Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 I 81



85 I 81

14. Urteil vom 29. April 1959 i.S. X. AG gegen Kanton Solothurn und
Rekurskommission des Kantons Solothurn. Regeste

    Nach dem Grundsatz der Gesetzmässigkeit der Verwaltung dürfen Steuern
und Abgaben nur beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen und
lediglich in dem vom Gesetz festgelegten Umfang erhoben werden. § 43 der
Vollziehungsverordnung vom 25. Oktober 1939 zum solothurnischen Gesetz
betreffend die direkten Staats- und Gemeindesteuern vom 24. September
1939 ist gesetzwidrig.

Sachverhalt

    A.- Nach § 28 des solothurnischen Gesetzes betreffend die direkten
Staats- und Gemeindesteuern (StG) vom 24. September 1939 zahlen die
Kapitalgesellschaften und die Genossenschaften eine Ertragssteuer und
eine Kapitalsteuer. Als steuerbares Kapital der Aktiengesellschaft wird
gemäss § 31 Ziff. 1 und 6 StG betrachtet "das einbezahlte Aktienkapital,
mit Einschluss der von der Gesellschaft ausgegebenen und ganz oder
zum Teil aus dem Reingewinn bestrittenen Gratisaktien, zuzüglich 1/4
des nicht einbezahlten Aktienkapitals ... überdies die Eigenkapital
darstellenden offenen und stillen Reserven, wobei für die Einschätzung
der Aktiven § 22 sinngemäss anzuwenden ist". Als steuerbarer Ertrag gilt
der Aktivsaldo der Gewinn- und Verlustrechnung nach Vornahme der in § 29
StG aufgeführten Berichtigungen. Die Ertragssteuer beträgt nach § 32 StG
1 bis 8% des Reinertrags "nach dessen Verhältnis zum steuerbaren Kapital
am Anfang des betreffenden Geschäftsjahres" (Verhältniskapital). § 43
der Vollziehungs-Verordnung (VVO) des Kantonsrats zum StG vom 25. Oktober
1939 führt dazu aus:

    "Zur Berechnung des Verhältnisses vom steuerbaren Ertrag zum
steuerbaren Kapital können nur solche stillen Reserven herangezogen werden,
die bei ihrer Bildung als Einkommen versteuert wurden."

    B.- Die X. AG in Grenchen wurde für die Steuerjahre 1955 und 1956 für
eine Reinertrag von Fr. 86'443.-- bzw. 51'056.-- zur Ertragssteuer und
für ein Kapital von Fr. 676'605.-- bzw. 664'123.-- zur Kapitalsteuer
herangezogen. Bei Festsetzung des Steuersatzes der Ertragssteuer
berücksichtigte die kantonale Steuerverwaltung nicht das gesamte steuerbare
Kapital; sie zog vielmehr entsprechend § 43 VVO davon jene stillen Reserven
ab, die bei ihrer Bildung nicht als Einkommen besteuert worden waren
(für 1955: Fr. 470'604.--, für 1956: Fr. 385'989.--). Auf diese Weise
errechnete sie unter Zugrundelegung eines Verhältniskapitals von Fr.
206'001.-- bzw. Fr. 278'134.-- einen Steuersatz von 8% für das Steuerjahr
1955 und einen solchen von 7,4% für das Steuerjahr 1956.

    Die X. AG erhob gegen die auf diesen Grundlagen beruhenden
Einschätzungen Einsprache und nach deren Abweisung Rekurs an die
kantonale Rekurskommission Solothurn. Sie machte geltend, § 43 VVO
widerspreche § 32 StG und sei daher, weil gesetzwidrig, nicht anwendbar;
nach der letztgenannten Bestimmung seien die gesamten stillen Reserven
bei Errechnung des Ertragssteuersatzes zu berücksichtigen; dieser sei
demgemäss für das Steuerjahr 1955 auf 5,6% und für das Steuerjahr 1956
auf 4,1% festzusetzen.

    Die kantonale Rekurskommission hat den Rekurs am 9. Dezember 1958
abgewiesen. Sie hat dazu ausgeführt, das StG vom 24. September 1939 habe
auf Grund einer vorausgegangenen Änderung des Art. 62 KV das System der
Besteuerung der Kapitalgesellschaften nach der Ertragsintensität oder
Kapitalrentabilität eingeführt. § 32 StG mache daher den Steuersatz der
Ertragssteuer von der Höhe des Kapitals abhängig, das zur Erzielung des
steuerbaren Ertrags gedient habe. Der Gewinn des letzten Geschäftsjahres,
der das Objekt der Ertragssteuer bildet, und die Gewinne der früheren
Geschäftsjahre, die in Reserve gestellt wurden und als solche einen
Bestandteil des für die Berechnung des Ertragssteuersatzes massgebenden
Eigenkapitals (Verhältniskapitals) darstellen, müssten notwendigerweise
nach den selben Grundsätzen ermittelt werden. Der steuerbare Gewinn
berechne sich nach den Vorschriften über die Ertragssteuer. Die bei
Berechnung des Ertragssteuersatzes zu berücksichtigenden Reserven
könnten deshalb nur aus steuerbaren oder versteuerten Gewinnen gebildet
werden. Diese Auffassung habe in § 43 VVO ihren Ausdruck gefunden. Der
Einwand der Rekurrentin, diese Bestimmung habe im Gesetze keine Stütze,
scheine zwar den Wortlaut des § 32 StG für sich zu haben. Wenn dieser
vom "steuerbaren Kapital" spreche, so liege es nahe, darunter das zu
verstehen, was § 31 StG unter diesem Titel umschreibe. Im allgemeinen
deckten sich denn auch die Begriffe des "steuerbaren Kapitals" in den
beiden Bestimmungen. Diese Übereinstimmung finde jedoch dort ihre Grenze,
wo ihre Annahme Unternehmungen mit grossen, bei ihrer Bildung nicht mit der
Ertragssteuer erfassten Reserven vor wirtschaftlich schwächeren Betrieben
bevorzugen würde. Zu berücksichtigen sei auch, dass die Kommission des
Kantonsrats zur Vorberatung des StG den regierungsrätlichen Entwurf zur
VVO, der im hier in Frage stehenden Punkt keine Änderungen erfahren habe,
bereits vor der Volksabstimmung über das StG behandelt habe. Dass § 43 VVO
der allgemeinen, schon bei Annahme des StG bestehenden Rechtsüberzeugung
entspreche, zeige sich schliesslich auch darin, dass diese Bestimmung
seit ihrem Inkrafttreten in ständiger Praxis unwidersprochen angewendet
worden sei.

    C.- Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung
des Art. 4 BV beantragt die X. AG, der Entscheid der kantonalen
Rekurskommission sei aufzuheben. Die Begründung der Beschwerde ist,
soweit wesentlich, aus den nachstehenden Erwägungen ersichtlich.

    D.- Die kantonale Rekurskommission beantragt die Abweisung der
Beschwerde. Die Steuerverwaltung des Kantons Solothurn hat sich diesem
Antrag angeschlossen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 62 Abs. 1 der solothurnischen KV sind "Bestimmungen über
direkte Besteuerung und indirekte Abgaben Sache der Gesetzgebung". Wird
dieser Verfassungssatz mit Art. 4, 17, 31 und 38 KV in Verbindung
gebracht, so ergibt sich, dass dem Regierungsrat und dem Kantonsrat auf
dem Gebiete des Steuerwesens kein Rechtsverordnungsrecht zusteht; § 109
StG ermächtigt den Kantonsrat denn auch seinerseits bloss zum Erlass der
"erforderlichen Vollziehungsverordnung". Aus Art. 62 Abs. 1 KV selber und
dem durch diese Bestimmung ausgeführten Grundsatz der Gesetzmässigkeit der
Verwaltung folgt sodann, dass Steuern und Abgaben nur beim Vorliegen der
gesetzlichen Voraussetzungen und lediglich in dem vom Gesetz festgelegten
Umfang erhoben werden dürfen (BGE 80 I 327 mit Verweisungen; vgl. auch
BGE 84 I 93 Erw. 2 und dort angeführte Urteile). Da sich das Ausmass der
Steuerbelastung insbesondere nach der Ausgestaltung der Progression und
der Art und Weise ihrer Berechnung bestimmt, müssen auch diese Punkte im
Gesetz geregelt sein. Die Rekurskommission hat ihren Entscheid, wonach
im Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht als Ertrag versteuerte Reserven
bei der Ermittlung des Verhältniskapitals ausser Betracht fallen, auf §
43 VVO gestützt. Die Bestimmungen einer Vollziehungsverordnung vermögen
jedoch nach dem Gesagten bloss mittelbar und nur insofern die gesetzliche
Grundlage für die Festsetzung der Steuerprogression abzugeben, als sie
lediglich eine Regelung aus- und weiterführen, die in grundsätzlicher
Weise bereits im Gesetz Gestalt angenommen hat (vgl. BGE 29 I 297,
45 I 67 mit Verweisungen, 64 I 315, 79 I 131/132).

    Ob sich der Kantonsrat bei Erlass des § 43 VVO innerhalb dieser
Schranken gehalten habe, ist eine Frage, welche die Auslegung und
Anwendung kantonalen Gesetzesrechts betrifft, und die das Bundesgericht
daher nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Verletzung des Art. 4
BV überprüfen kann.

Erwägung 2

    2.- § 31 StG umschreibt den Begriff des der Kapitalsteuer
unterliegenden "steuerbaren Kapitals". Gemäss § 32 StG wird die
Ertragssteuer nach dem Verhältnis des Reinertrags zum "steuerbaren Kapital
am Anfang des betreffenden Geschäftsjahres" bemessen. Die Rekurskommission
hat im vorliegenden Falle wie in einer früheren Entscheidung (Bericht 1950
Nr. 25 Erw. III/2) anerkannt, dass § 32 StG mit Bezug auf den Begriff
des "steuerbaren Kapitals" grundsätzlich auf § 31 StG verweist. Ihrer
Auffassung nach ist diese Verweisung jedoch mit Vorbehalten versehen. So
ist das "steuerbare Kapital" im Sinne des § 31 StG nach dem Stand zu
Beginn des Steuerjahres, das Verhältniskapital des § 32 StG indes nach dem
Stand zu Anfang des als Besteuerungsgrundlage dienenden Geschäftsjahres zu
ermitteln. Einen weiteren Unterschied erblickt die Rekurskommission darin,
dass § 31 StG sämtliche stillen Reserven der Kapitalsteuer unterwirft, zur
Berechnung des Verhältniskapitals nach § 32 StG dagegen nur jene stillen
Reserven heranziehe, die bei ihrer Bildung als Ertrag versteuert wurden.

    Die letzterwähnte Unterscheidung findet jedoch im Gesetz schlechthin
keine Stütze. In § 32 ist wie in § 31 StG vom "steuerbaren Kapital"
die Rede. Ein und derselbe Ausdruck kann aber nicht in unmittelbar
aufeinanderfolgenden Bestimmungen, die beide von der Bewertung des
Vermögens handeln, für zwei verschiedene Begriffe stehen. (Zur nämlichen
Feststellung gelangte das Bundesgericht im nicht veröffentl. Urteil vom
1. April 1938 i.S. H. AG mit Bezug auf den Begriff des "steuerpflichtigen
Kapitals" in den §§ 29 und 31 des Zürcher Gesetzes betreffend die
direkten Steuern vom 25. November 1917 sowie in BGE 73 I 145 mit
Bezug auf den Begriff der Reserven in Art. 56 und 57 des WStB vom 9.
Dezember 1940). Wohl ist es, zumal unter dem Gesichtswinkel des Art. 4
BV, statthaft, ein Gesetz nach seinem Sinn und Zweck auszulegen
und dabei nötigenfalls vom Wortlaute abzuweichen. Auch eine solche
Auslegung muss indes davon ausgehen, dass die §§ 31 und 32 StG unter dem
"steuerbaren Kapital" dasselbe verstehen. § 31 bestimmt bei Umschreibung
des Gegenstandes der Kapitalsteuer in Ziff. 6, dass die Aktiven nach
dem sinngemäss anzuwendenden § 22 StG zu bewerten sind. Nach dieser
Vorschrift sind andere als land- und forstwirtschaftliche Liegenschaften
zum Verkehrswert, Gebäude zum Brandversicherungswert bzw. nach der
neuen Katasterschatzung, Waren zum Gestehungswert und Wertpapiere
zum Kurswert zu versteuern. Soweit stille Reserven darin liegen, dass
die Aktiven in den Büchern zu einem niedrigeren als dem nach § 22 StG
massgebenden Wert eingestellt worden sind, sind sie somit der Kapitalsteuer
unterworfen. Umfasst das "steuerbare Kapital" nach der Begriffsbestimmung
des § 31 StG im angeführten Umfange die gesamten stillen Reserven,
so sind diese auch bei Anwendung des denselben Begriff verwendenden §
32 StG zu berücksichtigen.

    Die Rekurskommission zog demgegenüber in Erwägung, dass der Gesetzgeber
nicht eine sinn- und sachwidrige Ordnung gewollt haben könne, die dem
in Art. 62 Abs. 2 KV niedergelegten Grundsatz der progressiven Belastung
der Steuerpflichtigen nach der Grösse ihrer Mittel offen widerspreche. Der
Regierungsrat und die kantonsrätliche Kommission zur Vorberatung des
StG hätten denn auch durch die Vorlegung bzw. Behandlung des heutigen §
43 VVO schon vor der Volksabstimmung über das StG zum Ausdruck gebracht,
dass bei Berechnung des Verhältniskapitals nur jene stillen Reserven zu
berücksichtigen seien, die bei ihrer Entstehung als Ertrag versteuert
wurden. Diese Auslegung, die seither nie angefochten worden sei, habe
schon damals der allgemeinen Rechtsauffassung entsprochen.

    Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Gemäss Art. 17
Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 31 Ziff. 1 KV ist nicht der Kantonsrat
(oder gar eine kantonsrätliche Kommission) der Gesetzgeber, sondern
der Kantonsrat mit den Stimmberechtigten. Was der so zusammengesetzte
Gesetzgeber gewollt hat, tritt im vorliegenden Falle im klaren Gesetzestext
eindeutig zutage. Die Verfassungsmässigkeit der im Gesetze getroffenen
Lösung kann ernstlich nicht bestritten werden. Art. 62 Abs. 2 KV
bezeichnet (wie das Bundesgericht in BGE 44 I 130 und 48 I 84 zur
entsprechenden Bestimmung der Zürcher KV festgestellt hat) lediglich
die "allgemeine Richtung für die Aufgabe des Gesetzgebers". Wie der im
angeführten Verfassungssatz gestellten Forderung zu entsprechen sei,
steht im Ermessen des Gesetzgebers. Dass dieser bei Erlass des § 32 StG
die Grenzen seines Ermessens überschritten habe, ist nicht dargetan. Die
als "sinn- und sachwidrig" ins Treffen geführte Benachteiligung junger
(arbeitsintensiver) Betriebe gegenüber konsolidierten (kapitalintensiven)
Unternehmungen ist letztlich im überkommenen System der Besteuerung nach
der Ertragsintensität oder Kapitalrentabilität selbst begründet(Bericht der
Expertenkommission für die Motion Piller, Zum Problem der gleichmässigen
Besteuerung der Erwerbsunternehmungen, S. 65); dass dieses System
als solches deswegen verfassungswidrig sei, wird indes nicht geltend
gemacht. Sollte sich aber eine andere als die im Gesetz getroffene Ordnung
als zweckmässiger und gerechter erweisen, so liesse sie sich nur auf dem
Wege der Gesetzesrevision verwirklichen (vgl. BGE 73 I 147).

Erwägung 3

    3.- Da nach § 32 StG die gesamten stillen Reserven bei Berechnung des
Verhältniskapitals zu berücksichtigen sind, ist § 43 VVO, wonach hierbei
nur die bei ihrer Bildung als Ertrag versteuerten Reserven in Betracht
fallen, gesetzwidrig (in diesem Sinne auch I. BLUMENSTEIN, Kommentar
zum bernischen Gesetz über die direkten Staats- und Gemeindesteuern
vom 29. Oktober 1944, S. 333, N. 2 e). § 43 VVO vermag damit auch nicht
mittelbar die gesetzliche Grundlage für die Festlegung der Progression
zu bilden.

    Der in der Vernehmlassung der Rekurskommission erhobene Einwand aber,
es habe sich durch die ständige und unangefochtene Anwendung des § 43
VVO ein entsprechendes Gewohnheitsrecht entwickelt, erweist sich schon
darum als unbegründet, weil der angeführte Umstand allein noch keinen
Beweis dafür bildet, dass die Übung der Steuerbehörden die allgemeine
Rechtsüberzeugung für sich habe (BGE 84 I 97).

    Da die Festlegung des Steuersatzes in den durch die Rekurskommission
geschützten Einschätzungen der gesetzlichen Grundlage ermangelt, ist der
angefochtene Entscheid verfassungswidrig.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, und der Entscheid der kantonalen
Rekurskommission Solothurn vom 9. Dezember 1958 wird aufgehoben.