Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 89



85 IV 89

23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 3. Juli 1959
i. S. Purtschert gegen Polizeidepartement des Kantons Basel-Stadt. Regeste

    Art. 47 MFV. In die linke Strassenhälfte darf erst abgeschwenkt werden,
wenn Gewissheit besteht, dass das Abbiegen ohne Beeinträchtigung des
vortrittsberechtigten Gegenverkehrs durchgeführt und beendigt werden kann.

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    Purtschert fuhr in Basel, kurz vor Arbeitsbeginn, auf einem Fahrrad
durch die zehn Meter breite Grenzacherstrasse, um von dieser in das auf
der linken Strassenseite gelegene Fabrikareal der Firma Hoffmann-La
Roche abzuschwenken. Nach Einspurung gegen die Strassenmitte bog er
auf der Höhe der Einfahrt bis gegen die Mitte der linken Strassenhälfte
ab, wo er anhielt, um einer Gruppe entgegenkommender Radfahrer, die
gleichzeitig die Einfahrt benützten, den Vortritt zu lassen. Ein hinter
dieser Gruppe mit einer Geschwindigkeit von 50 km/Std. folgendes Motorrad,
das geradeaus fuhr, stiess mit dem Fahrrad Purtscherts, bevor dieser das
Abbiegen fortgesetzt hatte, frontal zusammen.

    Purtschert wurde von den kantonalen Gerichten wegen fahrlässiger
Störung des öffentlichen Verkehrs zu einer Busse verurteilt. Das
Bundesgericht weist dessen Nichtigkeitsbeschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Die Vorschrift des Art. 47 MFV, die den nach links Abbiegenden
verpflichtet, einem gleichzeitig entgegenkommenden Fahrzeug den Vortritt
zu lassen, hat der Beschwerdeführer objektiv dadurch verletzt, dass
er bis zur Mitte der linken Fahrbahn abschwenkte, dort anhielt und
dem von rechts kommenden Motorrad den Weg abschnitt. Seine Überlegung,
dass der nach links Abbiegende sein Manöver möglichst rasch vollenden
und nicht länger als nötig auf seiner Strassenhälfte verweilen soll,
kann nicht dazu führen, dem Abbiegenden die Beanspruchung der linken
Strassenhälfte so weit zu gestatten, als sie der entgegenkommende
Vortrittsberechtigte nicht unbedingt zur Durchfahrt benötigt. Der Sinn
der Vortrittsregel, die das gefahrlose Kreuzen ermöglichen soll, würde
dadurch weitgehend vereitelt, namentlich dann, wenn in einer Kolonne von
Vortrittsberechtigten der eine dem anderen die Sicht nach vorne verdeckt
oder wenn der Abbiegende in unrichtiger Einschätzung der Verkehrslage
sich auf ein schmales Fahrzeug einstellte, diesem aber unversehens
andere von grösserer Bauart folgten. Die Verkehrssicherheit verlangt
eine klare und einfache Ordnung, und diese kann nur darin bestehen,
dass mit dem Abbiegen in die linke Strassenhälfte erst begonnen wird,
wenn Gewissheit besteht, dass das Manöver ohne Beeinträchtigung des
vortrittsberechtigten Gegenverkehrs durchgeführt und beendigt werden kann.
Der Vortrittsberechtigte muss sich darauf verlassen können, dass er aus
der ihm zukommenden Strassenhälfte nicht von einem entgegenkommenden
Fahrzeug verdrängt werde. Im vorliegenden Falle hätten es die Strassen-
und Verkehrsverhältnisse dem Beschwerdeführer ohne weiteres erlaubt, ohne
eigene Gefährdung und ohne Störung allfälliger nachfolgender Fahrzeuge
rechts der Strassenmitte anzuhalten, um dem entgegenkommenden Verkehr die
Durchfahrt frei zu lassen, bevor er nach links abbog. Ob er im Zeitpunkt
des Zusammenstosses in der Fahrbahn des Motorrades stille stand oder in
Bewegung war, ändert nichts; so oder anders wurde der Motorradfahrer
in der gleichmässigen Fortsetzung seiner Fahrt gestört und damit sein
Vortrittsrecht verletzt. Der Beschwerde kann auch insofern nicht gefolgt
werden, als geltend gemacht werden will, übersetzte Geschwindigkeit
oder ungenügendes Rechtsfahren des vortrittsberechtigten Motorradfahrers
hebe eine allfällige Pflichtwidrigkeit des Beschwerdeführers auf. Ganz
abgesehen davon, dass das Strafrecht eine Schuldkompensation nicht kennt,
kann das Vortrittsrecht objektiv nicht davon abhängig gemacht werden,
ob die Fahrweise des Berechtigten in allen Teilen fehlerfrei sei,
soll es als Verkehrsregel nicht völlig entwertet werden (vgl. BGE 79
II 214; 82 II 538; 83 IV 97). Anders verhält es sich bloss, wenn dem
Vortrittsberechtigten ein Verhalten zur Last gelegt werden muss, mit dem
der Nichtberechtigte schlechterdings nicht zu rechnen hat. Ein solcher
Fall liegt jedoch nicht vor.