Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 146



85 IV 146

38. Urteil des Kassationshofes vom 12. August i.S. Polizeirichteramt der
Stadt Zürich gegen

    Illi.  Regeste

Art. 27 Abs. 1 MFG. Vortrittsrecht. Sorgfaltspflicht des
vortrittsbelasteten Führers. Geltung der Bestimmung auch im Verhältnis
von grossen zu kleinen Fahrzeugen (hier: Tolleybus-Moped).

Sachverhalt

A.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich büsste am 2. Oktober 1958
den Trolleybusführer Illi wegen Übertretung von Art. 27 Abs. 1 MFG
mit Fr. 15.-, weil er am 19. März 1958, um 20.00 Uhr, in der Kreuzung
Langstrasse /Stauffacherstrasse das Vortrittsrecht des Mopedfahrers Schmid
missachtet habe. Illi verlangte gerichtliche Beurteilung. Am 2. Juni
1959 hob der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich
die Strafverfügung gegen Illi auf und sprach den Beschuldigten
   frei.
B.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Einzelrichters sei aufzuheben und die Sache
zur Bestrafung des Beschwerdegegners an die Vorinstanz zurückzuweisen.
C.- Illi beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung

1.- Nach Art. 27 Abs. 1 MFG hat der Führer bei Strassenkreuzungen die
Geschwindigkeit seines Fahrzeuges zu mässigen und einem gleichzeitig von
rechts kommenden Motorfahrzeug den Vortritt zu lassen. Gleichzeitigkeit
ist nach ständiger Rechtsprechung gegeben, wenn der Vortrittsberechtigte
seine Fahrt an der Kreuzung nicht mit gleichmässiger Geschwindigkeit
fortsetzen könnte, ohne Gefahr zu laufen, mit dem von links kommenden
Fahrzeug zusammenzustossen (BGE 85 IV 86, 83 IV 97 und dort angeführte

    Entscheidungen).  Wie auch der Einzelrichter annimmt, hat demnach Illi
das Vortrittsrecht des Mopedfahrers objektiv unzweifelhaft verletzt. Denn
hätte er seine Geschwindigkeit vorschriftsgemäss herabgesetzt, so hätte
Schmid ungestört vor ihm durchfahren können, und die beiden Fahrzeuge
wären in der Kreuzung nicht
   zusammengestossen.

Erwägung

2.- Die Verletzung war aber auch eine schuldhafte. Nach der verbindlichen
Feststellung der Vorinstanz ist zugunsten Illis davon auszugehen, dass
er ungefähr 16 m vor dem Ende der Kreuzung nach rechts blickte und dass
der Mopedfahrer damals noch ca. 45 m von der Kollisionsstelle entfernt
war. Illi sah jedoch das Moped weder in diesem Moment noch später, sondern
wurde, wie er in der polizeilichen Einvernahme aussagte, erst durch den
Zusammenstoss auf dasselbe aufmerksam. Dass er es nicht schon bei der
Beobachtung nach rechts auf die Entfernung von 45 m wahrnahm, schreibt
er den schlechten Sichtverhältnissen zu (Nachtzeit und Regen). Diese
Erklärung mag zutreffen. Allein, wenn der Beschwerdegegner auf eine
Strecke von 45 m kein Fahrzeug sah, so berechtigte ihn das nicht zu der
vom Einzelrichter gebilligten Annahme, dass seine "Vortrittsverpflichtung"
nicht mehr aktuell werde und dass er sich infolgedessen um diese Seite des
Verkehrs nicht mehr zu kümmern brauche. Die Pflicht, welche Art. 27 Abs. 1
MFG dem Führer auferlegt, bleibt solange aktuell, als nicht mit Sicherheit
feststeht, dass kein Fahrzeug von rechts herannaht, das bei unverminderter
Geschwindigkeit gleichzeitig in der Kreuzung eintrifft. Diese Sicherheit
bestand für Illi nicht. Gegenteils
   musste
mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass während den fünf Sekunden,
die der Trolleybus nach der Feststellung der Vorinstanz bis zum Ende der
Kreuzung benötigte, ein anderes Fahrzeug aus der Entfernung von 45 m,
auf die Illi die Strasse noch frei gesehen hatte, an die Kreuzungsstelle
herangefahren sein werde; hiefür genügte eine Geschwindigkeit von bloss 30
km /Std., wie sie der Mopedfahrer tatsächlich gehabt hat. Dabei fällt die
Rechnung für den Beschwerdegegner noch deswegen etwas ungünstiger aus,
weil in den genannten fünf Sekunden erst die Spitze des Trolleybus das
Ende der Kreuzung erreichte, der Wagen sich also bis dahin noch der ganzen
Länge nach in der Kreuzung befand, weshalb der Mopedfahrer denn auch gegen
dessen Mitte stiess. Gerade die schlechte Sicht, der zufolge Illi den
Mopedfahrer nicht erblickte, als dieser bereits bis auf 45 m herangefahren
war, verpflichtete ihn zu besonderer Vorsicht. Nur wenn ihm Schmid in der
Folge durch ein Zeichen oder wenigstens durch entsprechendes Verlangsamen
der Fahrt zu verstehen gegeben hätte, dass er auf den Vortritt verzichte,
hätte Illi vor ihm durchfahren dürfen. Diese Voraussetzung traf nicht zu,
ja der Beschwerdegegner kümmerte sich, wie ausgeführt, überhaupt nicht
mehr darum, was auf der rechten Seite vorging.

Erwägung

3.- Es hilft ihm daher nicht, dass nach Art. 25 Abs. 1 MFG den Mopedfahrer
ebenfalls ein Verschulden trifft, sei es weil dieser den Trolleybus aus
Unaufmerksamkeit nicht rechtzeitig wahrnahm, sei es weil er den Vortritt
zu erzwingen suchte. Darf schon der Vortrittsberechtigte nicht unbekümmert
um die gegebenen Verkehrsverhältnisse auf seinem Recht beharren, so darf
umso weniger der Wartepflichtige im Vertrauen darauf, dass die andern
sein Fahrzeug sehen werden und keinen Zusammenstoss riskieren wollen, die
ihm nicht zustehende Vorfahrt erzwingen. Das gilt auch im Verhältnis von
grossen zu kleinen Fahrzeugen; es kann den Führern von Grosswagen nicht
zugestanden werden, sich auf die einschüchternde Wirkung ihrer Fahrzeuge
zu verlassen. Demgemäss ist für das Verschulden des Beschwerdegegners
auch unerheblich, ob der Mopedfahrer mit eingezogenem Kopfe fuhr und
ob er alkoholisiert war oder nicht. Richtigerweise hätte Illi wegen
fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs nach Art. 237 Ziff. 2 StGB
bestraft werden müssen. Der Beschwerdeantrag, an den der Kassationshof
gemäss Art. 277 bis Abs. 1 BStP gebunden ist, geht indessen nur auf
Verurteilung wegen Übertretung von Art. 27 Abs. 1 MFG.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof: Die Beschwerde wird gutgeheissen,
das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Bestrafung des
Beschwerdegegners wegen Übertretung von Art. 27 Abs. 1 MFG an den
Einzelrichter zurückgewiesen. Einzelrichter zurückgewiesen.