Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 I 237



85 I 237

37. Urteil vom 16. September 1959 i.S. S. gegen Kanton Bern und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Regeste

    Abkommen zwischen der Schweiz. Eidgenossenschaft und den Vereinigten
Staaten von Amerika zur Vermeidung von Doppelbesteuerung auf dem Gebiete
der Steuern vom Einkommen.

    Auslegung des Abkommens. Kapitalgewinne eines amerikanischen
Staatsangehörigen mit schweizerischem Wohnsitz auf Wertschriftenvermögen
in den USA fallen nicht unter das Abkommen, auch wenn sie in Amerika
besteuert werden.

Sachverhalt

    A.- Die Beschwerdeführerin ist amerikanische Staatsangehörige. In
den Jahren 1955 und 1956, in denen sie in Bern wohnte, erzielte sie auf
ihrem in den USA gelegenen Wertschriftenvermögen Kapitalgewinne, welche in
den Vereinigten Staaten besteuert wurden. Die bernische Steuerverwaltung
veranlagte die Beschwerdeführerin für steuerpflichtige Vermögensgewinne von
Fr. 71'600.-- bzw. Fr. 118'300.--. Die Pflichtige machte geltend, diese
Besteuerung verletze die Vorschriften des schweizerisch-amerikanischen
Doppelbesteuerungsabkommens. Ihre Einrede wurde als unbegründet
befunden, zuletzt durch Entscheid des bernischen Verwaltungsgerichtes
vom 16. März/24. April 1959.

    B.- Mit rechtzeitiger staatsrechtlicher Beschwerde wird beantragt,
den Entscheid des Verwaltungsgerichtes aufzuheben und festzustellen,
dass die Beschwerdeführerin für in den Jahren 1955 und 1956 in den USA
erzielte Kapitalgewinne im Kanton Bern nicht steuerpflichtig sei.

    Die Beschwerdeführerin anerkennt, dass die Auslegung des
Staatsvertrages durch die bernischen Steuerbehörden, wonach in den
USA erzielte Kapitalgewinne nicht unter das Doppelbesteuerungsabkommen
fallen, in der Haltung der amerikanischen Verhandlungsdelegation vor
Abschluss des Abkommens eine gewisse Stütze findet, bestreitet aber, dass
Staatsverträge allein nach der historischen Methode auszulegen seien. Die
grammatikalische und die logische Auslegung gehörten auf die gleiche
Rangstufe. Es könne nicht behauptet werden, dass bei Anwendung dieser
beiden Methoden das Abkommen die Anwendung des Doppelbesteuerungsverbotes
auf Kapitalgewinne ausschliesse. Denn nach Art. 1 Abs. 1 lit. b
des Abkommens sei der Einkommensbegriff als umfassend zu verstehen,
d.h. das Abkommen erstrecke sich auf alle Arten von Einkommen. Nach
diesem Wortlaut könne nicht zweifelhaft sein, dass bezüglich der
schweizerischen Steuern eine vollständige Regelung beabsichtigt gewesen
sei. Dass Amerika es vorgezogen habe, keine besondere Bestimmung über
Kapitalgewinne in den Vertrag aufzunehmen, habe seinen Grund darin gehabt,
dass die USA im Jahre 1950 die Frage geprüft hätten, ob es möglich sei,
die Gewinne zu besteuern, die Ausländer mit Wohnsitz ausserhalb der USA
an amerikanischen Wertpapierbörsen erzielten. Daraus könne aber nicht
geschlossen werden, Kapitalgewinne, welche amerikanische Staatsbürger
mit schweizerischem Wohnsitz in den USA erzielten, seien ohne Rücksicht
auf das Doppelbesteuerungsverbot in beiden Ländern zu versteuern.

    Sodann bestimme Art. XV Abs. 1 lit. b des Abkommens für Angehörige
der USA mit Wohnsitz in der Schweiz, dass alle aus den USA stammenden
Einkommensteile von der Steuerbemessungsgrundlage auszunehmen sind. Damit
werde für die Anwendung des Abkommens der Grundsatz aufgestellt, dass
USA-Staatsbürger mit schweizerischem Wohnsitz hinsichtlich ihres gesamten
aus den USA stammenden Einkommens von schweizerischen Steuern befreit
seien. Es sollten also keinerlei Einschränkungen Platz greifen. Wenn im
zweiten Halbsatz von allen aus den USA stammenden Einkommensteilen die Rede
sei, während im ersten Halbsatz nur von Einkommensteilen gesprochen werde,
mit denen sich dieses Abkommen befasse, zeige das, dass man Amerikaner
mit schweizerischem Wohnsitz wegen der für sie undiskutablen Steuerpflicht
gegenüber ihrem Heimatstaat in der Schweiz unter keinen Umständen nochmals
zu Steuerleistungen für in den USA erzieltes Einkommen habe heranziehen
wollen.

    C.- Der Regierungsrat des Kantons Bern und das Verwaltungsgericht
beantragen die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

               Das Bundegericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Abkommen zwischen der schweiz. Eidgenossenschaft und den
Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung von Doppelbesteuerung
auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen weicht ab von den mit andern
europäischen Staaten geschlossenen Verträgen. Es folgt der Systematik,
welche in andern von den Vereinigten Staaten zur Vermeidung von
Doppelbesteuerung abgeschlossenen Abkommen enthalten ist. Anlässlich der
Besprechungen der beiden Delegationen zum Abschluss des Abkommens wurden
die schweizerischen Vorentwürfe als Verhandlungsgrundlage abgelehnt und
den schweizerischen Unterhändlern die von den Vereinigten Staaten mit
verschiedenen Staaten abgeschlossenen Verträge als Muster vorgelegt, mit
dem Ergebnis, dass deren Systematik übernommen wurde. Bei der Behandlung
der materiellen Fragen folgt das Abkommen dem von den Vereinigten Staaten
verwendeten Schema. Es gibt zunächst in Art. 1 einen Steuerkatalog und
in Art. II Definitionen für einzelne im Abkommen wiederholt verwendete
Begriffe, mit denen auf eine allfällig abweichende Umschreibung des
internen Steuerrechtes der beiden Staaten keine Rücksicht genommen
wird. Soweit aber dem Abkommen der Inhalt eines bestimmten Begriffes
weder ausdrücklich noch im Wege der Auslegung entnommen werden kann,
haben die Vertragsstaaten, sofern sich aus dem Zusammenhang nichts anderes
ergibt, zur Feststellung des Inhaltes auf ihre interne Steuergesetzgebung
zurückzugreifen (Art. II Abs. 2). Das Abkommen enthält insbesondere keine
Definition des Einkommensbegriffes. Es beschränkt sich darauf, die Steuern
vom Gesamteinkommen sowie von Teilen desselben zu erwähnen. Was unter den
Begriff des Einkommens fällt, ist deshalb nach dem internen schweizerischen
Recht zu bestimmen (I. BLUMENSTEIN, Das schweizerisch-amerikanische
Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen, Archiv für schweiz. Abgaberecht Bd. 20 S. 321). Wenn einer
der beiden Vertragsstaaten nach der Unterzeichnung des Abkommens neue,
ihrem Wesen nach ähnliche Einkommens- oder Gewinnsteuern einführt, sollen
auch sie dem Abkommen unterstehen (Art. 1 Abs. 2).

    Hieraus folgt zunächst, dass das Abkommen die Erhebung schweizerischer
Einkommenssteuern nur insoweit beschränkt, als Einkünfte in Frage stehen,
für welche das Abkommen eine klare Zuteilungsregel enthält. Abgesehen
von den Liegenschaftsgewinnen (Art. 1X Abs. 1) enthält es aber mit Bezug
auf Kapitalgewinne (ebenso wie für Spekulations- und Lotteriegewinne)
keine derartige Zuteilungsnorm und für die Zuteilung nicht besonders
erwähnter Einkommensarten auch keine Generalklausel. Es schränkt also die
Erhebung schweizerischer Einkommenssteuern auf derartige Gewinne nicht ein
(Kreisschreiben Nr. 1 des Bundesrates an die Kantone vom 2. November 1951,
BBl. 1951 III 552).

Erwägung 2

    2.- Liegt dem Abkommen kein einheitliches Begriffssystem zugrunde,
aus dem das Wesen des Einkommens erklärt werden könnte, und können von
beiden staatlichen Rechtsordnungen die von ihnen verwendeten Begriffe
frei bestimmt werden, so dass gleiche Begriffe einen verschiedenen Sinn
haben können, so ist auch klar, dass bei Anwendung des Abkommens nicht
der grammatikalischen, sondern der historischen Auslegung der Primat
zukommen muss (in diesem Sinne für Doppelbesteuerungsabkommen allgemein:
BAUMGARTNER, Richterliche Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen,
Archiv Bd. 20 S. 420 ff.). Nun steht fest, dass zwar der schweizerische
Abkommensentwurf vom September 1949 einen Artikel XVII enthielt, der
vorsah, dass Gewinne aus dem Verkauf, Tausch oder sonstiger Veräusserung
beweglichen Kapitalvermögens nur in dem Staate der Besteuerung unterliegen,
in welchem der Einkommensempfänger seinen Wohnsitz hat, dass aber
dieser Vorschlag in dem von der amerikanischen Verhandlungsdelegation
überreichten Memorandum vom 14. Februar 1950 gestrichen wurde ("the
United Staates Senate required, as a condition to its consents to
ratification of these conventions, that these articles (gemeint sind
die Art. XII und XVII) be not accepted"), und dass in der Sitzung der
schweizerisch-amerikanischen Verhandlungsdelegation vom 1. Mai 1950.an
dieser Streichung festgehalten wurde. Die vorgeschlagene Bestimmung fand
denn auch im Abkommen keine Aufnahme. Die Steuer auf Kapitalgewinne wird
also nicht bloss nicht erwähnt, sondern sie ist bewusst ausgeschlossen
worden, was die Annahme nicht zulässt, die Vertragspartner hätten der
Meinung sein können, die Entscheidung solle der Praxis überlassen bleiben,
wie die Beschwerdeführerin meint.

Erwägung 3

    3.- Aus Art. XV des Abkommens ergibt sich nichts Gegenteiliges. Er
enthält die massgebliche Kollisionsnorm, d.h. er bestimmt, welche
tatsächlichen Beziehungen das Steuersubjekt zu einem der Vertragsstaaten
haben muss, damit diesem das Recht der Besteuerung zusteht. Bezüglich
der Rechtsstellung der Steuerpflichtigen in der Schweiz werden dabei
in lit. b zwei Gruppen unterschieden, nämlich einerseits Personen,
schweizerische Gesellschaften und andere schweizerische Rechtsträger
mit Wohnsitz in der Schweiz, und anderseits Angehörige der Vereinigten
Staaten mit schweizerischem Wohnsitz. Den letztern wird eine
besondere Rechtsstellung eingeräumt, indem bestimmt wird, dass die
Schweiz alle aus den Vereinigten Staaten stammenden Einkommensteile
von der Steuerbemessungsgrundlage ausnimmt. Das bezieht sich jedoch
nur auf die Einkommensteile, die nach den übrigen Vorschriften des
Abkommens der Besteuerung unterworfen sind. Es kann nicht Sache einer
Kollisionsnorm eines Staatsvertrages sein, wie Art. XV sie darstellt,
das in den vorangegangenen Vorschriften näher umschriebene Objekt der
Besteuerung auf andere Einkommensteile auszudehnen. Etwas anderes folgt
auch nicht daraus, dass in Abs. 1 lit. b bei der Ordnung der Frage, ob
in der Schweiz gewisse Einkommensteile von Personen mit schweizerischem
Wohnsitz von der Bemessungsgrundlage auszunehmen sind, von Einkommen
die Rede ist, mit dem sich dieses Abkommen befasst, während im zweiten
Satz lediglich erklärt wird, darüber hinaus werde die Schweiz, soweit
Angehörige der Vereinigten Staaten mit schweizerischem Wohnsitz in
Frage stünden, alle aus den USA stammenden Einkommensteile von der
Bemessungsgrundlage ausnehmen. Jene Beschränkung auf Einkommen, mit
dem sich das Abkommen befasst, gilt selbstverständlich nicht bloss im
ersten, sondern auch im zweiten Falle, sodass also Bund, Kantone und
Gemeinden die Einkommenssteuern auf amerikanischen Kapitalgewinnen
auch gegenüber amerikanischen Staatsangehörigen erheben können. Die
Doppelbesteuerung bleibt für diejenigen Einkünfte, mit denen sich das
Abkommen nicht befasst, ebenso bestehen, wie für nicht aus amerikanischer
oder schweizerischer Quelle fliessende Einkommen (LOCHER, Handbuch und
Praxis der schweizerisch-amerikanischen Doppelbesteuerungsabkommen Bd. I
S. 73 Note 12 und S. 81).

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.