Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 17



85 IV 17

6. Urteil des Kassationshofes vom 23. Januar 1959 i.S. Rigolet gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 137 StGB. Diebstahl setzt voraus, dass der Täter die fremde
Sache seinem eigenen Vermögen einverleibt. Verhältnis dieser Bestimmung
zu Art. 143 StGB und Art. 62 MFG.

Sachverhalt

    A.- Rigolet entwendete in der Zeit vom Februar 1955 bis August 1956
zwölf stationierte Motorfahrzeuge (Motorräder, Personenwagen, Roller),
die er zu Fahrten von höchstens wenigen Stunden benützte und dann jeweilen
stehen liess, weil er entweder kein weiteres Interesse an den Fahrzeugen
hatte oder weil das Benzin ausgegangen war. In einem weiteren Fall wurde er
von Drittpersonen gestellt, als er zum gleichen Zwecke mit einem fremden
Motorrad wegzufahren versuchte.

    B.- Das Obergericht des Kantons Luzern erklärte am 25.  November
1958 Rigolet wegen dieser Handlungen des wiederholten Diebstahls und
des vollendeten Diebstahlsversuches gemäss Art. 137 StGB schuldig und
verurteilte ihn deshalb und wegen weiterer Vergehen zu zwanzig Monaten
Gefängnis.

    Zur Begründung führte es aus, Diebstahl im Sinne von Art. 137 StGB,
nicht bloss Entwendung zum Gebrauche nach Art. 62 MFG, liege vor, wenn
ein Fahrzeug weggenommen werde in der Absicht, es zu gebrauchen und
zu derelinquieren, denn im Gebrauche liege eine Bereicherung, und die
Dereliktion stelle einen Akt der Aneignung dar. Rigolet habe von Anfang an
nicht beabsichtigt, die Fahrzeuge nach deren Benützung zurückzugeben oder
sie wenigstens wieder an den Ort hinzustellen, wo er sie entwendet hatte.

    C.- Der Verurteilte beantragt mit der Nichtigkeitsbeschwerde, das
Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit es in den erwähnten dreizehn Fällen Art. 62 MFG
anwende und demzufolge auf eine mildere Strafe erkenne.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern stellt den Antrag auf
Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Diebstahl begeht nach Art. 137 StGB, wer jemandem eine fremde
bewegliche Sache wegnimmt, um sich oder einen anderen damit unrechtmässig
zu bereichern.

    Das Gesetz erwähnt nur die Wegnahme, setzt aber gleich wie bei den
verwandten Tatbeständen der Unterschlagung und Veruntreuung voraus,
dass der Täter die Sache sich aneigne. Diebstahl wurde schon in den
früheren kantonalen Rechten als Aneignungsdelikt aufgefasst, und daran
hat der eidgenössische Gesetzgeber festgehalten. In den Erläuterungen
zum Vorentwurf von 1908, dessen Art. 83 wie der heutige Art. 137 nur
von Wegnahme spricht, zählt ZÜRCHER den Diebstahl ausdrücklich zur
Gruppe der Aneignungsverbrechen (S. 143/144), und dementsprechend
lehnte die II. Expertenkommission die von LANG eingebrachte Empfehlung,
das Erfordernis der Aneignung im Gesetzestext besonders aufzuführen,
stillschweigend ab, offenbar, weil sie einen solchen Hinweis für
überflüssig hielt (Prot. II. Exp. Komm. 2, S. 289 ff.). Dass der Dieb
die Sache nicht bloss durch Bruch fremden Gewahrsams in seine eigene
Verfügungsgewalt bringen, sondern sie darüber hinaus sich aneignen muss,
wird in Wissenschaft und Rechtsprechung anerkannt (HAFTER, Bes. Teil
S. 229, 244; THORMANN/OVERBECK, Art. 137 N 9; LOGOZ, Vorbemerkungen zu
Art. 137-147 N 4 a; SCHWANDER, Das schweiz. Strafgesetzbuch, N 535, 545;
GERMANN, ZStR 1952 S. 5, 1953 S. 242; DUERST, Der Begriff der Aneignung,
S. 94 ff.; MKGE 4, Nr. 23, 55).

    Die Einführung der Bereicherungsabsicht in den Diebstahlstatbestand
hat in der Tat das Erfordernis der Aneignung nicht gegenstandslos
gemacht. Wer sich z.B. den Gebrauch eines fremden Fahrzeuges anmasst,
um sich die Bahnauslagen oder die Kosten der Wagenmiete zu ersparen,
hat die Absicht, sich unrechtmässig zu bereichern, aber nicht den Willen,
das Fahrzeug sich anzueignen. Umgekehrt führt nicht jede Aneignung einer
fremden Sache zu einer unrechtmässigen Bereicherung, so z.B. nicht,
wenn die Aneignung einen Akt unerlaubter Selbsthilfe darstellt oder wenn
gleichzeitig der Wert des angeeigneten Gegenstandes vergütet wird.

Erwägung 2

    2.- Aneignung bedeutet, dass der Dieb die fremde Sache oder den
Sachwert wirtschaftlich seinem eigenen Vermögen einverleibt, sei es, um
sie zu behalten oder zu verbrauchen, sei es, um sie an einen anderen zu
veräussern (ZÜRCHER, Prot. II. Exp. Komm. 2, S. 298; HAFTER, Bes. Teil
S. 229; LOGOZ a.a.O; SCHWANDER, a.a.O; FRANK, Kommentar zu § 242 DStGB
Anm.VII 2a; SCHÖNKE, Kommentar zu § 242 DStGB Anm. VII 2 a). Wer
unrechtmässig eine fremde Sache wegnimmt, um sie bloss vorübergehend
zu gebrauchen oder um lediglich den Eigentümer an der Ausübung der
Verfügungsgewalt zu hindern, indem er z.B. den Gegenstand versteckt,
handelt nicht mit Aneignungsvorsatz. Ebenso eignet sich der Täter die
fremde Sache nicht an, wenn er mit der Wegnahme den Zweck verfolgt,
den Gegenstand zu zerstören oder unbrauchbar zu machen. Solche Handlungen
können nach den Bestimmungen über die Sachbeschädigung (Art. 145 StGB), die
Sachentziehung (Art. 143 StGB) oder die Entwendung eines Motorfahrzeuges
zum Gebrauch (Art. 62 MFG) strafbar sein.

    Sachentziehung liegt auch vor, wenn die fremde Sache ohne
Bereicherungsabsicht angeeignet wird, so in Fällen unerlaubter Selbsthilfe.
Mit der Einführung der Bereicherungsabsicht hat der eidgenössische
Gesetzgeber den Diebstahlstatbestand und die anderen Aneignungsdelikte
bewusst eingeschränkt, sie anderseits aber dadurch ergänzt, dass er
die Sachentziehung vom Tatbestand der Eigentumsschädigung (Art. 88 des
Vorentwurfes von 1908) losgelöst und zu einem selbständigen Straftatbestand
erhoben hat. Durch diese Ordnung unterscheidet sich das schweiz. Strafrecht
von ausländischen Strafgesetzen, insbesondere vom deutschen (§ 242)
und französischen (Art. 379), die einen allgemeinen Straftatbestand der
Sachentziehung nicht kennen, dafür aber den Diebstahlsbegriff weiter
fassen und als Tatbestandsmerkmale nur die rechtswidrige Wegnahme in
Aneignungsabsicht fordern.

Erwägung 3

    3.- Nach der Feststellung des Obergerichts hat Rigolet die
Fahrzeuge nicht mit deren Entwendung sich angeeignet, sondern er hat
sie von Anfang an nur vorübergehend gebrauchen und dann stehen lassen
wollen. Nach Auffassung der Vorinstanz liegt jedoch die Aneignung in der
Dereliktion der Fahrzeuge, weil sie beweise, dass der Beschwerdeführer
nicht den Willen gehabt habe, sie ihren rechtmässigen Eigentümern
zurückzugeben. Damit verkennt sie den Begriff der Aneignung. Es genügt
nicht, dass der Täter die Sache, die er unrechtmässig weggenommen hat,
dem Eigentümer nicht zurückerstatten oder nicht wenigstens an den Ort
zurückbringen will, wo er sie entwendet hat. Diesen Willen hat auch
nicht, wer eine fremde Sache bloss beiseite schafft, um sie zu zerstören
oder dem Eigentümer aus Rache oder Bosheit dauernd vorzuenthalten. Der
Dieb, der die weggenommene Sache sich aneignet, will sie nicht nur dem
Eigentümer dauernd entziehen, sondern sie überdies seinem eigenen Vermögen
zuführen. Die Quasidereliktion des Beschwerdeführers hatte nicht diesen
Zweck; sie diente ihm im Gegenteil dazu, sich der vorübergehend angemassten
Verfügungsgewalt über die Fahrzeuge zu entledigen. Eine Aneignung könnte
darin höchstens gesehen werden, wenn die Preisgabe der Fahrzeuge als
Entäusserungsakt zugunsten eines Dritten aufzufassen wäre, dem Rigolet die
ausschliessliche Herrschaft hätte verschaffen wollen. Dafür liegt indessen
nichts vor. Übrigens weiss jedermann, dass ein entwendetes Fahrzeug,
das nach kurzem Gebrauch auf öffentlicher Strasse stehen gelassen wird,
regelmässig wieder in die Verfügungsgewalt des Berechtigten gelangt,
und damit rechnet der Strolchenfahrer auch.

Erwägung 4

    4.- Fehlt es am Tatbestandsmerkmal der Aneignung, so ist Art. 137 StGB
nicht anwendbar und der Beschwerdeführer in den angefochtenen Fällen von
der Anklage des Diebstahls freizusprechen. Da er nach der verbindlichen
Feststellung des Obergerichts in Bereicherungsabsicht gehandelt hat,
ist er nicht nach Art. 143 StGB, sondern gemäss Art. 62 MFG zu bestrafen.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Luzern vom 25. November 1958 aufgehoben und die
Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz
zurückgewiesen.