Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 IV 107



86 IV 107

28. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. Mai 1960 i.S. Zahnd
gegen Peyer und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 25 Abs. 1 Satz 3 MFG. Angemessener Abstand beim Überholen eines
Radfahrers durch einen Lastenzug.

Sachverhalt

    A.- Zahnd führte in Zürich am 1. Oktober 1958 um 18.50 Uhr auf der
10,8 m breiten Schaffhauserstrasse einen schweren Lastenzug, bestehend aus
einem Lastwagen und einem Zweiachser-Anhänger, stadteinwärts. Es regnete
stark und die Sicht war schlecht. Auf der Höhe des Hauses Nr. 527 war
am rechten Strassenrand ein Personenwagen aufgestellt. Zahnd überholte
dort mit dem langen Lastenzug, dessen Eigengewicht über 10 t betrug und
der eine Ladung von 12,6 t mit sich führte, in einem seitlichen Abstand
von ungefähr 60-70 cm einen Radfahrer, den siebzehneinhalbjährigen Peyer,
der sich bereits auf der Höhe des parkierten Personenwagens befand. Dabei
geriet der Radfahrer ins Schwanken und stürzte zu Boden, sei es weil er
vom Anhängerzug gestreift oder zufolge des geringen seitlichen Abstandes
zwischen dem Lastenzug und dem Fahrrad unsicher wurde.

    B.- Das Obergericht des Kantons Zürich erklärte Zahnd mit Urteil vom
16. Juni 1959 der fahrlässigen Körperverletzung im Sinne von Art. 125
Abs. 1 StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 80.-. Das
Gericht nahm an, der Verurteilte habe die ihm obliegende Sorgfaltspflicht
verletzt, indem er den Radfahrer, als sich dieser auf der Höhe des
parkierten Personenwagens befand, mit einem seitlichen Abstand von bloss
60-70 cm habe überholen wollen.

    C.- Zahnd führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit
den Anträgen, es sei aufzuheben und er sei von Schuld und Strafe
freizusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe es
beim Überholen entgegen der Vorschrift des Art. 46 Abs. 3 MFV an der
nach den Umständen gebotenen besonderen Vorsicht fehlen lassen. Zu den
Vorsichtsmassnahmen, die der Überholende zu treffen hat, gehört nach
Art. 25 Abs. 1 MFG vor allem das Einhalten eines angemessenen seitlichen
Abstandes.

    Ob ein Abstand angemessen ist, hängt neben der Geschwindigkeit, mit der
überholt wird, und anderen Umständen (z.B. Strassen- und Sichtverhältnisse)
wesentlich von der Art des zu überholenden Strassenbenützers und seinem
erkennbaren oder voraussehbaren Verhalten ab. Je geringer der seitliche
Abstand bemessen wird, desto näher liegt die Gefahr eines Zusammenstosses
oder Unfalles und desto schwieriger ist es, einer Fehlreaktion des
zu überholenden Verkehrsteilnehmers durch Verzögerung der Fahrt,
Anhalten, Ausweichen oder Warnen wirksam zu begegnen (BGE 83 IV 36). Das
gilt für das Überholen eines Radfahrers ebensogut wie für dasjenige
eines Motorfahrzeuges. Beim Radfahrer ist ohnehin wegen des labilen
Gleichgewichtes des Fahrrades mit gewissen seitlichen Abweichungen
zu rechnen (BGE 63 II 223). Er vermag in der Regel sein Rad nicht
über eine längere Strecke genau in derselben Richtung zu halten, muss
vielmehr, um im Gleichgewicht zu bleiben, mit Lenkstange und Vorderrad
manöverieren können und ist deshalb, wenn er mit zu knapp bemessenem
seitlichem Abstand überholt wird, der Gefahr besonders ausgesetzt, in
der Fahrsicherheit beeinträchtigt zu werden, ins Schwanken zu geraten und
zu stürzen. Pflichtgemässe Vorsicht gebietet daher dem Überholenden, den
Sicherheitsabstand so weit zu bemessen, dass er dem Radfahrer ausreichenden
Raum belässt, die Fahrt fortzusetzen, ohne sich oder andere zu gefährden,
dass er ihn also nicht nur nicht streift, sondern auch sonstwie nicht
aus dessen Fahrbahn verdrängt oder ihn unsicher macht.

    Wie gross dementsprechend der Mindestabstand gegenüber einem zu
überholenden Radfahrer sein muss, lässt sich nicht ein für allemal
ziffernmässig festlegen. Massgebend ist die konkrete Verkehrssituation, wie
sie sich dem Überholenden bietet und wie er sie im ganzen, einschliesslich
aller Umstände, die auf das Verhalten des zu Überholenden von Einfluss
sein können, zu überblicken hat (BGE 67 I 63). Die Grösse des Abstandes
hat sich demgemäss nach den gegebenen Verhältnissen zu richten. Dabei fällt
erheblich ins Gewicht, ob mit einem leichten Fahrzeug oder einem Lastwagen
oder gar mit einem schweren Lastenzug überholt werden will, wie das hier
zutraf (vgl. FLOEGEL-HARTUNG, Strassenverkehrsrecht, 11. Aufl. S. 297
und dort angeführte Entscheidungen; ferner BGE 68 II 121, 84 II 308). Je
grösser und schwerer das überholende Fahrzeug ist, desto näher liegt die
Möglichkeit, dass der zu überholende Strassenbenützer durch dessen Masse
beeindruckt und angezogen werde (vgl. nicht veröffentlichte Entscheidung
des Kassationshofes vom 21. Mai 1955 i.S. Uebersax). Aus diesem Grunde
ist daher, selbst wenn die Strassen- und Sichtverhältnisse gut sind und
der Überholende mit mässiger Geschwindigkeit fährt, beim Überholen eines
Radfahrers durch einen schweren Lastwagen oder einen Lastenzug die Gefahr
eines Zusammenstosses verhältnismässig gross, somit nach Art. 46 Abs. 3
MFV der Sicherheitsabstand besonders weit zu bemessen.

Erwägung 4

    4.- Nach diesen Grundsätzen beurteilt wirft die Vorinstanz dem
Beschwerdeführer mit Recht vor, er habe seine Vorsichtspflicht verletzt,
indem er mit seinem schweren, langen Lastenzug den Radfahrer mit einem
seitlichen Abstand von bloss 60-70 cm in dem Augenblicke überholen wollte,
als dieser am parkierten Personenwagen vorbeifuhr. Ein solcher Abstand war
unter den gegebenen Umständen unangemessen gering, und zwar selbst dann,
wenn entsprechend der Behauptung des Beschwerdeführers davon auszugehen
wäre, dass er mit mässiger, jedenfalls mit einer unter 40 km/Std liegenden
Geschwindigkeit gefahren sei. Auch dann hatte er zu bedenken, dass
er einen schweren Lastenzug führte, der seiner Grösse und Länge wegen
ohnehin zum Überholen eine verhältnismässig lange Strecke benötigte und
den Radfahrer in stärkerem Masse als ein Personenwagen oder ein Motorrad
beeindrucken und anziehen konnte. Er durfte den Sicherheitsabstand
daher auf keinen Fall gering bemessen, zumal nach den verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz damals ausgesprochen schlechte Witterungs-
und Sichtverhältnisse herrschten, bei denen erst recht zu bedenken war,
dass ein knappes Überholen zu einer Gefährdung des Radfahrers oder gar
zu einem Zusammenstoss führen könnte. Durch diese Umstände unterscheidet
sich der vorliegende Fall wesentlich von dem in BGE 81 IV 88 beurteilten,
wo erklärt wurde, dass ein seitlicher Abstand von 60 cm als ausreichend
erachtet werden könnte, um (bei klarem, trockenem Wetter) mit einem
Personenwagen und einer Geschwindigkeit von 30-40 km/Std auf gerader
Strecke einen Radfahrer zu überholen, wenn nichts voraussehen lasse,
dass dieser nach links abweichen werde. Im Vergleich zu diesem Tatbestand
lagen in dem hier zu beurteilenden Falle die Verhältnisse, nach denen der
Sicherheitsabstand bemessen werden musste, derart ungünstig, dass sogar
als fraglich erscheinen müsste, ob selbst bei mässiger Geschwindigkeit
ein Abstand von 1 m angemessen gewesen wäre.