Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 I 111



85 I 111

18. Urteil vom 3. Juni 1959 i.S. Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich
gegen Vormundschaftsbehörde von St. Margrethen. Regeste

    Art. 83. lit. e OG. Unzulässigkeit der Klage, wenn der Beschluss auf
Übertragung der Vormundschaft von der kantonalen Aufsichtsbehörde der
bisherigen Vormundschaftsbehörde aufgehoben worden ist.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vormundschaft wurde bisher in Zürich geführt. Da sich
das Mündel gegenwärtig in St. Margrethen/SG aufhält, verlangte die
Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich vom Waisenamt St. Margrethen
die Übernahme der Vormundschaft. Eine Beschwerde des Waisenamtes und
des Vaters des Mündels gegen den diesen Beschluss schützenden Entscheid
des Bezirksrates Zürich hat die Justizdirektion des Kantons Zürich am
19. März 1959 gutgeheissen und den Beschluss der Vormundschaftsbehörde
aufgehoben. Darauf beschloss diese, gegen das Waisenamt St. Margrethen
im Sinne von Art. 83 lit. e OG staatsrechtliche Klage zu erheben, weil
der Entscheid der Justizdirektion schlechterdings unverständlich sei
(Beschluss vom 31. März 1959).

    Mit staatsrechtlicher Klage vom 22./25. April 1959 beantragt die
Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich, das Waisenamt St. Margrethen zu
verpflichten, die Vormundschaft zu übernehmen.

    Das Waisenamt beantragt die Abweisung der Klage.

Erwägung 2

    2.- Die Vorschrift von Art. 83 lit. e OG fand sich ursprünglich im
Bundesgesetz über die zivilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen
und Aufenthalter. Sie hatte dort zur Aufgabe die Abgrenzung der
Kompetenzen der Vormundschaftsbehörde des Wohnsitzes und der Heimat
im interkantonalen und - auf dem Umwege über Art. 32 des Gesetzes
- im internationalen Verhältnis. Für Anstände im interkantonalen
Verhältnis wurde sie in das OG von 1893 übernommen, dessen Art. 180
bestimmte, dass derartige Streitigkeiten nach dem für staatsrechtliche
Entscheidungen vorgeschriebenen Verfahren zu beurteilen sind. Es
wurde jedoch davon abgesehen, auch für diese Anstände anzuordnen,
dass die Zuständigkeit des Bundesgerichtes dadurch begründet werde,
dass die Kantonsregierung seinen Entscheid anrufe, wie es Art. 177
für Entscheidungen staatsrechtlicher Streitigkeiten zwischen Kantonen
vorsah, sondern das Recht zur Anhängigmachung des Streites direkt der
Heimat- bzw. Wohnsitzbehörde eingeräumt. Die Rechtsprechung hat dazu
festgestellt, dass zur Anrufung des Bundesgerichtes der ablehnende
Bescheid der bisherigen (d.h. der untern) Vormundschaftsbehörde genügt,
und dass eine Verpflichtung, zunächst einen Entscheid der ihr vorgesetzten
Aufsichtsbehörde bzw. der betreffenden Kantonsregierung herbeizuführen,
nicht besteht (BGE 39 I 68, 71 I 159). Das rev. Organisationsgesetz hat
die Klagen, um deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass es sich um Anstände
zwischen Vormundschaftsbehörden verschiedener Kantone handle, unter die
eigentlichen staatsrechtlichen Klagen eingereiht.

    Dieser Charakter der Klage als interkantonaler Anstand ändert
jedoch daran nichts, dass die Vormundschaftsbehörde nach dem massgebenden
kantonalen Recht befugt sein muss, die Klage zu erheben, also ein gültiger
Beschluss der Behörde vorliegt. Ein Beschluss der Vormundschaftsbehörde
vermag aber Wirkungen auch nur solange zu entfalten, als er nicht
durch Entscheid der ihr vorgesetzten Aufsichtsbehörde abgeändert
oder aufgehoben worden ist. Das gilt nicht bloss, wenn es für eine
bestimmte Entscheidung der Zustimmung der Aufsichtsbehörde bedarf
(Art. 422 ZGB), sondern auch dann, wenn das Gesetz die Verbindlichkeit
von der Zustimmung nur der Vormundschaftsbehörde abhängig macht, wie
es für die Bewilligung eines Wohnsitzwechsels des Bevormundeten nach
Art. 421 Ziff. 14 ZGB zutrifft. Denn auch diese Beschlüsse unterliegen
der Beschwerde gemäss Art. 420 Abs. 2 ZGB und haben nur Bestand, wenn
sie nicht im Beschwerdeverfahren aufgehoben werden. Ist der Beschluss
der Vormundschaftsbehörde auf Beschwerde hin durch die Aufsichtsbehörde
aufgehoben worden, und ersetzt damit ihr Entscheid denjenigen der ihr
untergeordneten Vormundschaftsbehörde, so entfällt damit für diese
die Möglichkeit der Klage, ist auch für sie verbindlich festgestellt,
welche Rechte und Pflichten ihr gegenüber der Vormundschaftsbehörde
des andern Kantons, gegen die die Klage hätte gerichtet werden sollen,
zustehen. Der Rechtsbehelf von Art. 83 lit. e OG kann als staatsrechtliche
Klage nicht ein Rechtsmittel der Vormundschaftsbehörde gegenüber ihrer
eigenen Aufsichtsbehörde sein. Dazu würde sie aber gemacht, wenn es jener
zustünde, über den Entscheid der Aufsichtsbehörde hinweg das Bundesgericht
anzurufen und durch dieses feststellen zu lassen, dass nicht die Auffassung
der Aufsichtsbehörde, sondern diejenige der Vormundschaftsbehörde zutreffe.

    Der Beschluss der klagenden Vormundschaftsbehörde vom 4. November
1958, die Vormundschaft über das Mündel dem Waisenamt St. Margrethen zur
Weiterführung zu übertragen, ist auf Beschwerde dieses Amtes und des Vaters
des Bevormundeten von der Direktion der Justiz des Kantons Zürich als obere
kantonale Aufsichtsbehörde aufgehoben worden. Ihr Übertragungsbeschluss
besteht also nicht mehr und kann daher nicht mit einer staatsrechtlichen
Klage zur Geltung gebracht werden.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Klage wird nicht eingetreten.