Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 II 303



86 II 303

48. Urteil der II. Zivilabteilung vom 13. September 1960 in Sachen N. gegen
N. und Obergericht des Kantons Zürich. Regeste

    1.  Gesuche nach Art. 169 ff. ZGB sind beim Richter des Wohnsitzes des
gesuchstellenden Ehegatten anzubringen. Bestätigung der Rechtsprechung,
wonach die Ehefrau, wenn sie nach Gesetz berechtigt ist, getrennt zu leben,
auch ohne richterliche Bewilligung einen selbständigen Wohnsitz begründen
kann. Art. 25 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 170 Abs. 1 und 2 ZGB. (Erw. 1
und 2).

    2.  Die von einem Ehemann schweizerischer Nationalität in Deutschland,
an seinem angeblichen Wohnsitz, angehobene Scheidungsklage ist nach Art. 3
des schweizerisch/deutschen Urteilsvollstreckungsabkommens in Verbindung
mit Art. 7 g Abs. 3 NAG nicht zulässig, wenn die Ehefrau nach den Normen
des schweizerischen Rechtes einen selbständigen Wohnsitz in der Schweiz
hat. Eine solche Klage steht daher der Beurteilung eines auf die Art. 169
ff. ZGB gestützten Gesuches der Ehefrau durch den Richter ihres Wohnsitzes
nicht entgegen. (Erw. 3).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Die Parteien, Bürger von Genf, sind seit dem 16.  Juni 1945
verheiratet. Sie nahmen Wohnung in Zürich, wo der Ehemann, Ingenieur von
Beruf, für eine Fabrik in G... heim, Württemberg, Deutschland, tätig war
und die Ehefrau ihr Berufsbüro in Zürich weiterbetrieb. Im Jahre 1949
bezogen sie eine 6-Zimmerwohnung an der B... strasse in Zürich. Laut
einem Vertrag vom 19. Oktober 1953, den der Ehemann mit der Fabrik
in G... heim abschloss, hatte er sein Zürcher Ingenieurbüro für die
Zwecke jener Fabrik zur Verfügung zu stellen. Er arbeitete abwechselnd
in G. .. heim und in Zürich. In einem Nachtrag vom 17. Dezember 1956
zum Anstellungsvertrag wurde als sein Wohnort nach wie vor Zürich
angegeben. Die Büroräume befanden sich seit 1. März 1958 im gleichen
Haus wie das Büro der Ehefrau. In G. .. heim stand dem Ehepaar eine
Fabrik- oder Geschäftswohnung zur Verfügung. Zeitweise lebten sie an
jenem Ort und pflogen auch dort gesellschaftliche Beziehungen. Ferner
kaufte die Ehefrau in G. .. heim Land, um später einmal darauf ein
Haus zu bauen. Indessen blieben beide Eheleute in Zürich als Einwohner
gemeldet; hier war die Ehefrau weiterhin beruflich tätig, und hier übte
der Ehemann seine politischen Rechte aus, zahlte Steuern und AHV-Beiträge;
auch benutzte er ein Automobil mit Zürchernummer.

    B.- Im Jahre 1959 kam es zu ehelichen Zwistigkeiten und zur
Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes. Die Ehefrau blieb an der B. ..
strasse in Zürich wohnen, während der Ehemann auszog, sich in Zürich anders
einrichtete, auch das dortige Büro an eine andere Strasse verlegte und der
Ehefrau den Zutritt zur Fabrikwohnung in G. .. heim verbieten liess. Am 17.
Juli 1959 leitete er beim Friedensrichteramt Zürich 7 Klage auf Scheidung
ein, die er am 1. Oktober 1959 beim Bezirksgericht Zürich einreichte. Am
12. Januar 1960, zwei Tage vor dem Hauptverhandlungstermin, zog er die
Klage jedoch zurück, und zwar ausdrücklich, um sie in H. bei dem für
G. .. heim zuständigen Gericht, neu anzuheben. Das geschah denn auch
am 9./11. März 1960, nachdem er sich - und nicht auch die Ehefrau -
in Zürich polizeilich ab- und in G. .. heim angemeldet hatte.

    C.- Inzwischen stellte die Ehefrau am 20. Februar 1960 beim
Einzelrichter in Ehesachen des Bezirksgerichts Zürich ein Gesuch um
Eheschutzmassnahmen. Sie verlangte namentlich, dass ihr die Wohnung an
der B. .. strasse samt dem ehelichen Hausrat zur Benutzung zugewiesen und
der Ehemann zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen verpflichtet werde. Mit
Entscheid vom 26. März 1960 wies der angerufene Richter das Gesuch
von der Hand, da er wegen der in H. angehobenen Scheidungsklage des
Ehemannes nicht mehr sachlich zuständig sei. Auf Rekurs der Ehefrau hob
aber das Obergericht des Kantons Zürich am 8. Juni 1960 den Entscheid des
Einzelrichters auf und erklärte diesen als zur Behandlung des Gesuches
zuständig.

    D.- Gegen den obergerichtlichen Entscheid hat der Ehemann
Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 68 OG erhoben mit der Rüge der Verletzung
eidgenössischer Zuständigkeitsnormen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die örtliche Zuständigkeit zu richterlichen Massnahmen im Sinne
der Art. 169 ff. ZGB ist in diesem Gesetz nicht geregelt. Indessen ist
nicht anzunehmen, der Bundesgesetzgeber habe die Bestimmung dieses
Gerichtsstandes dem kantonalen Recht anheim geben wollen. Man hat
es vielmehr mit einer Lücke des ZGB zu tun; sie ist in Anlehnung an
Art. 144 ZGB auszufüllen und als zuständig der Richter des Wohnsitzes des
gesuchstellenden Ehegatten zu erachten (BGE 54 I 246 Mitte, 64 II 72 und
176, 68 II 183).

Erwägung 2

    2.- Dass, wie der Ehemann behauptet, der eheliche Wohnsitz im Jahr 1954
von Zürich nach G. .. heim verlegt worden sei, ist nicht glaubhaft gemacht.
Hiefür ist gleichgültig, wie sich die Arbeitszeit des Ehemannes von nun
an auf die beiden Orte verteilt haben mag. Denn für den Wohnsitz eines
Ehepaars ist in erster Linie der Ort der ehelichen Wohnung bestimmend,
und es ist nicht ersichtlich, dass von den beiden Wohnungen, welche die
Parteien belegt hatten, derjenigen in Zürich in den betreffenden Jahren
nicht mehr der Vorrang vor der kleineren, nach Angabe der Ehefrau zum
grössten Teil von der Geschäftsunternehmung eingerichteten "Fabrikwohnung"
in G. .. heim zugekommen wäre. Im übrigen kann offen bleiben, ob der
Ehemann bei der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes oder wenigstens
in den ersten Monaten 1960, als er sich polizeilich in Zürich ab- und
in G. .. heim anmeldete, seinen persönlichen Wohnsitz an den letztern
Ort verlegt oder aber sich dort nur, um die Scheidungsklage neu in
Deutschland anzuheben, also zu einem nicht wohnsitzbegründenden Sonderzweck
niedergelassen habe (vgl. BGE 64 II 399 und 403). Sollte sich der Wohnsitz
des Ehemannes nunmehr in Deutschland befunden haben, so ist der Ehefrau
ein selbständiger Wohnsitz in Zürich zuzuerkennen, wo sie wohnen geblieben
ist. Denn spätestens seit der Einreichung der Scheidungsklage des Ehemannes
in Zürich war sie berechtigt, getrennt zu leben (Art. 170 Abs. 2 ZGB), und
zwar gleichgültig ob das mit dieser Klage befasste Gericht zuständig war,
einfach deshalb, weil, wie das Obergericht zutreffend bemerkt, "die blosse
Tatsache des Scheidungsprozesses das gemeinsame Leben verunmöglicht". An
dieser Berechtigung änderte auch der Rückzug der vom Ehemann in Zürich
eingereichten Klage nichts, weil sie ausdrücklich in der Absicht erfolgte,
in Deutschland einen neuen Scheidungsprozess anzuheben, wie es ja dann
geschehen ist. Im übrigen hat der Ehemann durch die Verweigerung des
Zusammenlebens und durch das Verbot des Betretens der "Fabrikwohnung" in
G. .. heim die Ehefrau geradezu zum Getrenntleben gezwungen, so dass sich
ihre Berechtigung dazu auch aus dem Grundgedanken des Art. 170 Abs. 1 ZGB
herleiten lässt (vgl. BGE 83 II 498). Da sie nach dem Wegzug des Ehemannes
in der ehelichen Wohnung an der B. .. strasse in Zürich blieb, hat sie
diese Berechtigung zweifellos ausgeübt und sich damit einen selbständigen
Wohnsitz geschaffen. Sie bedurfte dafür nach ständiger Rechtsprechung
keiner richterlichen Bewilligung (neuestens BGE 85 II 297; dazu PIOTET im
JdT 1960 I 98 ff.). Es ist belanglos, dass sie in einem Briefe die Wohnung
in G. .. heim, auf eine dort aufgetretene Nebenbuhlerin anspielend,
auch später noch als ihre eheliche Wohnung bezeichnete. Daraus ergibt
sich nicht einmal die Absicht, von Zürich dorthin überzusiedeln und die
Zürcher Wohnung aufzugeben. Übrigens könnte ein blosser Wunsch, solange er
nicht erfüllt wird, keinen Wohnsitz begründen (vgl. BGE 65 II 97, 69 II 1).

    Für die Frage, ob die Ehefrau in der Schweiz einen selbständigen
Wohnsitz habe und somit an diesem Orte den richterlichen Schutz nach
Art. 169 ff. ZGB in Anspruch nehmen könne, ist das schweizerische Recht
massgebend, gleichgültig, wo sich der Wohnsitz des Ehemannes befindet
(vgl. BGE 83 II 496/97).

Erwägung 3

    3.- Ein solches Gesuch ist freilich nicht mehr zulässig bei
Rechtshängigkeit einer Scheidungs- oder Trennungsklage des einen oder
andern Ehegatten, sofern diese Klage zuständigen Ortes angebracht ist
und nun beim Scheidungsgericht vorsorgliche Massnahmen verlangt werden
können (BGE 64 II 176 und 396). In diesem Sinne beruft sich der Ehemann
im vorliegenden Falle auf die von ihm am 11. März 1960 beim Landgericht
H. eingereichte Scheidungsklage. Nach der insoweit auf Anwendung
ausländischen Rechts beruhenden und daher vom Bundesgericht in diesem
Punkte nicht nachzuprüfenden Entscheidung des Obergerichts könnten in der
Tat bei jenem deutschen Scheidungsgericht (vorausgesetzt, dass dieses sich
als zuständig erachten würde) in einer dem Art. 145 ZGB entsprechenden
Weise vorsorgliche Massnahmen für die Prozessdauer nachgesucht werden. Mit
Recht lehnt es das Obergericht jedoch ab, die Ehefrau auf diesen Weg zu
weisen. Denn das vom Ehemann angerufene ausländische Gericht ist für die
Scheidungsklage nicht zuständig.

    Nach Art. 3 des schweizerisch/deutschen Urteilsvollstreckungsabkommens
vom 2. November 1929 sind die in nicht vermögensrechtlichen Streitigkeiten
zwischen Angehörigen eines der beiden Staaten oder beider Staaten
ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen der bürgerlichen Gerichte
des einen Staates im Gebiete des andern Staates anzuerkennen, "es
sei denn, dass an dem Rechtsstreit ein Angehöriger des Staates,
in dem die Entscheidung geltend gemacht wird, beteiligt war und
nach dem Rechte dieses Staates die Zuständigkeit eines Gerichts des
andern Staates nicht begründet war." Zur Erläuterung wurde von den
beiden Delegationen im Sitzungsprotokoll vermerkt: "Die im Art. 3
enthaltene Zuständigkeitsbestimmung bedeutet, dass der Richter des
Staates, in dem das Urteil geltend gemacht wird, nachzuprüfen hat,
ob eine der in seinem Rechte für den in Frage kommenden Rechtsstreit
aufgestellten Zuständigkeitsvoraussetzungen im Gebiete des andern Staates
erfüllt war." (Botschaft des Bundesrates, BBl 1929 III 536 oben). Für
schweizerische Ehegatten hängt somit die Anerkennung eines deutschen
Scheidungs- oder Trennungsurteils im Gebiete der Schweiz gänzlich von
den Zuständigkeitsnormen des intern-schweizerischen Rechtes ab. Wird
davon ausgegangen, der Ehemann habe im vorliegenden Fall bei Anhebung
des Scheidungsprozesses in H. nicht nur polizeilichen, sondern auch
zivilrechtlichen Wohnsitz in Deutschland gehabt, so kommen die von Art. 144
ZGB abweichenden Normen in Betracht, wie sie sich aus Art. 7 g NAG für
Auslandschweizer ergeben. Danach steht einem im Ausland wohnenden
Schweizerbürger allgemein der Gerichtsstand seines Heimatortes zur
Verfügung. Ausserdem wird in der Schweiz "die Scheidung schweizerischer,
im Auslande wohnender Ehegatten durch ein nach dortigem Rechte zuständiges
Gericht" anerkannt (Abs. 1 und 3 daselbst). Diese letztere Vorschrift
hat indessen nach ihrem Wortlaut den Fall im Auge, dass beide Ehegatten im
Ausland wohnen. Hat dagegen der eine Ehegatte Wohnsitz in der Schweiz, so
kann in der Tat nicht von der Scheidung "im Auslande wohnender Ehegatten"
gesprochen werden (vgl. auch den französischen und den italienischen Text:
"le divorce d'époux suisses habitant l'étranger"; "il divorzio di coniugi
svizzeri domiciliati all'estero"). Nach ständiger Rechtsprechung wird
daher ein ausländisches Gericht nur dann als zur Scheidung schweizerischer
Ehegatten zuständig erachtet, wenn beide ihren Wohnsitz im Ausland haben
(BGE 56 II 338, 64 II 78, 80 II 101 unten/102). An dieser Auslegung
ist festzuhalten, entgegen einer Lehrmeinung, wonach Art. 7 g Abs. 3
NAG anwendbar sein soll, wenn auch nur der Kläger im Ausland wohnt
(so STAUFFER, N. 3 zu Art. 7 g NAG; derselbe, Die neuen Verträge der
Schweiz über die Vollstreckung von Zivilurteilen, Druckschrift Nr. 31 der
Schweizerischen Vereinigung für internationales Recht, S. 12 ff.). Es
mag dahingestellt bleiben, ob die Ausführungen der bundesrätlichen
Botschaft zum schweizerisch/deutschen Vollstreckungsabkommen (BBl aaO
Mitte) die letztere Ansicht zum Ausdruck bringen (so STAUFFER, in der
erwähnten Druckschrift S. 13, während BECK N. 105 zu Art. 7 g NAG, jene
Ausführungen für die gegenteilige Ansicht in Anspruch nimmt). Jedenfalls
hat die Rechtsprechung, wie dargetan, seit dem Erscheinen jener Botschaft
die streitige Frage eindeutig im Sinne der engern Auslegung des Art 7 g
Abs. 3 NAG beantwortet (vgl im gleichen Sinne, ausser BECK aaO: PILLER,
La condition juridique des Suisses à l'étranger, 101/2; GULDENER,
Das internationale und interkantonale Zivilprozessrecht der Schweiz,
66 oben, mit Fussnote 175 b) Der Wortlaut des Gesetzes lässt eine andere
Auslegung schwerlich zu. In sachlicher Beziehung ist nicht so sehr das
(von STAUFFER in der erwähnten Druckschrift S 13/14 kritisierte) Argument
entscheidend, das Gesetz wolle konkurrierende Scheidungsgerichtstände
nach Möglichkeit vermeiden, als vielmehr die Rücksichtnahme auf den in
der Schweiz wohnhaften Ehegatten schweizerischer Nationalität, dem nicht
über den Wortlaut des Gesetzes hinaus zugemutet werden darf, einer Klage
auf Scheidung oder Trennung der Ehe im Ausland ausgesetzt zu werden.

    Erweist sich somit das vom Ehemann angerufene ausländische
Scheidungsgericht nach den schweizerischen Zuständigkeitsnormen als
unzuständig, so muss es dabei auch nach Art. 3 des schweizerisch/deutschen
Vollstreckungsabkommens sein Bewenden haben. Das von der Ehefrau an
ihrem schweizerischen Wohnsitz angehobene Eheschutzverfahren ist daher
ungeachtet jenes Scheidungsprozesses durchzuführen (vgl. BGE 80 II 100/101,
84 II 475). Über die Zuständigkeit zur Beurteilung des Gesuches um
Eheschutzmassnahmen haben die damit befassten schweizerischen Gerichte
selbständig zu entscheiden Es bestand daher für das Obergericht, da es
den für die Anwendung der massgebenden Zuständigkeitsnormen wesentlichen
Tatbestand als hinreichend abgeklärt erachtete, keine Veranlassung, auf
die zur Zeit noch in H. hängige Scheidungsklage des Ehemannes Rücksicht
zu nehmen und gemäss dessen Eventualantrag den Entscheid des dortigen
Gerichts über die Zuständigkeitsfrage abzuwarten.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.