Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 86 III 36



86 III 36

13. Entscheid vom 10. Mai 1960 i.S. Zürcher. Regeste

    Retention (Art. 283 SchKG). Prüfungsbefugnis der Betreibungsbehörden
mit Bezug auf die Frage, ob das vom Vermieter geltend gemachte
Retentionsrecht nach Art. 272 OR bestehe. Zur Sicherung von
Ersatzansprüchen aus Art. 269 OR oder von Schadenersatzansprüchen wegen
Vertragsverletzung darf ein Retentionsverzeichnis nicht aufgenommen werden.

Sachverhalt

    Hans Zürcher mietete von Werner Ammann am 1. Februar 1959 die dem
Betrieb der Wirtschaft Schanz in Waldenburg dienenden Räumlichkeiten für
fünf Jahre vom 15. Februar 1959 an. Der jährliche Mietzins von Fr. 3500.--
war in vierteljährlichen Raten, die jeweilen am Ende eines Kalenderquartals
fällig wurden, vorauszubezahlen.

    Nachdem Zürcher dem Vermieter erklärt hatte, er löse das Mietverhältnis
auf den 31. März 1960 auf, leitete dieser gegen ihn beim Bezirksgericht
Waldenburg einen Prozess ein, in welchem die Parteien am 16. November
1959 den folgenden Teilvergleich schlossen:

    "1. - Die Parteien lassen die Frage offen, ob wichtige Gründe im
Sinn von Art. 269 OR für eine vorzeitige Auflösung des Mietverhältnisses
bestehen, und kommen überein, dass der Beklagte bis zum 31. März 1960
die Wirtschaft Schanz betreibt und bis dann die Verpflichtungen gemäss
Mietvertrag erfüllt, wobei indessen der Mietzins monatlich im voraus
(und nicht vierteljährlich im voraus) zu zahlen ist.

Erwägung 2

    2.- Der Kläger behält sich sämtliche Forderungen gemäss OR 269 aus
der vorzeitigen Auflösung des Mietverhältnisses gegen den Beklagten vor."

    Am 24. März 1960 stellte Ammann beim Betreibungsamt Waldenburg das
Begehren um Aufnahme einer Retentionsurkunde. Als "Forderungssumme" war
in diesem Begehren neben fälligem Mietzins vom 15. Februar bis 31. März
1960 u.a. angegeben: "1 Halbjahreszins gemäss OR 269, vgl. Akten beim
Bezirksgericht Waldenburg, Fr. 1750.--" Das Betreibungsamt Waldenburg
führte in der Retentionsurrkunde vom 28. März 1960 statt dieser Forderung
den laufenden Mietzins vom 1. April bis 30. Juni 1960 im Betrage
von Fr. 875.-- auf mit dem Bemerken: "Gemäss Art. 272 OR besteht das
Retentionsrecht nur für einen verfallenen Jahreszins und den laufenden
Halbjahreszins."

    Der Schuldner führte gegen den Retentionsvollzug Beschwerde, mit der er
schliesslich nur noch verlangte, die Retention sei insoweit aufzuheben,
als sie sich auf den Betrag von Fr. 875.-- beziehe. Den abweisenden
Entscheid der kantonalen Aufsichtsbehörde vom 20. April 1960 hat er an
das Bundesgericht weitergezogen.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

    Wie die Vorinstanz mit Recht angenommen hat, ist das
Betreibungsamt nur dann berechtigt und verpflichtet, die Aufnahme eines
Retentionsverzeichnisses aus materiellen Gründen abzulehnen, wenn sich auf
Grund der Akten unzweifelhaft ergibt, dass das beanspruchte Retentionsrecht
nicht besteht (BGE 75 III 31/32 mit Hinweisen; 79 III 77, 80 III 131).

    Dass diese Voraussetzung hinsichtlich des Retentionsrechts für den
streitigen Betrag von Fr. 875.-- zutreffe, wird im angefochtenen Entscheid
mit der Begründung verneint, es sei zwar möglich, dass nach dem Vergleich
vom 16. November 1959 das Mietverhältnis am 31. März 1960 zu Ende
gegangen sei und der Vermieter sich lediglich eine Schadenersatzforderung
vorbehalten habe, für die gemäss BGE 61 II 264 das Retentionsrecht nicht
bestehe. Es sei aber auch möglich, dass der Vergleich nur den Sinn gehabt
habe, hinsichtlich des Auszugs des Mieters und der Weiterführung der
Wirtschaft im Interesse der Erhaltung der Kundschaft und des Patentes
eine klare Situation zu schaffen, während die Frage der Auflösung des
Vertrags dem Entscheid des Richters vorbehalten geblieben sei. Damit
will die Vorinstanz offenbar sagen, es sei nicht ausgeschlossen, dass es
sich beim streitigen Betrag um Mietzins für die Zeit vom 1. April 1960
an handle, für den der Vermieter das Retentionsrecht habe.

    Der Vermieter hat jedoch in seinem Retentionsbegehren die
Forderung, die er neben dem fälligen Mietzins, dem Wasserzins und
der Instandstellungsentschädigung gemäss Art. 17 des Mietvertrags
geltend machte, selber ausdrücklich als "Halbjahreszins gemäss OR
269" bezeichnet, was nichts anderes bedeuten kann, als dass er das
Retentionsrecht für die Forderung auf Bezahlung von (mindestens) einem
halben Jahreszins beanspruchte, die Art. 269 Abs. 2 OR dem Vermieter
gewährt, wenn der Mieter ein für ein Jahr oder längere Zeit abgeschlossenes
Mietverhältnis aus wichtigen Gründen vorzeitig auflöst. Diese eindeutige
Qualifizierung der streitigen Forderung durch den Vermieter selber ist
für die Betreibungsbehörden massgebend. Sie haben nicht zu prüfen, ob
der Vermieter den in Frage stehenden Betrag oder einen Teil davon bei
der gegebenen Aktenlage allenfalls auch unter einem andern Titel hätte
fordern können.

    Für Forderungen aus Art. 269 Abs. 2 OR besteht das Retentionsrecht
im Sinne von Art. 272 OR unzweifelhaft nicht (BGE 61 II 264; vgl. auch
BGE 63 II 368 ff., insbesondere 379). Das Betreibungsamt hätte also den
Vollzug der Retention für den "Halbjahreszins gemäss OR 269" ohne weiteres
ablehnen sollen.

    Der angefochtene Entscheid müsste im übrigen sogar dann aufgehoben
werden, wenn der Vermieter das Retentionsrecht nicht für eine Forderung
aus Art. 269 Abs. 2 OR, sondern für laufenden Mietzins ab 1. April 1960
beansprucht hätte, wie ihn das Betreibungsamt in der Retentionsurkunde
anstelle jener Forderung aufgeführt hat. Aus dem Vergleich vom 16. November
1959 ergibt sich nämlich klar, dass das Mietverhältnis als solches
am 30. März 1960 endigen und der Vermieter nur bis dahin Anspruch auf
Mietzins haben sollte. Für den Fall, dass der Richter die offen gelassene
Frage des Vorliegens wichtiger Gründe für die vorzeitige Auflösung des
Vertrags bejahen sollte, behielt sich der Vermieter einzig die Ansprüche
aus Art. 269 OR vor. Für den (nicht besonders geregelten) gegenteiligen
Fall lässt ihm der Vergleich nur die Möglichkeit, anstelle des nicht
mehr geschuldeten Mietzinses Schadenersatz wegen Vertragsverletzung
zu verlangen.

Entscheid:

       Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:

    In Gutheissung des Rekurses werden der angefochtene Entscheid und
die Retention Nr. 1 des Betreibungsamtes Waldenburg, soweit sie für den
Betrag von Fr. 875.-- vollzogen wurde, aufgehoben.