Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 182



85 IV 182

47. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 14. September 1959
i. S. Bossi gegen Iklé und Müller. Regeste

    Art. 173 StGB, üble Nachrede. Auch wer sich in Wahrung berechtigter
Interessen äussert, entgeht der Strafe nur, wenn er beweist, dass die
Ausserung wahr ist oder dass er ernsthafte Gründe hatte, sie in guten
Treuen für wahr zu halten.

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Wer in einer Lage, die ihn zwecks Wahrnehmung berechtigter Interessen
zur Äusserung zwang, seine ehrenrührige Behauptung in angemessener Form
gutgläubig aufstellte, nachdem er gewissenhaft alles Zumutbare vorgekehrt
hatte, um sich von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, machte sich nach
früherer Rechtsprechung des Bundesgerichtes nicht strafbar (BGE 69 IV 116,
70 IV 26, 71 IV 189, 72 IV 175, 73 IV 16). Diese Rechtsprechung stammt
aus der Zeit, da nach dem Wortlaut des Art. 173 StGB das Scheitern des
Wahrheitsbeweises trotz des guten Glaubens des Täters, seine Behauptung
sei wahr, zur Verurteilung führen musste. Sie brachte die unumgängliche
Milderung, ohne die niemand es hätte wagen dürfen, jemanden z.B. in
einer Strafanzeige oder in einem Prozess rufschädigender Tatsachen zu
beschuldigen oder zu verdächtigen, wenn er nicht von vornherein sicher war,
dass er seine Behauptung oder Vermutung als richtig beweisen könne. Nachdem
die durch Bundesgesetz vom 5. Oktober 1950 abgeänderte Fassung des Art. 173
StGB in Kraft getreten war, wurde diese Rechtsprechung in Übereinstimmung
mit der Lehre (WAIBLINGER, ZBJV 91 106) aufgegeben (BGE 80 IV 112, 82 IV
11; vgl. auch BGE 77 IV 168 f., 78 IV 32 f.).

    Art. 173 StGB trägt mit der neuen Fassung den Fällen, in denen
der Täter durch seine Äusserung berechtigte Interessen wahren will, in
jeder Beziehung Rechnung. Ziff. 2 dieser Bestimmung verlangt nicht mehr,
dass der Täter die Wahrheit seiner Äusserung beweise, sondern lässt ihn
schon dann straflos, wenn er dartut, dass er ernsthafte Gründe hatte, die
Äusserung in guten Treuen für wahr zu halten. Der gute Glauben entschuldigt
unter diesen Voraussetzungen nicht nur den, der in einer Zwangslage
berechtigte Interessen wahrnimmt, sondern auch andere Täter. Freilich
lässt Art. 173 Ziff. 3 StGB den Beweis des Handelns in guten Treuen -
und den Wahrheitsbeweis - nicht zu "für Äusserungen, die ohne Wahrung
öffentlicher Interessen oder sonstwie ohne begründete Veranlassung,
vorwiegend in der Absicht vorgebracht oder verbreitet werden, jemandem
Übles vorzuwerfen, insbesondere, wenn sich die Äusserungen auf das Privat-
oder Familienleben beziehen". Diese Ausnahmebestimmung wird jedoch dem,
der in Wahrung berechtigter Interessen handelt, nie zum Verhängnis. Gerade
sie zeigt, dass das Gesetz die Fälle, in denen der Täter solche Interessen
wahrt, durch Art. 173 Ziff. 2 StGB abschliessend ordnet. Das gilt vorab für
den in Art. 173 Ziff. 3 ausdrücklich erwähnten Fall, dass die Äusserung zur
Wahrung öffentlicher Interessen erfolgt. Wenn hier ausdrücklich bestimmt
wird, in diesem Falle seien die in Art. 173 Ziff. 2 vorgesehenen Beweise
zulässig, bedeutet das zugleich, Art. 173 Ziff. 2 regle ihn erschöpfend,
d.h. auch der im öffentlichen Interesse Handelnde dürfe nur die erwähnten
Beweise erbringen, nicht ausserdem einen besonderen Rechtfertigungsgrund
der "Wahrung berechtigter öffentlicher Interessen" anrufen. Entsprechendes
gilt für den Fall der Wahrung berechtigter privater Interessen. Art. 173
Ziff. 3 trägt ihm insofern Rechnung, als der in Wahrung solcher Interessen
Handelnde seine Äusserung nie "ohne begründete Veranlassung, vorwiegend in
der Absicht, jemandem Übles vorzuwerfen", vorbringt oder verbreitet, also
stets zu den in Art. 173 Ziff. 2 vorgesehenen Beweisen zugelassen werden
muss. Bei diesen Beweisen hat es sein Bewenden; werden sie nicht erbracht,
so entgeht der Täter nicht trotzdem der Strafe, weil er berechtigte private
Interessen gewahrt hat. Da sich Ziff. 3 mit den Beweggründen befasst,
die den Täter zur Äusserung treiben, wäre der Rechtfertigungsgrund der
"Wahrung berechtigter Interessen" ausdrücklich anerkannt worden, wenn
das Gesetz ihn hätte beibehalten wollen. Dass die Rechtsprechung des
Bundesgerichtes, die ihn eingeführt hatte, im Wortlaut des Gesetzes keine
Stütze fand, war bekannt. Anlässlich der Beratung des neuen Wortlautes
des Art. 173 fiel denn auch keine Äusserung, die schliessen liesse, man
habe die in den Ziffern 2 und 3 des Art. 173 StGB getroffene Regelung
nicht als abschliessend betrachtet, sondern den von der Rechtsprechung
anerkannten Rechtfertigungsgrund beibehalten wollen (vgl. StenBull StR
1949 601 ff., NatR 1950 199 ff.).

    Die neue gesetzliche Ordnung genügt auch sachlich. Es ist nicht
unbillig, dass der in Wahrung berechtigter privater oder öffentlicher
Interessen Handelnde wie jeder andere der Strafe nur entgeht, wenn
er beweist, dass die Äusserung der Wahrheit entspricht oder dass er
ernsthafte Gründe hatte, sie in guten Treuen für wahr zu halten. Schon
als die Rechtsprechung den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter
Interessen anerkannte, liess sie ihn nur dem zugute kommen, der seine
Äusserung in angemessener Form gutgläubig tat, nachdem er gewissenhaft
alles Zumutbare vorgekehrt hatte, um sich von ihrer Richtigkeit zu
überzeugen. Die Wahrung berechtigter Interessen war kein Freibrief,
jemandem ins Blaue hinaus rufschädigende Tatsachen nachzureden oder ihn
durch sachlich nicht vertretbare Werturteile zu beschimpfen. Heute kann
es nicht anders sein.

    Das gilt insbesondere auch dann, wenn die Äusserung gegenüber der
Polizei oder einer anderen mit der Aufdeckung oder Verfolgung strafbarer
Handlungen betrauten Behörden erfolgt. Die in der Rechtsprechung
kantonaler Gerichte und im Schrifttum gelegentlich vertretene Auffassung,
diese Behörden seien im öffentlichen Interesse darauf angewiesen,
auch unüberprüfte Mitteilungen zu erhalten (BIZüR 1955 Nr. 38; NOLL,
Satirische Ehrverletzungen, BJM 1959 11), überzeugt nicht. Ein nur auf
dem Wege der Rechtsprechung anzuerkennender bundesrechtlicher Grund,
der den Urheber leichtfertiger Mitteilungen vor Strafe bewahren würde,
besteht nicht. Es darf verlangt werden, dass auch der, der einer
Strafverfolgungsbehörde durch eine Anzeige oder sonstige Auskunft an die
Hand geht, seine Behauptung oder Verdächtigung nicht aus der Luft greife,
sondern durch Bekanntgabe ernsthafter Anhaltspunkte stütze. Ohne solche
wäre sie für die Behörde ja auch wertlos. Übrigens genügt in der Regel die
Angabe der Anzeichen und können die Schlussfolgerungen daraus der Behörde
überlassen werden. Der in Art. 173 Ziff. 2 StGB vorgesehene Beweis des
Handelns in guten Treuen setzt nicht stets voraus, dass der Täter von der
Richtigkeit der ehrenrührigen Tatsachen voll überzeugt gewesen sei. Wer
diese nur in der Form eines Verdachtes kundgibt, braucht nur zu beweisen,
dass ernsthafte Gründe ihn zum Verdacht berechtigten. Verdächtigt er
jemanden, ohne solche Gründe zu haben, so verdient er Strafe.

    NOLL vertritt in BJM 1959 10 ff. die Auffassung, der
Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen müsse
auch anerkannt werden, um die angemessene Beurteilung der satirischen
Ehrverletzungen zu ermöglichen; es bestehe ein allgemeines und berechtigtes
Interesse, das öffentliche Leben durch satirische Darstellungen zu
erheitern; das öffentliche Interesse an einer gewissen Narrenfreiheit
gehe weiter als der durch die Entlastungsmöglichkeit von Art. 173 Ziff. 2
StGB geschützte Bereich; insbesondere bei der scherzhaften Beschimpfung
und bei der unwahren, jedoch nicht ernst gemeinten Äusserung müsse
auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen
zurückgegriffen werden. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass eine
Äusserung nur ehrverletzend ist, wenn sie sich eignet, den Ruf des
Betroffenen zu schädigen oder diesen in seinem Ehrgefühl zu treffen. Wenn
sie vom Hörer und im Falle der "Beschimpfung" vom Betroffenen als nicht
ernst gemeint erkannt wird, erfüllt sie diese Voraussetzung nicht. Dann
muss schon mangels objektiven Tatbestandes freigesprochen werden. Hält
der Hörer die Äusserung für ernst oder verletzt sie das Ehrgefühl des
Betroffenen, obschon der Täter überzeugt war, sie werde als erfunden
aufgefasst, so fehlt der Vorsatz. Ist der Täter sich dagegen bewusst, dass
seine Äusserung ernst genommen werden könnte, so ist nicht unbillig, dass
er bestraft werde, wenn er nicht beweist, dass sie der Wahrheit entspricht
oder dass er ernsthafte Gründe hatte, sie in guten Treuen für wahr zu
halten. Die Freude des Publikums an Narreteien berechtigt niemanden,
den Ruf oder das Ehrgefühl eines andern durch Äusserungen zu verletzen,
die weder wahr sind, noch vom Täter aus ernsthaften Gründen in guten
Treuen für wahr gehalten werden dürfen. Es besteht daher auch unter den
von NOLL vertretenen Gesichtspunkten kein Grund, den Rechtfertigungsgrund
der Wahrung berechtigter Interessen wieder anzuerkennen.

    Wer berechtigte Interessen verfolgt, befindet sich freilich auch
unter der Herrschaft des geltenden Rechts noch in einer besonderen
Lage, weil er vor der Wahl steht, entweder auf die Wahrnehmung dieser
Interessen zu verzichten oder eine ehrverletzende Äusserung zu tun, die
sich möglicherweise als unzutreffend erweisen wird. Der Richter kann und
muss jedoch dieser besonderen Lage Rechnung tragen, wenn er entscheidet,
ob der Täter ernsthafte Gründe hatte, die Äusserung in guten Treuen für
wahr zu halten. Er wird an die Sorgfaltspflicht des Täters geringere
Anforderungen stellen, wenn dieser rechtmässige Interessen verfolgte. Die
Gründe, die für den in Wahrung solcher Interessen Handelnden "ernsthaft"
sind, seine Äusserung in guten Treuen für wahr zu halten, sind nicht
notwendigerweise Entschuldigungsgrund für jedermann. Es muss gleich
wie beim Fahrlässigkeitsdelikt auf die Umstände des einzelnen Falles
Rücksicht genommen werden (Art. 18 Abs. 3 StGB), und zu den Umständen
gehören vornehmlich die Ziele, die der Täter verfolgt. Dass das Gesetz sie
bewertet wissen will und von ihnen die Strafbarkeit oder Straflosigkeit
des Täters abhangen lässt, ergibt sich aus Art. 173 Ziff. 3 StGB. Es
liegt im Geiste dieser Bestimmung, ihnen auch in den Anforderungen an
den Entlastungsbeweis des Art. 173 Ziff. 2 Rechnung zu tragen.