Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 II 192



86 II 192

31. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Juli 1960 i. S. Arn
gegen Arn. Regeste

    Art. 55 Abs. 1 lit. b OG. Anforderungen an den Berufungsantrag.

Sachverhalt

    Zwei Söhne der Eheleute Ernst und Elsa Arn kamen durch Zusammenstoss
mit dem Fuhrwerk des Hans Arn ums Leben. Im Schadenersatzprozess der
Eheleute Arn und ihrer Tochter gegen Hans Arn, in dem die Kläger das
Begehren stellten, "der Beklagte sei schuldig und zu verurteilen, den
Klägern einen richterlich zu bestimmenden Betrag von über Fr. 8000.--
zu zahlen", sprach der Appellationshof des Kantons Bern den Klägern zur
Deckung der Hälfte des Sachschadens und als Genugtuung Fr. 16'688.--
nebst Zins zu. Die Kläger erklärten die Berufung mit dem Hauptantrag:
"In Abänderung des Urteils des Appellationshofes des Kantons Bern sei den
Klägern zuzusprechen: a) als Schadenersatz ein Betrag von Fr. 4032.--
plus Zins zu 5% seit 11.9.1956; b) als Versorgerschaden ein Betrag von
über Fr. 8000.-- an die Kläger Ernst Arn und Elsa Arn-Fink, plus Zins zu
5% seit 11.9.1956." In der mündlichen Verhandlung erhöhten sie die unter
lit. b genannte Summe auf "mindestens Fr. 15'000.--".

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Die Berufungsschrift hat unter anderem "die genaue Angabe,
welche Punkte des Entscheides angefochten und welche Abänderungen
beantragt werden", zu enthalten (Art. 55 Abs. 1 lit. b OG). Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtes verlangt diese Bestimmung nicht, dass
die beantragten Abänderungen aus dem Wortlaut des Rechtsbegehrens selbst
hervorgehen. Es genügt, wenn in Verbindung mit der Berufungsbegründung
oder dem angefochtenen Urteil ohne weiteres ersichtlich ist, in welchem
Sinne das angefochtene Urteil nach dem Willen des Berufungsklägers
abgeändert werden soll. Das trifft z.B. zu, wenn dem Bundesgericht die
"Gutheissung der Klage" beantragt wird und aus der Berufungsbegründung
oder dem angefochtenen Urteil die genauen Klagebegehren ohne weiteres
ersehen werden können (BGE 78 II 448, 80 II 245, 81 II 251). Dagegen
entspricht ein solcher Antrag den Anforderungen von Art. 55 Abs. 1
lit. b OG dann nicht, wenn auf die Akten des kantonalen Verfahrens
zurückgegriffen werden muss, um die Klagebegehren zu ermitteln; denn diese
Norm bestimmt ausdrücklich, der blosse Hinweis auf im kantonalen Verfahren
gestellte Anträge genüge nicht. Unzureichend ist ein Antrag auch dann,
wenn er die Bestimmung des Urteilsspruches dem richterlichen Ermessen
überlässt, z.B. wenn er Verurteilung zu "angemessenen Leistungen" (BGE
75 II 334), zu "den gesetzlichen Vaterschaftsleistungen" (BGE 79 II 255)
oder zu "einer gerichtlich zu bestimmenden, Fr. 8000.-- übersteigenden
Invaliditätsentschädigung" (Entscheid der II. Zivilabteilung vom 9. April
1960 i.S. Müller gegen Waadtländische Versicherung auf Gegenseitigkeit)
verlangt. Ob das kantonale Prozessrecht solche Anträge zulässt, ist
unerheblich. Nicht dieses, sondern das eidgenössische Recht bestimmt,
welchen Anforderungen die Anträge der Berufungsschrift entsprechen müssen.

    Dem Berufungsbegehren b kann nur entnommen werden, dass die Kläger
als Ersatz für Versorgerschaden einen Betrag "von über Fr. 8000.--"
verlangen. Das kann irgendwelcher über dieser Zahl liegende Betrag
sein. Auch die Berufungsbegründung gibt keinen näheren Aufschluss,
wieviel die Kläger begehren. Nach dem Parteivortrag in der mündlichen
Verhandlung besteht die Ungewissheit weiter, obschon die Kläger nunmehr
auf "mindestens Fr. 15'000.--" ausgehen. Auf eine Verdeutlichung in diesem
Zeitpunkt käme übrigens nichts an. Schon der Antrag der Berufungsschrift,
nicht erst der in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag muss Art. 55
Abs. 1 lit. b OG entsprechen. Art. 55 Abs. 2 OG, der die Berichtigung
einer mangelhaften Berufungsschrift ermöglicht, bezieht sich ausdrücklich
nur auf deren Begründung (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG). Von der Befolgung
von Art. 55 Abs. 1 lit. b hängt die Gültigkeit der Berufung ab.

    Lässt das Berufungsbegehren das Bundesgericht im Ungewissen, welchen
Betrag die Kläger zur Deckung des behaupteten Versorgerschadens verlangen,
so kann darauf nicht eingetreten werden, ohne dass etwas darauf ankäme,
wie hoch sie diesen Schaden im kantonalen Verfahren bezifferten und ob der
Betrag aus der Ausfertigung des angefochtenen Urteils zu ersehen sei. Der
Fall unterscheidet sich von den in BGE 78 II 448, 80 II 245 und 81 II
251 veröffentlichten Fällen, wo die Berufungskläger genau sagten, was
sie wollten, wenn auch nur in der Form einer Verweisung auf die Begehren
der Klage. Die Eheleute Arn verweisen nicht auf das Begehren der Klage -
das übrigens ebenso unbestimmt gefasst war wie das Berufungsbegehren b -,
sondern sie stellen die Bestimmung des zuzusprechenden Betrages in das
Ermessen des Bundesgerichts.

    Freilich kann der Ausfertigung des angefochtenen Urteils entnommen
werden, dass sie ihren Versorgerschaden im kantonalen Verfahren auf
Fr. 60'000.-- bezifferten. Allein selbst wenn man das Berufungsbegehren
b entgegen seinem Wortlaut als Verweisung auf einen anderswo gestellten
Antrag auslegen wollte, wäre keineswegs im Sinne der Rechtsprechung "ohne
weiteres" klar, dass die Kläger auch im Berufungsverfahren als Ersatz für
Versorgerschaden Fr. 60'000.-- oder einen genau bestimmten Bruchteil davon
verlangen. Mit dem Berufungsbegehren a beanspruchen sie laut Begründung
Ersatz für 3/4 der vom Appellationshof auf Fr. 5377.30 berechneten Summe
aus den Kosten der Beerdigung und des Grabsteins und aus dem Sachschaden,
und anschliessend daran erklären sie, "dasselbe" müsse bezüglich des
Versorgerschadens gelten, womit sie offenbar sagen wollen, auch diesen
habe der Beklagte nur zu 3/4 zu ersetzen. Sie führen jedoch nirgends aus,
sie hielten an der im kantonalen Verfahren vorgenommenen Berechnung des
Versorgerschadens fest. Am Schlusse der Berufungsschrift erklären sie
gegenteils: "Bezüglich des Quantitativen wird eine Verbindungsrente
(PICCARD S. 85) anwendbar sein. Im übrigen wird Höhe der pro Jahr
zu errechnenden Unterstützung und Höhe der Aversalsumme ausdrücklich
ins richterliche Ermessen gestellt, wobei dieser Betrag Fr. 8'000.--
zweifellos übersteigt." Es wäre gewagt, entgegen dieser deutlichen
Erklärung anzunehmen, die Kläger berechneten den Versorgerschaden
nach wie vor auf Fr. 60'000.-- und sie verlangten dafür zu 3/4 Ersatz
(Fr. 45'000.--). Es kann somit keine Rede davon sein, dass sich aus der
Berufungsbegründung in Verbindung mit dem angefochtenen Urteil "ohne
weiteres" ergebe, was die Kläger beantragen, d.h. dass in die Augen
springe, was sie wollen. Art. 55 Abs. 1 lit. b OG will das Bundesgericht
der Pflicht entheben, ein Rätsel zu lösen, wie die Kläger es durch das
Berufungsbegehren b aufgeben. Auf dieses Begehren kann daher auch bei
nachsichtiger Würdigung nicht eingetreten werden.