Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 II 206



86 II 206

35. Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Februer 1960 i. S. B. gegen
P. und B. Regeste

    Anfechtung der Ehelichkeit (Art. 253 ff. ZGB).

    1.  Arglistige Verleitung zur Anerkennung der Ehelichkeit. Art. 257
Abs. 1 ZGB. Hinsichtlich der dem Ehemann anlässlich der Anerkennung der
Ehelichkeit zugesicherten Befreiung von der väterlichen Unterhaltspflicht
fällt grundsätzlich nur eine Arglist des für das Kind handelnden
Beistandes oder der Vormundschaftsbehörde in Betracht, eine Arglist der
Mutter dagegen nur dann, wenn sie dem für das Kind handelndenBeistand
oder vormundschaftlichen Organ bekannt war (Art. 28 OR, der auch auf
Leistungsverträge des Familienrechts anzuwenden ist). (Erw. 1).

    2.  Die Zuständigkeit zu Anordnungen im Sinne von Art. 282 ZGB
bestimmt sich nach Art. 376 ZGB. Die Genehmigung eines Vertrages über die
elterliche Unterhaltspflicht kann nicht gültig erklärt werden durch die
hiezu offensichtlich unzuständige Vormundschaftsbehörde des ausserhalb
des Wohnsitzkantons gelegenen Heimatortes. - Einem vorbehaltlosen Verzicht
auf väterliche Unterhaltsleistungen darf die Vormundschaftsbehörde nicht
zustimmen. - Wo befindet sich der Wohnsitz eines innert 300 Tagen nach
der Scheidung seiner Eltern geborenen Kindes, über dessen Zuweisung das
Scheidungsurteil nicht befunden hat? Frage offen gelassen. - Bedeutung
des Verzichts der Mutter auf Beiträge des Vaters für das Kind. (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Die Ehe B.-P. wurde vom Amtsgericht Solothurn-Lebern am
23. Mai 1958 geschieden; am 27. des gleichen Monats trat das Urteil im
Scheidungspunkt in Rechtskraft. Am 23. Dezember 1958 gebar die schon
während des Prozesses zu ihren Eltern nach Lenzburg gezogene geschiedene
Ehefrau das Kind Anton, das gemäss Art. 252 ZGB als eheliches Kind auf
den Namen B. eingetragen wurde.

    B.- Am 17. Februar 1959 schlossen die geschiedenen Ehegatten unter
Mitwirkung ihrer Anwälte eine Vereinbarung, wonach 1. die Ehefrau
anerkannte, dass das Kind Anton nicht vom Ehemann stamme; 2. sie "für
sich und das Kind vorbehaltlos und zeitlich unbeschränkt" auf irgendwelche
Unterhaltsleistungen des Klägers für das Kind verzichtete; 3. der Ehe mann
auf gerichtliche Anfechtung der Ehelichkeit des Kindes verzichtete, so
dass dieses weiterhin mit seinem Namen eingetragen bleibe; 4. die Ehefrau
es übernahm, zu dieser Vereinbarung die Genehmigung "der zuständigen
Vormundschaftsbehörden von Alberswil/LU und Lenzburg/AG" einzuholen.

    C.- Die Vormundschaftsbehörde des luzernischen Heimatortes des
geschiedenen Ehemannes, Alberswil, erteilte die nachgesuchte Genehmigung;
die Vormundschaftsbehörde des Wohnortes der geschiedenen Ehefrau,
Lenzburg, verweigerte sie. An die Behörde des fortdauernden Wohnsitzes
des geschiedenen Ehemannes, Solothurn, hatte man sich nicht gewendet.

    D.- Am 20. März 1959 erhob der Ehemann beim Gericht seines Heimatortes
Klage auf Anfechtung der Ehelichkeit des Kindes Anton. Die Beklagten
widersetzten sich der Klage mit Berufung auf die Vereinbarung vom
17. Februar 1959; im übrigen lasse sich Unmöglichkeit der Vaterschaft
des Klägers angesichts der Beziehungen der Eheleute nicht nachweisen. In
der Replikschrift erklärte der Kläger, er habe diese Vereinbarung "in
Unwissenheit und Unkenntnis der Rechtslage" unterzeichnet, und in der
gleichen Lage habe sich auch die heimatliche Vormundschaftsbehörde bei
Erteilung ihrer Zustimmung befunden. Dem Kinde hätte ein Beistand gegeben
werden und die zuständige Vormundschaftsbehörde des Wohnsitzes zustimmen
müssen. Die Vereinbarung sei gesetzwidrig. Man habe ihn irregeführt;
immerhin sei aus der Vereinbarung ersichtlich, welche Machenschaften mit
ihm getrieben worden seien, und wie bestimmt die Erstbeklagte bestätigt
habe, dass das Kind nicht von ihm stamme.

    E.- Beide kantonalen Instanzen haben die Klage abgewiesen, das
Obergericht des Kantons Luzern mit Urteil vom 24. November 1959.

    F.- Mit vorliegender Berufung hält der Kläger an seinem Begehren fest.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der binnen der Frist des Art. 253 Abs. 1 ZGB erhobenen Klage steht
der Klageverzicht laut der Vereinbarung vom 17. Februar 1959 entgegen,
der mindestens eine stillschweigende Anerkennung der Ehelichkeit des
Kindes enthält. Infolgedessen wäre die Klage nur zulässig, wenn dargetan
würde, dass der Kläger arglistig zur Anerkennung bewogen worden sei
(Art. 257 Abs. 1 ZGB). Die in der Replikschrift vor Amtsgericht
aufgestellte Behauptung, er sei irregeführt worden. entbehrt jedoch
der zureichenden Begründung, und für ergänzende Vorbringen in diesem
Punkt ist den Akten nichts zu entnehmen. Jedenfalls ist dem Kläger
nicht wahre eheliche Abstammung des Kindes Anton vorgespiegelt
worden. Vielmehr hat die Erstbeklagte in der in Frage stehenden
Vereinbarung unumwunden zugegeben, das Kind aus ehebrecherischem
Verkehr empfangen zu haben (woraus freilich nicht zu schliessen ist,
der Kläger vermöchte Unmöglichkeit seiner Vaterschaft nachzuweisen). Die
Täuschung müsste sich somit auf die Rechtsgültigkeit des Verzichtes des
Kindes auf jegliche Unterhaltsleistungen des Klägers auch in der Zukunft
beziehen. Allein in dieser Hinsicht ist als andere Vertragspartei nicht
die Erstbeklagte zu betrachten, die in dieser Verzichtsfrage das Kind
nicht vertreten konnte (BGE 69 II 69/70), ganz abgesehen davon, dass
das Scheidungsgericht noch nicht über die Zuweisung dieses nachgeborenen
Kindes entschieden hat und der Mutter daher jedenfalls vorderhand nicht
die elterliche Gewalt zusteht. Die Täuschung müsste somit entweder
von der dem Verzicht für das Kind zustimmenden Vormundschaftsbehörde
von Alberswil begangen worden sein, was keineswegs behauptet wird
(diese Behörde soll ja nach den Vorbringen des Klägers wie er selbst
"in Unwissenheit und Unkenntnis der Rechtslage" gehandelt haben), oder
diese Behörde müsste zur Zeit des Vertragsabschlusses, somit als sie
der Vereinbarung namens des Kindes beitrat, eine von der Erstbeklagten
begangene Täuschung gekannt haben oder haben kennen müssen (nach der
auch auf familienrechtliche Leistungsverträge anwendbaren Vorschrift
von Art. 28 OR). Für einen solchen Sachverhalt liegt jedoch nichts vor,
und es ist auch gar nicht nachgewiesen, dass die Erstbeklagte den Kläger
(und dessen Anwalt) über die Rechtsgültigkeit des Verzichtes des Kindes,
den sie vereinbarungsgemäss den Vormundschaftsbehörden von Alberswil und
von Lenzburg unterbreitete, absichtlich getäuscht habe.

Erwägung 2

    2.- Nach alldem muss die Klage, ohne dass sie im übrigen materiell
überprüft werden könnte, an der Anerkennung der Ehelichkeit scheitern. Der
Umstand, dass die Vormundschaftsbehörde von Lenzburg sich nicht bereit
fand, den Kläger von seiner väterlichen Unterhaltspflicht zu befreien,
vermag die Rechtswirksamkeit jener Anerkennung nicht in Frage zu stellen.

    Dies freilich nicht aus dem von der Vorinstanz angenommenen Grunde,
dass die Vormundschaftsbehörde des Wohnsitzes gar nicht habe zuzustimmen
brauchen, der Verzicht für das Kind vielmehr gültig durch die heimatliche
Vormundschaftsbehörde ausgesprochen worden sei. Das Vorgehen dieser
Behörde ist zwar nicht deshalb zu beanstanden, weil sie von der Ernennung
eines Beistandes absah und die Vertretungshandlung selber vornahm;
dies war an sich zulässig (Erläuterungen zum VE des ZGB, Band I S. 300
der zweiten Ausgabe; 69 I 221). Allein es gebrach ihr offensichtlich
an der Zuständigkeit, die gesetzliche Vertretung für diesen in einem
andern als dem Heimatkanton wohnenden Bürger auszuüben (Art. 376 Abs. 1
und 2 ZGB). Über diesen Mangel kann entgegen der (unter anderem auf BGE
39 I 608, 58 I 290 und 59 I 211 gestützten) Ansicht der Vorinstanz nicht
hinweggesehen werden. In Alberswil wird nicht bereits über das Kind Anton
B. eine Vormundschaft geführt, die auch bei längerem auswärtigem Aufenthalt
auf einen dortigen Wohnsitz könnte schliessen lassen. Damit erweist sich
der Hinweis auf BGE 39 I 608 und 59 I 211 als unstichhaltig. Im übrigen
hat nicht die Vormundschaftsbehörde von Alberswil, sondern diejenige von
Lenzburg die gesetzliche Vertretung des Knaben für den vorliegenden Prozess
angeordnet, und diese Vertretung hat freilich nach BGE 55 II 325 Erw. 2
und 58 I 290 als wirksam zu gelten, gleichgültig ob sich der Wohnsitz
dieses im Scheidungsurteil nicht berücksichtigten nachgeborenen Kindes
am Wohnsitz der Mutter, bei der es lebt, befinde (eben in Lenzburg),
oder ob es den Wohnsitz des (in Solothurn gebliebenen) Klägers teile,
wie dies die Vorinstanz mit Hinweis auf EGGER, N. 5 zu Art. 25 ZGB, und
auf einen Entscheid der bernischen Justizdirektion, SJZ 21 S. 256 Nr. 134,
annimmt. Was aber den Verzicht des Kindes auf jegliche Unterhaltsleistungen
des Klägers betrifft, so hat sich die Vormundschaftsbehörde von Alberswil
dabei gar nicht etwa als Behörde des Wohnsitzes betrachtet. Sie war über
die Wohnsitzverhältnisse der geschiedenen Eltern unterrichtet, zumal die
von ihr "eingesehene und geprüfte" Vereinbarung darüber genaue Angaben
enthielt und am Schlusse von "Lenzburg/Solothurn" datiert war. Somit
konnte sie sich nicht ernstlich für zuständig halten und hat wohl die
Zustimmung nur im Hinblick darauf erteilt, dass ferner die Einholung
der Genehmigung der (wirklichen oder vermeintlichen) Wohnsitzbehörde
von Lenzburg vorgesehen war. Wie dem aber auch sei, kann die von der
offensichtlich unzuständigen Vormundschaftsbehörde erteilte Zustimmung
für die Gerichte ebensowenig verbindlich sein wie für die zuständige
Vormundschaftsbehörde des Wohnsitzes, also - was hier offen bleiben kann -
von Lenzburg oder Solothurn. Übrigens verstösst ein vorbehaltloser Verzicht
auf Unterhaltsleistungen des Vaters derart gegen die Fürsorgepflicht
der Vormundschaftsbehörde, dass er schlechterdings nicht ausgesprochen
bzw. genehmigt werden durfte (BGE 69 II 70 Erw. 3). Es ist fraglich,
ob dieser Verzicht nicht als nichtig zu betrachten wäre, selbst wenn ihn
die zuständige Behörde des Wohnsitzes genehmigt hätte.

    Die Ungültigkeit des Verzichtes, soweit er nach der Vereinbarung
vom 17. Februar 1959 für das Kind selbst mit behördlicher Genehmigung
verbindlich werden sollte, lässt indessen die Anerkennung der Ehelichkeit
unberührt. Diese Anerkennung wurde unbedingt ausgesprochen und nicht an
die Bedingung geknüpft, dass der Verzicht auf Unterhaltsleistungen des
Klägers für das Kind von der Vormundschaftsbehörde des Wohnsitzes genehmigt
werde. Im übrigen ist dieser Verzicht, soweit er die Erstbeklagte betrifft,
gültig und für den Kläger nicht bedeutungslos. Die Mutter des Kindes ist
danach verpflichtet, für dessen ganzen Lebensaufwand aus eigenen Mitteln
(die ihr bei den heutigen Verhältnissen anscheinend in ausreichendem Masse
zur Verfügung stehen) aufzukommen. Solange sie diese Verpflichtung zu
erfüllen vermag, wird der Kläger tatsächlich an den Unterhalt des Kindes
nichts beizutragen haben. Sollte das Kind allerdings während der Dauer
seiner Unterhaltsberechtigung die Mutter verlieren oder diese einmal
nicht mehr imstande sein, für es in vollem Masse zu sorgen, so wird die
gesetzliche Unterhaltspflicht des Vaters zur Geltung kommen müssen.

    Dieser gegebenenfalls unabweislich sich ergebenden Pflicht konnte
sich der Kläger gar nicht zum vornherein entschlagen.

    Im übrigen steht die Ordnung der Elternrechte an dem nach der
Scheidung geborenen Kinde noch aus. Das Scheidungsgericht wird sie in
einem Nachverfahren vorzunehmen haben.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des
Kantons Luzern vom 24. November 1959 bestätigt.