Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 14



85 IV 14

5. Auszug aus dem Urteil des Kassatlonshofes vom 23. Januar 1959
i.S. X. gegen Jugendanwaltschaft von Bern. Regeste

    Art. 93 Abs. 2 StGB. Voraussetzungen, unter denen die Versetzung
bzw. Einweisung des Jugendlichen in eine Strafanstalt zulässig ist.

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    X., geb. 1940, wurde 1953 wegen sittlicher Gefährdung und
fortgesetzter Geldentwendung nach Art. 84 Abs. 1 StGB in ein Erziehungsheim
eingewiesen. Nach seiner Entlassung trat er im Frühjahr 1956 nacheinander
zwei Arbeitsstellen an, war jedoch unzuverlässig, trieb mit homosexuellen
Männern widernatürliche Unzucht und machte sich des wiederholten Diebstahls
und der versuchten Entwendung eines Motorrollers zum Gebrauch schuldig. Im
April/Mai 1957 wiesen ihn deshalb die Berner Gerichte gemäss Art. 91
Ziff. 1 StGB in eine Erziehungsanstalt für Jugendliche ein. Nachdem
er schon während dieses Verfahrens in der Anstalt, in der er zur
psychiatrischen Beobachtung interniert worden war, die Flucht ergriffen
hatte, entwich er in den folgenden Monaten viermal aus zwei verschiedenen
Erziehungsanstalten, davon dreimal zusammen mit andern Zöglingen, und
beging mit diesen und weiteren Jugendlichen strafbare Handlungen. Ende
1957 wurde er deswegen des einfachen und bandenmässigen Diebstahls, der
Sachbeschädigung, der Entwendung von Motorfahrzeugen zum Gebrauch und
des Führens ohne Führerausweis schuldig erklärt und gestützt auf Art. 91
Ziff. 1 StGB wiederum in die Erziehungsanstalt eingewiesen. Wenige Tage
später entwich er abermals mit einem Zögling, entwendete zusammen mit
diesem einen Motorroller und stahl Kleider sowie einen Geldbetrag von
Fr. 800.--. Im Februar 1958 in die Erziehungsanstalt zurückversetzt,
flüchtete er nach kurzer Zeit erneut, und wenige Monate später entwich
er aus der Heil- und Pflegeanstalt, wo ihm während der psychiatrischen
Begutachtung versuchsweise gestattet wurde, in einem Unternehmen als
Hilfsarbeiter tätig zu sein. Darauf sprachen ihn das Jugendstrafamtsgericht
Bern und das Obergericht des Kantons Bern, dieses am 13. September 1958,
des wiederholten Diebstahls, der Entwendung eines Motorrollers zum Gebrauch
und des Führens eines Motorfahrzeuges ohne Führerausweis schuldig und
wiesen ihn in Anwendung von Art. 93 Abs. 2 StGB in eine Strafanstalt
ein. Die gegen dieses Urteil erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom
Bundesgericht abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Nach Art. 93 Abs. 2 StGB kann die zuständige Behörde
einen Jugendlichen, der das 18. Altersjahr erreicht hat, in eine
Strafanstalt versetzen, wenn er sich während des Anstaltsaufenthaltes
als unverbesserlich erweist oder wenn sein Verhalten eine Gefahr für
die Erziehung der übrigen Zöglinge bedeutet. Die Versetzung in die
Strafanstalt ist nicht Strafe für die beurteilten Verfehlungen, sondern
sie bleibt Massnahme mit der Besonderheit, dass die Anstaltsversorgung mit
den Mitteln der strafanstaltlichen Disziplin weitergeführt wird. Nach
den gesetzlichen Voraussetzungen dient sie einerseits dem Schutze
der Gesellschaft und der Zöglinge vor unverbesserlichen jugendlichen
Delinquenten, anderseits der Fortsetzung der Erziehung von Jugendlichen,
die noch besserungsfähig sind, wegen ihrer Gefährlichkeit aber nicht
in einer Erziehungsanstalt gehalten werden können. Bei der Schwere des
Eingriffes, den die Versetzung eines Jugendlichen in eine Strafanstalt
Erwachsener darstellt, dürfen die Voraussetzungen des Art. 93 Abs. 2
nicht leicht als erfüllt angenommen werden. Als unverbesserlich kann der
Jugendliche erst gelten, wenn die bisherigen erzieherischen Massnahmen
erweisen, dass er schlechthin unbeeinflussbar ist. Und eine Gefahr für die
Erziehung der übrigen Zöglinge bedeutet das Verhalten eines Jugendlichen
nur, wenn er die Tätigkeit des Anstaltspersonals so schwer beeinträchtigt,
dass der Erfolg der gesamten Anstaltserziehung unmittelbar gefährdet ist.

    Die Vorinstanz hält den Beschwerdeführer nicht für unverbesserlich,
aber für die Erziehungsanstalt nicht mehr tragbar. Sie geht davon aus,
er bedeute mit seinem frechen und auflehnenden Benehmen und wegen seiner
Fluchtversuche eine Gefahr für die Erziehung der übrigen Zöglinge
und erschwere zugleich die Arbeit der Anstaltsorgane in unzumutbarer
Weise. Unter Verhältnissen, wie den vorliegenden, wo ein Zögling
durch widerspenstiges Verhalten die Anstaltsdisziplin fortgesetzt
stört und namentlich durch immer wiederkehrende Entweichungen und die
im Zusammenhang damit begangenen Straftaten auf die mitbeteiligten und
andere Insassen einen besonders schädlichen Einfluss ausübt, kann dessen
Versetzung in eine Strafanstalt materiellrechtlich nicht beanstandet
werden. Formell handelt es sich hier freilich um eine Neueinweisung
und nicht um die Änderung einer schon bestehenden Massnahme, wie das
Gesetz nach dem Randtitel zu Art. 93 voraussetzt. Allein nach den beiden
erfolglosen Einweisungen des Beschwerdeführers in eine Erziehungsanstalt
für Jugendliche kann bei seiner sozialen Gefährlichkeit vorausgesehen
werden, dass sich eine Versetzung in eine Strafanstalt innert kurzem doch
aufdrängen würde. Sollen die jugendstrafrechtlichen Massnahmen ihren Zweck
erfüllen, muss in solchen Fällen dem Richter, der über neue Straftaten zu
urteilen hat, die Befugnis zustehen, an Stelle eines weiteren unnützen
Versuches in einer Erziehungsanstalt direkt die allein als zweckmässig
erscheinende Einweisung in eine Strafanstalt anzuordnen.