Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 II 335



86 II 335

52. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Oktober 1960
i.S. Ember gegen Schaffner. Regeste

    Solidarhaftung der Erben (Art. 603 ZGB) für Schulden des Erblassers
gegenüber einem Erben? Einschränkung der Praxis, die eine solche Haftung
verneint. Rückgriffsrecht des belangten Erben (Art. 640 ZGB).

Auszug aus den Erwägungen:

    A.- Die Eheleute Schaffner-Probst, zwischen denen Gütertrennung
bestand, besorgten für einander im Lauf der Jahre zahlreiche
Rechtsgeschäfte, namentlich auf dem Gebiet des Liegenschaftenhandels. Nach
der Erkrankung des Ehemannes verwaltete die Ehefrau eine Zeitlang
sein Vermögen. Am 8. Dezember 1952 starb der Ehemann. Er hatte
durch letztwillige Verfügungen seine Frau enterbt, seine Tochter aus
früherer Ehe, Frieda Ember-Schaffner, zu seiner Alleinerbin eingesetzt
und seinen Enkel Maximilian Ember (einen Sohn der Frieda Ember) zum
Willensvollstrecker ernannt.

    B.- Über die gegenseitigen Ansprüche der Eheleute Schaffner aus
ihren geschäftlichen Beziehungen entstand zwischen Frau Schaffner
und Frau Ember Streit. Jene belangte diese als Erbin ihres Mannes auf
Bezahlung von Fr. 137'314.90 nebst Zinsen. Die Beklagte bestritt ihre
Passivlegitimation mit der Behauptung, die Klägerin hätte die Klage auch
gegen den Willensvollstrecker richten müssen. Ausserdem bestritt sie
die meisten Forderungsposten, stellte Gegenansprüche in höherm Betrag
zur Verrechnung und erhob darüber hinaus Widerklage mit zehn Begehren im
Streitwerte von Fr. 128'000.-- nebst Zinsen.

    In einem weitern Prozesse stellte Frau Schaffner das Begehren, die
letztwilligen Verfügungen des Erblassers seien "gänzlich, eventuell in
Bezug auf die Enterbung der Klägerin" ungültig zu erklären und sie sei
demgemäss als gesetzliche Erbin im Sinne von Art. 462 ZGB anzuerkennen. Das
Obergericht des Kantons Zürich (II. Zivilkammer) hat am 28. August 1956

    a) im vorliegenden Abrechnungsprozesse die Anerkennung von Teilbeträgen
in Höhe von Fr. 19'800.-- vorgemerkt, die Beklagte verpflichtet, der
Klägerin über die anerkannten Beträge hinaus Fr. 77'679.60 nebst Zinsen zu
bezahlen, und die Klägerin verurteilt, einen Schuldbrief im Betrage von
Fr. 16'000.-- gegen Bezahlung einer Ersatzforderung von Fr. 16'151.--
in den Nachlass ihres Ehemannes einzuwerfen und diesem Nachlass Fr.
5760.-- zu vergüten.

    b) im Testamentsanfechtungsprozesse die letztwilligen Verfügungen des
Erblassers für ungültig erklärt, "soweit durch sie die Klägerin enterbt
wird", und demgemäss festgestellt, die Klägerin sei gesetzliche Erbin im
Sinne von Art. 462 ZGB.

    C.- Gegen beide Urteile hat die Beklagte die Berufung an das
Bundesgericht erklärt. Im Abrechnungsprozess beantragt sie die Abweisung
der Hauptklage, weil sie mit Bezug auf diese Klage nicht passivlegitimiert
sei. Im Testamentsanfechtungsprozess schliesst sie auf Abweisung der
Klage...

    Das Bundesgericht weist die Berufung im Abrechnungsprozess
ab (und bestätigt darauf auch das obergerichtliche Urteil im
Testamentsanfechtungsprozess; vgl. BGE 86 II 340 hienach).

    In den Erwägungen 1-4 des bundesgerichtlichen Urteils im
Abrechnungsprozess wird dargelegt, die Klägerin verlange mit ihrer
Klage, dass die Beklagte als Erbin ihres Ehemannes persönlich zur
Zahlung des Betrags verurteilt werde, den ihr Ehemann ihr nach ihrer
Meinung schuldig geworden sei. Sie verlange nicht Zahlung aus dem
vom Willensvollstrecker verwalteten Nachlass. Der Willensvollstrecker
habe daher nicht in den Prozess einbezogen werden müssen, sondern die
Passivlegitimation und die Prozessführungsbefugnis der Beklagten seien
zu bejahen. Nach dem materiellen Erbrecht sei es zulässig, einen Erben,
der die Erbschaft angenommen habe, schon vor der Teilung für Schulden
des Erblassers zu belangen, auch wenn dieser einen Willensvollstrecker
eingesetzt habe. Vergeblich suche die Beklagte der Klägerin diese
Befugnis mit der Begründung abzusprechen, dass die Klägerin, die als
Ehefrau des Erblassers potentielle Erbin gewesen sei und bei Bestätigung
des obergerichtlichen Urteils im Testamentsanfechtungsprozess Miterbin
werde, in einem gerichtlichen Verfahren zur Abrechnung mit dem Erblasser
verpflichtet worden sei und diese Pflicht nicht erfüllt habe.

    Im Anschluss hieran führt das Bundesgericht in Erwägung 5 aus:

    Es bleibt die Frage zu prüfen, ob der von der Beklagten geltend
gemachte Umstand, dass die Klägerin als Ehefrau "potentielle Erbin" des
Erblassers war und im Falle der Gutheissung der Testamentsanfechtungsklage
Miterbin (zu einem Viertel) der Beklagten wird, unter einem andern als
dem von der Beklagten erwähnten Gesichtspunkte rechtserheblich sei.

    In BGE 71 II 222 und 72 II 160 oben hat das Bundesgericht erklärt,
die Solidarhaftung der Erben für die Schulden des Erblassers bestehe
nur zugunsten von Gläubigern, die nicht ihrerseits Erben seien; die
Forderungen, die einzelne Erben gegen den Nachlass besitzen, seien im
Erbteilungsverfahren zu liquidieren. In Anwendung dieses Grundsatzes hat
das Bundesgericht im zweiten dieser Fälle, wo eine Tochter der Erblasserin
durch Klage gegen ihren Bruder die Feststellung der Ungültigkeit des
von ihr mit der Erblasserin abgeschlossenen Erbverzichtsvertrags wegen
Simulation verlangt und zugleich die Rückzahlung eines von ihr der
Erblasserin gewährten Darlehens gefordert hatte, im Hinblick auf die
Gutheissung des ersten Begehrens das zweite abgewiesen.

    Aus diesen Präjudizien könnte geschlossen werden, für den Fall
der Gutheissung der Testamentsanfechtungsklage der Klägerin sei
die vorliegende Forderungsklage abzuweisen und die Klägerin auf den
Weg der Geltendmachung ihrer Forderung im Erbteilungsverfahren zu
verweisen. Dieses Ergebnis wäre jedoch höchst unbefriedigend. Da die
Klägerin vom Erblasser enterbt worden war, konnte sie, solange die
betreffende Verfügung nicht beseitigt war, nicht als Erbin auftreten und
hatte also keine Gelegenheit, ihre Forderung im Rahmen der Erbteilung
geltend zu machen. Mit der Einforderung ihrer Guthaben bis nach der
rechtskräftigen Erledigung des Testamentsanfechtungsprozesses zuzuwarten,
war ihr nicht zuzumuten, da dies auf eine Stundung hinausgelaufen wäre,
auf welche die Beklagte mindestens im Falle der Bestätigung der Enterbung
keinen Anspruch hatte. Daher muss der Klägerin zugebilligt werden, dass
sie ungeachtet ihres Bestrebens, sich als Miterbin anerkennen zu lassen,
berechtigt war, ihre Forderung vorgängig der im Falle der Gutheissung der
Testamentsanfechtungsklage durchzuführenden Erbteilung durch eine besondere
Klage geltend zu machen. Dies nicht durch eine Klage auf Zahlung aus dem
Nachlass zu tun, sondern die Beklagte persönlich zu belangen, war bei
den gegebenen Verhältnissen ebenfalls statthaft, zumal da die Beklagte
einstweilen als Alleinerbin zu gelten hatte. Die somit zulässigerweise
neben der Testamentsanfechtungsklage eingeleitete Forderungsklage gegen
die Beklagte für den Fall der Gutheissung jener andern Klage als unzulässig
geworden abzuweisen, wäre ungereimt. Wenigstens für Fälle von der Art des
vorliegenden kann also an dem in den erwähnten Präjudizien aufgestellten
Grundsatze, dass die Forderungen eines Erben gegen den Nachlass erst
im Teilungsverfahren zu bereinigen seien, nicht festgehalten werden,
sondern in solchen Fällen muss Art. 603 ZGB auch im Verhältnis unter den
Erben Anwendung finden.

    Bleibt der Klägerin auch im Falle, dass sie infolge Gutheissung der
Testamentsanfechtungsklage die Stellung einer Miterbin erlangt, das Recht
gewahrt, vorgängig der Teilung von der Beklagten persönlich die Bezahlung
ihrer Forderung gegen den Erblasser zu verlangen, so muss aber umgekehrt
der Beklagten ihrerseits gestattet sein, gegenüber der Klägerin schon
vor der Teilung das Rückgriffsrecht auszuüben, das ein Erbe erwirbt, der
eine Schuld des Erblassers bezahlt, die nicht ihm zugewiesen worden ist
(Art. 640 ZGB). Über den Umfang dieses Regressanspruchs besteht hier
(anders als im Falle BGE 72 II 160 oben) Klarheit: er geht entsprechend
dem der Klägerin bei Hinfall der Enterbung zukommenden Erbanteil auf 1/4
des ihr zugesprochenen Betrages.

    Im Falle der Gutheissung der Testamentsanfechtungsklage kommen
also, wenn der Willensvollstrecker sich nicht bereit finden sollte, die
Mittel für die Befriedigung der Klägerin aus dem Nachlass zur Verfügung
zu stellen, folgende Möglichkeiten in Betracht: entweder zahlt die
Beklagte die Forderung der Klägerin im vollen Betrag "auf Rechnung des
Nachlasses" aus ihren eigenen Mitteln und lässt sich diese Leistung bei
der Teilung gutschreiben, wodurch 1/4 des von ihr bezahlten Betrags auf
die Klägerin überwälzt würde, oder sie beruft sich jetzt schon auf ihr
Rückgriffsrecht, was zur Folge hätte, dass sie der Klägerin nur 3/4
des im Urteil festgesetzten Betrags zu zahlen hätte. Damit wäre die
erbrechtliche Auseinandersetzung zwischen den Parteien hinsichtlich der
streitigen Forderung durchgeführt, so dass diese bei der Teilung nicht
mehr in Betracht fiele. Alle diese Wege führen am Ende zum gleichen Ziel,
dass die Klägerin 1/4 und die Beklagte 3/4 der streitigen Nachlassschuld
zu tragen hat.