Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 II 235



86 II 235

38. Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. Juni 1960 i. S. Baumgartner
gegen Siegenthaler. Regeste

    Notwegrecht (Art. 694 ZGB). Entstehung. Benützung des Weges vor
Eintragung des gemäss Entscheid der zuständigen Behörde einzuräumenden
Notwegrechts. Inhalt des gesetzlichen Anspruchs auf einen Notweg. Wahl
zwischen mehrern Wegen, die dem Kläger einen genügenden Zugang zur
öffentlichen Strasse vermitteln; Vorrang der Interessen des Beklagten.
Kann der Kläger auf einen Weg verwiesen werden, der nicht unmittelbar über
das Land des Beklagten zur öffentlichen Strasse führt, sondern auch noch
das Land eines Dritten beansprucht, dem gegenüber der Kläger kein Wegrecht
besitzt, der aber gezwungen ist, dem Kläger den Durchgang zu gestatten,
damit dieser ihm Gegenrecht gewährt? Neuregelung des Notwegrechts im Fall
einer Veränderung der Verhältnisse.

Sachverhalt

    A.- In der Gemeinde Trub liegen nördlich des Fankhausgrabens, dem eine
Gemeindestrasse folgt, nebeneinander die landwirtschaftlichen Heimwesen
Vorderst-, Vorder- und Ober-Fankhaus (Nrn. 541, 542 und 543). Die erste
dieser Liegenschaften gehört Hans Baumgartner, die zweite Frau Rosette
Wüthrich, die dritte Hans Siegenthaler. Baumgartner besitzt ausser dem
Heimwesen Vorderst-Fankhaus noch die nordöstlich von Ober-Fankhaus
gelegene Liegenschaft Weidli (Nr. 544), die von VorderstFankhaus
durch die Liegenschaften Vorder- und OberFankhaus getrennt ist. Zur
Liegenschaft Weidli führt keine öffentliche Strasse. Sie kann von der
erwähnten Gemeindestrasse aus entweder über den sog. Karr- oder über
den sog. Mattenweg erreicht werden. Der Karrweg führt zunächst über das
Land der Frau Wüthrich an deren Haus vorbei längs der Grenze zwischen
Vorderund Ober-Fankhaus nach Norden und durchquert dann in nordöstlicher
Richtung die nach Süden abfallende Liegenschaft Ober-Fankhaus, wogegen der
ungefähr parallel zum ersten Stück des Karrwegs am Hause Siegenthalers
vorbei verlaufende Mattenweg in seiner ganzen Länge über das Land
Siegenthalers (Ober-Fankhaus) führt. Weder am einen noch am andern Wege
besitzt Baumgartner ein im Grundbuch eingetragenes Wegrecht.

    B.- Infolge von nachbarlichen Streitigkeiten leitete Siegenthaler
gegen Baumgartner am 31. Januar 1956 Klage ein mit den Begehren:

    "1. Es sei dem Beklagten richterlich zu untersagen, den über das
Grundstück Trub Grundbuch Nr. 543 am Hause des Klägers vorbeiführenden
sogenannten Mattenweg zu befahren oder sonstwie zu benützen, unter
Androhung der gesetzlichen Straffolgen im Falle der Widerhandlung.

    2. Es sei dem Beklagten zu verbieten, den über das Grundstück Nr. 543
beim Hause der Familie Wüthrich vorbeiführenden Karrweg zu befahren oder
sonstwie zu benützen, soweit er über die Parzelle Nr. 543 des Klägers
führt, unter Androhung der gesetzlichen Straffolgen im Widerhandlungsfalle.

    3. Eventuell: Es seien die Modalitäten eines Notwegrechtes bezüglich
des unter Ziff. 2 hievor erwähnten Karrwegs, sowie die vom Beklagten dem
Kläger hiefür zu bezahlende Entschädigung gerichtlich festzusetzen."

    Baumgartner schloss auf Abweisung der Klagebegehren Ziff. 1 und 2
und verlangte widerklageweise:

    "Der Widerbeklagte sei schuldig und zu verurteilen, zulasten seiner
Parzelle Nr. 543 und zugunsten der Parzelle Nr. 544 des Widerklägers ein
Notfahrwegrecht einzuräumen und im Grundbuch eintragen zu lassen. Die
vom Widerkläger zu bezahlende Entschädigung sei gerichtlich festzusetzen."

    Der Gerichtspräsident von Signau schützte mit Urteil vom 13. November
1957 das Klagebegehren 2 (Verbot der Benützung des Karrwegs), wies dagegen
die Klagebegehren 1 und 3 ab und verurteilte Siegenthaler in Gutheissung
der Widerklage, Baumgartner auf dem Mattenweg gegen eine Entschädigung
von Fr. 1200.-- einen Notweg einzuräumen.

    C.- Siegenthaler zog dieses Urteil an den Appellationshof des
Kantons Bern weiter mit dem Antrag, es seien sämtliche Klagebegehren zu
schützen und die Widerklage abzuweisen. An der Hauptverhandlung vor dem
Appellationshof gab er ausserdem die Erklärung ab, er räume Baumgartner
den Notweg über den Karrweg unentgeltlich ein.

    Der Appellationshof (I. Zivilkammer) hat am 9. Juli 1958 erkannt:

    "1. Auf die Appellation bezüglich des Klagebegehrens Ziff. 2 wird
nicht eingetreten.

    2. Klagebegehren Ziff. 1 wird zugesprochen, und es wird demgemäss dem
Beklagten untersagt, den über das Grundstück Trub Grundbuch Nr. 543 am
Hause des Klägers vorbeiführenden Mattenweg zu befahren oder sonstwie zu
benützen. Eine Widerhandlung gegen dieses Verbot wird gemäss Art. 403 ZPO,
auf Antrag der Gegenpartei, bestraft mit Busse bis Fr. 5000.--, womit Haft
oder in schweren Fällen Gefängnis bis zu einem Jahr verbunden werden kann.

    3. Die Widerklage wird in dem Sinne zugesprochen, dass der
Widerbeklagte verurteilt wird, zu Lasten seiner Parzelle Trub Grundbuch
Nr. 543 und zu Gunsten der Parzelle Trub Grundbuch Nr. 544 auf dem
sog. Karrweg einen Notweg, und zwar als Fuss- und Fahrweg, einzuräumen,
der im Grundbuch einzutragen ist."

    D.- Gegen dieses Urteil hat Baumgartner die Berufung an das
Bundesgericht erklärt mit den Anträgen, das Klagebegehren 1 auf Verbot
der Benützung des Mattenwegs sei abzuweisen und die Widerklage in dem
Sinne zu schützen, dass Siegenthaler verurteilt werde, ihm gegen eine
gerichtlich festzusetzende Entschädigung auf diesem Wege ein Notwegrecht
(Fuss- und Fahrwegrecht) einzuräumen und dieses im Grundbuch eintragen zu
lassen; eventuell sei in diesem Punkte das Urteil des Gerichtspräsidenten
von Signau (der ihm das verlangte Notwegrecht gegen eine Entschädigung
von Fr. 1200.-- zugesprochen hatte) zu bestätigen.

    Siegenthaler schliesst auf Abweisung der Berufung.

    Die kantonale Nichtigkeitsklage gegen das Urteil der I. Zivilkammer
des Appellationshofes und die staatsrechtlichen Beschwerden, mit denen
Baumgartner dieses Urteil und den Plenarentscheid des Appellationshofs
über die Nichtigkeitsklage wegen Verletzung von Art. 4 BV anfocht, sind
erfolglos geblieben.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- In materieller Hinsicht ist klar, dass das von der Vorinstanz
gutgeheissene Klagebegehren 1 auf Verbot der Benützung des Mattenwegs
abgewiesen werden müsste, wenn Siegenthaler gemäss dem Widerklagebegehren
verurteilt würde, Baumgartner ein Notwegrecht über diesen Weg einzuräumen.
Das Notwegrecht (das nicht zu den unmittelbar durch das Gesetz begründeten
Wegrechten im Sinne von Art. 696 ZGB gehört) entsteht zwar grundsätzlich
erst mit der Eintragung im Grundbuch. (Ob es allenfalls auch schon vor der
Grundbucheintragung durch Richterspruch entstehen könne, obwohl Art. 694
ZGB im Gegensatz zu Art. 731 ZGB nicht auf Art. 656 Abs. 2 und 665 Abs. 2
ZGB hinweist, kann hier dahingestellt bleiben, weil mit der Widerklage
nur die Verurteilung Siegenthalers zur Gewährung eines Notwegrechts, nicht
unmittelbar dessen gerichtliche Zusprechung verlangt wird; vgl. zu dieser
- umstrittenen - Frage LEEMANN, 2. Aufl., N. 41 zu Art. 694 ZGB, HAAB
N. 20/21 und 40 zu Art. 694 - 696 ZGB, sowie LIVER N. 33 zu Art. 731 ZGB;
zur Frage der gerichtlichen Zusprechung dinglicher Rechte vgl. ferner
BGE 78 I 446 Erw. 3 und 85 II 486 Erw. 5). Ein Grundeigentümer,
der gemäss Entscheid der zuständigen Behörde zur Eintragung eines
Notwegrechtes Hand bieten muss, hat jedoch wenigstens solange, als der
obsiegende Kläger die Leistung der von ihm geschuldeten Entschädigung
nicht ungebührlich verzögert, kein schutzwürdiges Interesse daran, dass
dem Kläger die Benützung des in Frage stehenden Weges bis zur Eintragung
des Wegrechts im Grundbuch verboten werde. Deshalb hat im vorliegenden
Falle der erstinstanzliche Richter, der - im Gegensatz zur Vorinstanz -
den Mattenweg als Notweg bestimmte, von seinem Standpunkt aus mit Recht
nur die Benützung des Karrwegs verboten.

Erwägung 3

    3.- Aus Ziffer 9 der Berufungsbegründung ist nun freilich zu
schliessen, dass Baumgartner das Verbot bezüglich des Mattenwegs
nicht bloss für den Fall der Gewährung eines Notwegrechts über diesen
Weg, sondern auch für den Fall der Bestätigung des vorinstanzlichen
Entscheids über sein Widerklagebegehren aufgehoben wissen möchte. Zur
Begründung hiefür macht er geltend, dass ihm, falls dieses Verbot
neben dem bereits in Rechtskraft erwachsenen Verbot der Benützung des
Karrwegs bestehen bliebe, bis zur Eintragung des ihm von der Vorinstanz
zugebilligten Notwegrechts über diesen Weg überhaupt kein Recht zustünde,
das Grundstück Siegenthalers zu betreten. Daran würde aber die blosse
Aufhebung des Verbots bezüglich des Mattenwegs nichts ändern. Zudem ist
dieses Verbot materiell gerechtfertigt, wenn Baumgartner nur auf ein
Wegrecht am Karrweg Anspruch erheben kann. Anderseits wird das Verbot
der Benützung des Karrwegs trotz formeller Rechtskraft im Falle der
Bestätigung des angefochtenen Urteils ohne weiteres hinfällig. Siegenthaler
wäre der Rechtsschutz zu versagen, wenn er Baumgartner unter Berufung
auf dieses Verbot verwehren wollte, den Karrweg vor der Eintragung des
Notwegrechts im Grundbuch zu benützen. Indessen macht Siegenthaler dem
Berufungskläger die Benützung des Karrwegs (den er ihm unentgeltlich als
Notweg zur Verfügung stellen will) gar nicht mehr streitig. Damit hat
er für den Fall der Bestätigung des angefochtenen Urteils implicite auf
das bezügliche Verbot verzichtet.

Erwägung 4

    4.- Nach Art. 694 Abs. 1 ZGB hat Anspruch auf einen Notweg, wer von
seinem Grundstück aus keinen genügenden Weg auf die öffentliche Strasse
hat. Daraus folgt, dass der Anspruch nur auf Einräumung eines "genügenden"
Weges zur öffentlichen Strasse geht. Bei der Wahl zwischen mehrern Wegen,
die nach Lage und Beschaffenheit geeignet sind, dem Berechtigten einen
genügenden Zugang zur öffentlichen Strasse zu vermitteln, ist also nicht in
erster Linie darauf zu achten, welcher dieser Wege für den Berechtigten
der günstigste sei, sondern darauf, welche Lösung dem Belasteten am
wenigsten schade. Dass von mehrern geeigneten Wegen der bequemste als
Notweg bezeichnet werde, kann der Berechtigte nur verlangen, wenn dem
keine schutzwürdigen Interessen des Belasteten entgegenstehen. Nichts
anderes kann gemeint sein, wenn Art. 694 Abs. 3 ZGB vorschreibt, bei der
Festlegung des Notwegs sei auf die beidseitigen Interessen Rücksicht
zu nehmen. Entsprechend der Natur und dem Zwecke der Einrichtung des
Notwegs muss sich eben der Belastete eine Beschränkung seines Eigentums
nur insoweit gefallen lassen, als dies erforderlich ist, um die "Not" des
Berechtigten zu beheben. Wo dies auf verschiedene Weise geschehen kann,
muss daher vor allem massgebend sein, welcher Wegverlauf die Interessen des
Belasteten am wenigsten beeinträchtigt. Nur wenn es vom Gesichtspunkt der
berechtigten Interessen des Belasteten aus gleichgültig ist, welche Lösung
gewählt werde, dürfen die Interessen des Berechtigten den Ausschlag geben.

    Im vorliegenden Fall ist nach den tatsächlichen Feststellungen
der Vorinstanz der Karrweg für Baumgartner zwar weniger günstig als
der Mattenweg, aber "nicht etwa ungeeignet." Vielmehr vermag er den
Bedürfnissen Baumgartners "durchaus zu dienen." Die seine Benützung
erschwerenden Unebenheiten und Engpässe können, wie die Vorinstanz weiter
feststellt, mit geringen Kosten behoben werden. Der Mattenweg beansprucht
das Grundstück Siegenthalers auf eine längere Strecke als der Karrweg (420
statt 260 m) und führt über besseres Land. Die Benützung des Karrwegs, über
den bereits Frau Wüthrich ein Wegrecht besitzt, verursacht Siegenthaler
keinen Nachteil. Würde Baumgartner dagegen die Benützung des Mattenwegs
gestattet, so wäre Siegenthaler in der Freiheit der Bewirtschaftung seines
Landes eingeschränkt und bestünde die Gefahr, dass dieser Weg namentlich
bei schlechtem Wetter in seinem obern Teil beschädigt würde. Zudem
führt der Mattenweg unmittelbar am Gehöft Siegenthalers vorbei, mit dem
Baumgartner im Streite lebt, wogegen der Karrweg mehr als 200 m von diesem
Haus entfernt bleibt. Angesichts dieser Umstände entspricht es durchaus
dem dargelegten Sinne von Art. 694 ZGB, dass die Vorinstanz Baumgartner
auf den Karrweg verwiesen hat.

Erwägung 5

    5.- Baumgartner will freilich die Annahme der Vorinstanz, dass
der Karrweg für ihn brauchbar sei, nicht gelten lassen. Was er gegen
diese Annahme einwendet, ist jedoch zur Hauptsache eine Kritik an den
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, die das Bundesgericht im
Berufungsverfahren nicht hören kann. Anders verhält es sich nur mit seinem
Hinweis darauf, dass er, um vom Grundstück Nr. 544 aus die öffentliche
Strasse zu erreichen, im Falle der Verweisung auf den Karrweg ausser dem
Grundstück Siegenthalers (Ober-Fankhaus) auch noch das Grundstück der
Frau Wüthrich (Vorder-Fankhaus) queren müsse, wozu er kein Recht habe. Er
macht geltend, es sei damit zu rechnen, dass Frau Wüthrich von ihm eine
Entschädigung verlangen oder ihm Schwierigkeiten machen werde. Indessen
hat die Vorinstanz festgestellt, Frau Wüthrich sei (um ihre Liegenschaft
"Wassergraben" zu erreichen) ihrerseits darauf angewiesen, über das
Baumgartner gehörende Grundstück Nr. 544 zu gehen, wozu sie ebenfalls kein
Recht habe; daher sei sie gezwungen, Baumgartner über ihr Land fahren zu
lassen. Auf diese durch keinerlei Recht gewährleistete Möglichkeit der
Benützung des Grundstücks von Frau Wüthrich dürfte bei der Festsetzung des
Notwegs dann keine Rücksicht genommen werden, wenn die einmal erfolgte
Festsetzung unabänderlich wäre oder angenommen werden müsste, der Weg
über das Land der Frau Wüthrich stehe Baumgartner nur vorübergehend
offen. Weder das eine noch das andere ist jedoch der Fall. Es bestehen
keine Anhaltspunkte dafür, dass die Sach- und Interessenlage, die Frau
Wüthrich zur Gewährung des Durchgangs zwingt, sich in absehbarer Zeit
ändern könnte. Sollte dies aber dennoch einmal geschehen, so könnte
Baumgartner (oder sein Rechtsnachfolger) ein neues Verfahren einleiten,
in welchem auf Grund der neuen Lage zu entscheiden wäre, ob dem Eigentümer
des Grundstücks Nr. 544 auch ein Notwegrecht über das Grundstück von Frau
Wüthrich zu gewähren oder Siegenthaler (bzw. dessen Rechtsnachfolger)
zu verpflichten sei, ihm einen unmittelbar auf die öffentliche Strasse
führenden Weg zu öffnen.

    Dass Frau Wüthrich und ihr Pächter sich den wünschbaren Verbesserungen
des Karrwegs auf ihrem Lande widersetzen, wie Baumgartner schliesslich
noch behauptet, lässt sich den zum Beleg hiefür angerufenen Aktenstellen
nicht entnehmen. Es ergibt sich daraus nur, dass diese Personen den Weg
nicht selbst verbessern wollen. Damit ist aber nicht gesagt, dass sie
Baumgartner daran hindern würden, es auf eigene Kosten zu tun.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil der I. Zivilkammer des
Appellationshofes des Kantons Bern vom 9. Juli 1958 bestätigt.