Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 136



85 IV 136

35. Urteil des Kassationshofes vom 22. September 1959 i.S. Baumann gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 237 StGB ist auch anwendbar, wenn die Gefahr, welche nach dem
normalen Gang der Dinge nahe lag, durch Zufall oder das Verhalten eines
Beteiligten abgewendet wird.

Sachverhalt

    A.- Baumann führte am 1. Oktober 1956 in Emmen einen Personenwagen
"Morris" durch die rund 5 m breite, beidseitig stark bebaute Sedelstrasse,
die an unübersichtlicher Stelle die Buchenstrasse kreuzt. Als sich Baumann
mit einer Geschwindigkeit von mindestens 30 km/Std. der Kreuzung näherte,
gewahrte er auf eine Entfernung von 5-6 m einen von Käppeli geführten
Lastwagen, der mit einer Geschwindigkeit von ca. 13 km/Std. von rechts
aus der Buchenstrasse in die Kreuzung fuhr. Baumann beschleunigte sein
Fahrzeug, in der Meinung, er komme noch vor dem Lastwagen durch, konnte
aber, obschon der Lastwagenführer sofort bremste, nicht verhindern,
dass die hintere rechte Seite seines Wagens die vordere Stossstange
des Lastwagens streifte. Durch den Anprall geriet der Personenwagen
ins Schleudern, rollte zunächst an den linken, dann an den rechten
Strassenrand und kam, nachdem er sich um die eigene Achse gedreht hatte,
an einer Gartenmauer zum Stillstand. Sachschaden von Bedeutung entstand
bloss am Personenwagen. Personen wurden nicht verletzt.

    B.- Das Amtsgericht Hochdorf verurteilte Baumann am 19.  März 1959
wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs gemäss Art.
237 Ziff. 2 StGB zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von
Fr. 30.-. Es warf ihm vor, er habe infolge übersetzter Geschwindigkeit
Art. 25 und wegen Missachtung des Vortrittsrechts Art. 27 MFG verletzt
und dadurch den Verkehr bzw. den Lastwagenführer Käppeli gefährdet.

    C.- Baumann führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei
freizusprechen. Er macht geltend, Art. 237 StGB sei nicht anwendbar,
weil die von der Rechtsprechung vorausgesetzte konkrete Gefährdung eines
Verkehrsteilnehmers fehle; eine Verurteilung bloss wegen Widerhandlung
gegen Vorschriften des MFG aber sei zufolge Verjährung ausgeschlossen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 237 StGB ist der öffentliche Verkehr schon dann
gefährdet, wenn der Täter Leib und Leben einer einzelnen Person in Gefahr
bringt, vorausgesetzt, dass die Gefährdung eine konkrete und nicht bloss
abstrakte ist, d.h. dass für die Verletzung oder Tötung eines Menschen
nicht nur eine entfernte Möglichkeit, sondern eine nahe und ernstliche
Wahrscheinlichkeit besteht (BGE 71 IV 100; 73 IV 183, 235; 76 IV 124).

    Inwiefern diese Voraussetzung im vorliegenden Falle durch den Anprall
des Personenwagens erfüllt worden sein soll, wie die Vorinstanz angenommen
hat, ist nicht zu ersehen. Die Gefährdung, welcher der Lastwagenführer in
dem Augenblick ausgesetzt war, als der Personenwagen des Beschwerdeführers
mit der vorderen Stossstange des nahezu stillstehenden Lastwagens
zusammenstiess, hat sich im Anprall voll ausgewirkt, und zwar mit dem
Erfolg, dass weder Käppeli verletzt wurde, noch am Lastwagen Sachschaden
von Bedeutung entstand. Das beweist, dass der Anprall ein leichter war und
dieser nicht eine konkrete Gefahr für Leib und Leben des Lastwagenführers
mit sich brachte.

    Ob eine konkrete Gefährdung bestanden habe, beurteilt sich indessen
nicht allein nach dem, was schliesslich eingetreten ist, sondern es
kommt auch darauf an, ob das Ereignis, so wie es sich abgespielt hat,
nach dem normalen Gang der Dinge die Verletzung eines Menschen ernstlich
wahrscheinlich gemacht habe. Die Rechtsprechung hat stets angenommen, dass
Art. 237 StGB auch dann anwendbar sei, wenn der Eintritt eines schädigenden
Erfolges durch Zufall oder das Verhalten eines Beteiligten verhütet
worden ist (BGE 72 IV 27 Erw. 2; 73 IV 183; Urteil des Kassationshofes
vom 12. November 1948 i.S. Hartmann).

    So verhielt es sich auch hier. Käppeli hat, wie sich aus den
Situationsplänen ergibt, den Wagen Baumanns wahrgenommen, sobald
dieser für ihn sichtbar war, und er hat noch vor Ablauf der Sekunde,
die bis zur Kollision verstrich, den Lastwagen wirkungsvoll zu
bremsen begonnen. Er war somit auf die Gefahr, die ihm aus dem nicht
mehr vermeidbaren Zusammenstoss drohte, gefasst und hat überdies
durch Verzögerung der eigenen Fahrgeschwindigkeit die Wucht des
bevorstehenden Zusammenpralles herabgesetzt. Dieses Verhalten war
jedoch nicht selbstverständlich. Ebensogut hätte ein Gangwechsel oder
eine andere notwendige Manipulation die Aufmerksamkeit Käppelis während
der kritischen Sekunde in Anspruch nehmen können, und desgleichen wäre
es möglich gewesen, dass er in jenem Augenblick sein Augenmerk auf den
Rechtsverkehr gerichtet hätte, aus der Überlegung, dass er gegenüber den
von links kommenden Fahrzeugen den Vortritt habe. Es hing also weitgehend
vom Zufall und von der raschen Reaktion des Lastwagenführers ab, dass
er noch vor dem Zusammenstoss den mit übersetzter Geschwindigkeit in die
Kreuzung fahrenden Wagen Baumanns bemerkte und den Lauf seines Fahrzeuges
abzubremsen vermochte. Unter solchen Umständen war die Möglichkeit,
dass der Zusammenstoss den Lastwagenführer völlig überraschen und einen
stärkeren Schlag als den eingetretenen hervorrufen konnte, ernsthaft in
die Nähe gerückt. Die Gefahr einer Verletzung war nicht mehr bloss eine
abstrakte, sondern eine konkrete. Denn wenn der Anprall stärker gewesen
und für Käppeli unerwartet gekommen wäre, hätte dieser leicht nach vorne
geworfen werden und sich dabei an einem vorstehenden Fahrzeugteil oder
an einer Kante eine Verletzung zuziehen können. Dass die Gefährdung eine
erhebliche gewesen wäre, setzt Art. 237 StGB nicht voraus.

Erwägung 2

    2.- Den subjektiven Tatbestand bestreitet der Beschwerdeführer mit
Grund nicht. Er ist daher zu Recht nach Art. 237 Ziff. 2 StGB bestraft
worden. Die Frage, ob er dann, wenn dieser Tatbestand nicht erfüllt wäre,
zufolge Verjährung nicht mehr wegen Widerhandlung gegen das MFG bestraft
werden könnte und demgemäss straffrei bleiben müsste, stellt sich somit
nicht.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.