Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 I 7



85 I 7

2. Auszug aus dem Urteil vom 6. Mai 1959 i.S. Egger gegen Kantone Bern
und Graubünden. Regeste

    Doppelbesteuerung.

    1.  Der Schutz des Art. 46 Abs. 2 BV wird auch in der Schweiz
steuerpflichtigen Ausländern zuteil (Erw. 2).

    2.  Besteuerung eines Ausländers, der in der Schweiz keinen Wohnsitz,
sondern lediglich Aufenthalt hat. Wo ist der Fremdarbeiter zu besteuern,
der sich an keinem seiner verschiedenen Arbeitsorte in der Schweiz
wesentlich länger als an den andern aufhält? (Erw. 3, 4).

Sachverhalt

    A.- Der Österreicher Hans Egger arbeitet seit längerer Zeit als
Seilbahnmonteur in der Schweiz. Ende Februar 1958 trat er von einem
Schwesterunternehmen in Sitten zur A. Lüscher AG in Bern über. Diese
erwirkte für ihn in Bern die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung als
Fremdarbeiter. Sie beschäftigt ihn auf ihren über die ganze Schweiz
verteilten Baustellen, wo er jeweils einige Tage oder Wochen tätig
ist. Wenn die A. Lüscher AG keine Arbeit für ihn hat, wird er in den von
Roll'schen Eisenwerken in Bern eingesetzt. Im Jahre 1958 arbeitete er an
folgenden Orten:

    6. 1. - 18. 1. Linthal

    20. 1. - 23. 1. Brugg

    (24.1. - 23. 2. Urlaub in Österreich)

    24. 2. - 15. 3. Bern

    17. 3. -  7. 4. Nendaz

    8. 4. -  7. 5. Mottec

    8. 5. - 10. 5. Schynige Platte

    11. 5. - 18. 6. Mottec

    19. 6. - 12. 7. Sedrun

    14. 7. - 12. 8. Le Châble

    13. 8. - 26. 8. Wiggen

    27. 8. - 10. 9. Sedrun

    11. 9. - 30. 9. Le Châble

    1.10. - 13.11. Sedrun

    14.11. - 14.12. Zermatt

    15.12. - 31.12. Sedrun

    Der Kanton Graubünden besteuerte das Erwerbseinkommen, das Egger in
Sedrun erzielte, an der Quelle, indem er gemäss Art. 100 StG und § 44
VVO den Steuerbetrag von der Arbeitgeberin bezog, die Egger entsprechend
belastete. So erhob die bündnerische Steuerverwaltung auf dem Lohn von
Fr. 2064.50 für die bis zum 6. November 1958 in Sedrun geleisteten 573
1/2 Arbeitsstunden einen Steuerbetrag von Fr. 125.75. (Das Einkommen,
das Egger nach dem genannten Tag im Kanton Graubünden erzielte, scheint
dieser noch nicht erfasst zu haben.) Der Kanton Bern besteuerte Egger
seinerseits für die ganze Zeit der Anstellung bei der A. Lüscher AG,
d.h. seit dem 27. Februar 1958.

    Egger ficht die hierin liegende Doppelbesteuerung in einer gegen
die Kantone Bern und Graubünden gerichteten staatsrechtlichen Beschwerde
wegen Verletzung des Art. 46 Abs. 2 BV an; er ersucht das Bundesgericht,
den Kanton zu bezeichnen, dem die Steuerhoheit über ihn zusteht.

    B.- Der Regierungsrat des Kantons Bern beantragt die Abweisung der
Beschwerde, soweit sie sich gegen diesen Kanton wendet. Er macht geltend,
der Beschwerdeführer habe in der Schweiz keinen Wohnsitz, weshalb sich
der Steuerort nach dem Aufenthalt bestimme. Nicht jeder auch noch so
kurzfristige Aufenthalt vermöge jedoch ein Steuerdomizil zu begründen;
halte sich ein Steuerpflichtiger bald da, bald dort auf, so gelte derjenige
Aufenthaltsort als Steuerdomizil, dem er am stärksten verbunden sei. Das
treffe im vorliegenden Fall auf Bern zu, da der Beschwerdeführer zu dieser
Stadt ständig in Beziehung stehe, während die Verbindung mit den jeweiligen
Arbeitsstätten nur vorübergehender und zweckbedingter Art sei. Hätte der
Beschwerdeführer in Bern Wohnsitz, so könnte er deshalb an den betreffenden
Orten nicht besteuert werden. Dass Bern lediglich Aufenthaltsort sei,
hindere nicht, die Steuerausscheidung nach den selben Grundsätzen
vorzunehmen. Dem Kanton Graubünden komme mithin kein Besteuerungsrecht zu.

    C.- Der Kleine Rat von Graubünden schliesst, die Beschwerde sei
abzuweisen, soweit sie sich gegen diesen Kanton richtet. Er führt aus,
für den unselbständig erwerbenden Fremdarbeiter gebe es keinen Steuerort
des Arbeitgeberwohnsitzes. Ebenso wenig komme darauf an, wo er die primäre
fremdenpolizeiliche Arbeitsbewilligung erhalten habe; entbinde ihn diese
doch nicht davon, sich bei Verlegung des Aufenthalts in einen andern
Kanton innert acht Tagen bei der dortigen Fremdenpolizeibehörde anzumelden.
Der Fremdarbeiter habe sein Erwerbseinkommen vielmehr dort zu versteuern,
wo er es nach gehöriger fremdenpolizeilicher Anmeldung tatsächlich
erzielt habe. Der Kanton Graubünden habe den Beschwerdeführer denn auch
nur für die Zeit besteuert, da er in Sedrun gearbeitet habe. Dank der
Quellenbesteuerung vermöge der Kanton ohne besondere Veranlagung und ohne
grossen Apparat das Einkommen aller Fremdarbeiter genauestens zu erfassen;
es sei ihm nicht zuzumuten, darauf zu verzichten, wenn ein anderer Kanton
die primäre Arbeitsbewilligung erteilt habe.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 7 Abs. 1 des österreichisch-schweizerischen
Doppelbesteuerungsabkommens vom 12. November 1953 (AS 1954 S. 1086)
werden Einkünfte aus unselbständiger Erwerbstätigkeit nur in dem Staat
besteuert, in dessen Gebiet die persönliche Tätigkeit ausgeübt wird, aus
der diese Einnahmen herrühren. Der Beschwerdeführer ist österreichischer
Staatsangehöriger; er ist in der Schweiz auf Grund eines Dienstvertrags
tätig. Er ist daher in der Schweiz für sein hier erzieltes Erwerbseinkommen
steuerpflichtig.

Erwägung 2

    2.- Das durch Art. 46 Abs. 2 BV gewährleistete Recht auf Schutz
vor interkantonaler Doppelbesteuerung steht auch den in der Schweiz
steuerpflichtigen Ausländern zu (BGE 37 I 358, 48 I 381 Erw. 1).

    Offensichtlich und allseits anerkannt ist, dass der Beschwerdeführer
in der Schweiz keinen Wohnsitz hat, weil er sich als lediger Facharbeiter
nirgends mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält, sondern von
seiner Arbeitgeberin jeweils nur für kurze Zeit auf deren verschiedenen
Baustellen eingesetzt wird. Im interkantonalen Verhältnis lässt sich
seine Steuerpflicht demnach nicht an einen Wohnsitz, sondern nur an den
Aufenthaltsort anknüpfen.

Erwägung 3

    3.- Hat ein Ausländer in der Schweiz keinen Wohnsitz und knüpft
die Besteuerung lediglich an seinen Aufenthalt daselbst an, so sind
die kantonalen Steuerhoheiten grundsätzlich danach abzugrenzen, welchem
schweizerischen Aufenthaltsort der Steuerpflichtige während des Zeitraums,
wofür die Steuer geschuldet wird, am stärksten verbunden war (BGE 46 I 413;
entsprechend für einen Schweizer ohne Wohnsitz das nicht veröffentlichte
Urteil vom 18. Juli 1934 i.S. Waber, vgl. LOCHER, Doppelbesteuerungsrecht,
§ 3, II A, Nr. 2).

    Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts ergibt sich die
Stärke der Beziehungen zu einem Ort nicht aus irgendwelchen formellen
Merkmalen (wie der polizeilichen Anmeldung), sondern aus der Gesamtheit
der tatsächlichen Gegebenheiten (BGE 69 I 13, 79 Erw. 4 sowie die von
LOCHER, aaO, unter § 3, I A, 2 d angeführten, nicht veröffentlichten
Urteile). Das muss auch für Ausländer gelten. Es kommt mithin im
vorliegenden Falle nicht darauf an, in welchem Kanton der Beschwerdeführer
die Aufenthaltsbewilligung erlangte, und ob er sich bei Verlegung seines
Aufenthalts in einen andern Kanton jeweils innert acht Tagen bei der
dortigen Fremdenpolizeibehörde anmeldete, wie es Art. 8 Abs. 3 ANAG in
der Fassung vom 8. Oktober 1948 (AS 1949 I S. 222) vorschreibt.

    Die Beziehungen, die sich aus dem Dienstvertrag des Beschwerdeführers
zu Bern als dem Sitz seiner Arbeitsgeberin ergeben, erschöpften sich
im wesentlichen darin, dass die A. Lüscher AG dort die Aufenthalts-
und Arbeitsbewilligung für ihn einholte. Sie waren damit insofern
formeller Art. Die Unternehmung setzte den Beschwerdeführer, wie es der
Dienstvertrag vorsieht, auf ihren auswärtigen Baustellen ein; er hielt
sich nur während der drei Wochen, da er in den von Roll'schen Eisenwerken
arbeitete, in Bern auf. Es lässt sich daher nicht sagen, seine Beziehungen
zu Bern seien infolge des Umstandes, dass seine Arbeitgeberin dort ihren
Sitz hat, enger gewesen als die zu den auswärtigen Baustellen.

Erwägung 4

    4.- Anderseits wurde er an keinem der verschiedenen Arbeitsorte
wesentlich länger eingesetzt als an den andern. Unter solchen besonderen
Umständen, da in der Schweiz weder ein Wohnsitz, noch ein längerer,
die andern überwiegender Aufenthalt an einem bestimmten Orte gegeben
ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Steuerhoheit dem jeweiligen
Aufenthaltskanton für die Dauer des dortigen Aufenthalts zuzuerkennen,
auch wenn damit eine Zersplitterung der Steuererhebung verbunden ist. Diese
erschwert übrigens die Ausscheidung und den Steuerbezug nicht wesentlich,
zumal wenn die Steuer an der Quelle, d.h. beim Arbeitgeber zulasten des
Lohnanspruchs des Arbeitnehmers, erhoben wird.

    Der Kanton Graubünden war deshalb im Jahre 1958 berechtigt, den
Beschwerdeführer für alle Zeitspannen zu besteuern, während derer er
in Sedrun arbeitete (also über die tatsächlich erfolgte Besteuerung
hinaus auch für die Zeit vom 7. bis 13. November und vom 15. bis
31. Dezember). Dem Kanton Bern steht die Steuerhoheit dagegen nur für die
drei Wochen zu, da der Beschwerdeführer in Bern, und für die drei Tage,
da er auf der Schynigen Platte arbeitete.