeutung beimessen
(BGE 86 IV 75). Was für die Prozesspartei gilt, hat in vermehrtem Masse
für den Anwalt zu gelten. Gewöhnlich kennt er den Sachverhalt, für den
er sich einzusetzen hat, nicht aus eigener Wahrnehmung, sondern hat
sich auf die Angaben und Unterlagen zu stützen, die er vom Auftraggeber
oder von Dritten erhält. Darüber hinaus ist er oft nicht in der Lage,
die ihm zur Verfügung gestellten Auskünfte zum voraus hinreichend auf
ihre Richtigkeit zu prüfen, sei es, dass ihm die Mittel zur einwandfreien
Abklärung fehlen oder dass ihm diese aus Zeitmangel nicht möglich ist. Es
versteht sich von selbst, dass den Anwalt bei der Prüfung der Wahrheit
vorgebrachter Behauptungen nicht, wie der Beschwerdeführer geltend macht,
die gleiche Sorgfaltspflicht trifft wie den Richter, der dazu berufen
ist, mit den gesetzlichen Mitteln im hiefür vorgesehenen Verfahren den
wahren Sachverhalt zu erforschen. Gewiss darf sich der Anwalt nicht
blindlings auf die Angaben seines Auftraggebers oder Dritter verlassen,
sondern er hat sich nach Möglichkeit zu vergewissern, ob für ehrenrührige
Behauptungen oder Verdächtigungen ernsthafte Anhaltspunkte bestehen. Wo
solche Äusserungen im Interesse der zu vertretenden Sache liegen, sind
jedoch an seine Prüfungspflicht nicht besonders hohe Anforderungen zu
stellen, jedenfalls geringere, als wenn jemand eine Ehrverletzung ohne
schützenswerten Beweggrund begeht. Auf alle Fälle darf die Sorgfaltspflicht
des Anwalts nicht so weit gespannt werden, dass er dadurch in der normalen
Ausübung seines Berufes gehindert würde.