Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 208



85 IV 208

54. Entscheid der Anklagekammer vom 26. Oktober 1959 i.S. Lauber. Regeste

    Art. 262 ff. BStP.

    1.  Einfluss auf den Gerichtsstand, wenn die Anklagekammer erst kurz
vor der Aburteilung des Angeklagten angerufen wird (Erw. 2).

    2.  Ein nachträglicher Wechsel des von den Strafbehörden verschiedener
Kantone vereinbarten Gerichtsstandes ist nur aus triftigen Gründen zulässig
(Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 12. August 1959 erhob die Bezirksanwaltschaft Zürich gegen
Lauber, der am 1. April 1959 schon im Kanton Aargau wegen verschiedener
Delikte erstinstanzlich abgeurteilt worden war, Anklage wegen
gewerbsmässigen Diebstahls, gewerbsmässigen Betruges und fortgesetzten
Verweisungsbruches. Die Hauptverhandlung vor Bezirksgericht Zürich wurde
auf den 7. Oktober 1959 angesetzt. Mit einer persönlichen Eingabe vom
2. Oktober und durch mündliche Ausführungen seines Verteidigers in der
gerichtlichen Hauptverhandlung bestritt Lauber die Zuständigkeit der
Zürcher Gerichte. Das Bezirksgericht beschloss daraufhin, die Frage des
Gerichtsstandes der Anklagekammer des Bundesgerichtes zu unterbreiten,
und übermittelte diesem die Akten.

    B.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich stellt sich in ihrer
Vernehmlassung auf den Standpunkt, es handle sich um ein Gesuch des
Bezirksgerichtes, und beantragt, darauf nicht einzutreten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Man kann sich in der Tat fragen, ob es sich bei dem vorliegenden
Gerichtsstandsbegehren nicht um ein Gesuch des Bezirksgerichtes Zürich
handelt und ob ein solches Vorgehen von Seiten einer mit der Sache
befassten gerichtlichen Instanz überhaupt zulässig sei; ist es doch
zumindest ungewöhnlich, dass der Sachrichter auf eine Bestreitung des
Gerichtsstandes durch den Angeklagten hin ohne eigene Stellungnahme einfach
die Akten zur Prüfung der Frage dem Bundesgericht übermittelt. Immerhin
ist nicht ausgeschlossen, dass das Bezirksgericht damit nicht ein eigenes
Gesuch stellen, sondern, nachdem der Verteidiger des Angeklagten in
der Hauptverhandlung beantragt hatte, es sei die Anklagekammer des
Bundesgerichtes einzuladen, gemäss Art. 264 BStP den zur Beurteilung
Laubers zuständigen Kanton zu bestimmen, mit seinem Beschluss lediglich
dieses Begehren an das Bundesgericht weiterleiten wollte. Indessen braucht
die Frage nicht entschieden zu werden; denn so oder anders kann dem Gesuch
nicht entsprochen werden.

Erwägung 2

    2.- Angenommen, es handle sich um ein Begehren des Angeklagten, dann
ist es nach der Rechtsprechung der Anklagekammer verspätet (BGE 72 IV 194).

    Das hat jedoch entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht
zur Folge, dass die Sache durch Nichteintreten zu erledigen sei. Denn
irgendeine gesetzliche Frist zur Einreichung eines solchen Gesuches
gibt es nicht. Der Angeklagte hat daher formell das Recht, bis zu seiner
Aburteilung die Anklagekammer anzurufen. Wenn dennoch das Bundesgericht
Gerichtsstandsbegehren, die erst unmittelbar vor der Hauptverhandlung
gestellt werden, keine Folge gibt, so geschieht das aus materiellen
Gründen. Nach Art. 262 ff. BStP und nach ständiger Rechtsprechung ist die
Anklagekammer befugt, auch dann, wenn ein Gesuch nach den Bestimmungen der
Art. 346 ff. StGB begründet ist, von der gesetzlichen Norm abzuweichen,
sofern sie das für zweckmässig erachtet. Dass wichtige Gründe der
Zweckmässigkeit für ein Festhalten am ursprünglichen Gerichtsstand
sprechen, versteht sich dann von selbst, wenn, wie im vorliegenden Falle,
die Untersuchung abgeschlossen ist, der Angeschuldigte bereits in den
Anklagezustand versetzt wurde und das Verfahren bis zur Hauptverhandlung
gediehen ist, ohne dass der Angeklagte früher - wozu er in der Lage
gewesen wäre - die Zuständigkeit der mit der Sache befassten Behörden je
bestritten hätte.

Erwägung 3

    3.- Das Gesuch ist aber auch dann abzuweisen, wenn anzunehmen
wäre, es sei in zulässiger Weise vom Bezirksgericht im Namen des
Kantons Zürich gestellt worden. Wie aus den Akten hervorgeht, hatten
im Verlaufe des Untersuchungsverfahrens bereits Verhandlungen über die
Zuständigkeitsfrage zwischen den Behörden der Kantone Aargau und Zürich
stattgefunden, die damit endeten, dass die Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau eine Übernahme der Zürcher Fälle ablehnte, die Bezirksanwaltschaft
Zürich sich damit abfand und das Verfahren in diesem Kanton fortgeführt
wurde. Der damalige Kompetenzkonflikt wurde somit in der Weise beigelegt,
dass sich die Bezirksanwaltschaft Zürich zumindest durch konkludentes
Verhalten den Argumenten der aargauischen Behörden anschloss und die
Zuständigkeit Zürichs anerkannte. Nach ständiger Rechtsprechung ist
aber die nachträgliche Änderung des von den Strafbehörden verschiedener
Kantone vereinbarten Gerichtsstandes nur aus triftigen Gründen zulässig
(statt vieler BGE 71 IV 61). Solche Gründe werden nicht geltend gemacht und
liegen, soweit sich das auf Grund der Akten ermessen lässt, auch nicht vor.

Entscheid:

               Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird abgewiesen.