Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 122



85 IV 122

32. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. September 1959
i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 69, 110 Ziff. 7 StGB. Die Internierung in der Heil- und
Pfiegeanstalt ist nur dann als Untersuchungshaft zu behandeln, wenn der
Freiheitsentzug in der Anstalt demjenigen im Untersuchungsgefängnis im
wesentlichen gleichkommt.

Auszug aus den Erwägungen:

    Als Untersuchungshaft gilt nach dem Strafgesetz jede in einem
Strafverfahren verhängte Haft, Untersuchungswie Sicherheitshaft (Art. 110
Ziff. 7 StGB), also jede Haft, die im Interesse der Strafverfolgung bis
zur letztinstanzlichen Urteilsfällung angeordnet wird, gleichgültig, ob
sie Untersuchungszwecken oder der Sicherstellung der Person des Täters
diene. Was unter Haft zu verstehen ist, sagt das Strafgesetz nicht. Nach
allgemeinem Sprachgebrauch bedeutet sie Entziehung der Freiheit und zwar,
wie die Strafprozessordnungen zeigen, regelmässig durch Verwahrung des
Beschuldigten in der Einzelzelle eines Gefängnisses, wo er sich einer
strengen Anstaltsordnung und einer peinlichen Überwachung des Verkehrs
mit der Aussenwelt zu unterwerfen hat (vgl. u.a. Basel-Stadt § 56; Bern
Art. 124; Luzern §§ 84 f., 87; Zürich § 76; Art. 48 BStP).

    Die Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt, die ein
Untersuchungsbeamter oder Richter nach Art. 13 StGB zur Abklärung des
zweifelhaften Geisteszustandes eines Beschuldigten angeordnet hat, stellt
eine Untersuchungsmassnahme dar, die im Interesse der Strafverfolgung
liegt. Das und der Aufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt als
solcher, möge er auch längere Zeit dauern, genügen aber nicht, um die
Internierung der Untersuchungshaft gleichzustellen. Der eines Verbrechens
oder Vergehens Beschuldigte hat die Beschränkung seiner persönlichen
Freiheit, welche das gegen ihn durchgeführte Strafverfahren notwendig
mit sich bringt, als Folge seines Verhaltens auf sich zu nehmen. Es
würde denn auch niemandem einfallen, einem Verurteilten, der in einer
langwierigen Strafuntersuchung sich jederzeit dem Untersuchungsbeamten
zur Verfügung zu halten und sich zahllosen Verhören, Konfrontationen
mit Zeugen und Einvernahmen durch Sachverständige zu unterziehen hatte,
den Zeitaufwand und Verdienstausfall zu entschädigen, und sei es auch
nur durch Verkürzung der verwirkten Strafe. Das Strafgesetz lässt eine
solche Massnahme nur im Falle der Untersuchungshaft zu, und auch hier
nicht, weil sich die Anrechnung als selbstverständlich aufdrängte,
sondern bloss aus Gründen der Billigkeit, davon ausgehend, dass die
Untersuchungshaft in ihren Auswirkungen dem Vollzug der Freiheitsstrafe
praktisch gleichkommt. Es verstiesse demnach gegen die ratio des Art. 69
StGB, wenn der Aufenthalt in einer Heil- und Pflegeanstalt, sei es zum
Zwecke der Pflege, sei es zum Zwecke der psychiatrischen Begutachtung,
schon deshalb als Untersuchungshaft behandelt würde, weil die Einweisung
des Beschuldigten zwangsmässig erfolgte und die persönliche Freiheit
des Eingewiesenen durch die Anstaltsordnung eingeschränkt wird. Eine
Gleichstellung kann nach dem Grundgedanken, den Art. 69 zum Ausdr ck
bringt, nur statthaft sein, wenn der Freiheitsentzug in der Anstalt
demjenigen im Untersuchungsgefängnis im wesentlichen gleichkommt. Das
setzt voraus, dass der Beschuldigte in der Anstalt annähernd den gleichen
Lebensbedingungen unterworfen ist, wie sie nach den kantonalen Vorschriften
einem Untersuchungsgefangenen normalerweise auferlegt werden, soweit der
Zweck der Einweisung und der Anstaltsbetrieb nicht Abweichungen notwendig
machen; zum mindesten muss die Bewegungsfreiheit nach aussen unterbunden
sein und der Verkehr mit der Aussenwelt den bei der Untersuchungshaft
üblichen Beschränkungen unterliegen.

    Es versteht sich von selbst, dass auch dann, wenn der Aufenthalt in
der Heil- und Pflegeanstalt die besonderen Merkmale der Untersuchungshaft
aufweist, die Anrechnung im Sinne des Art. 69 StGB insoweit ausgeschlossen
ist, als dem Beschuldigten ein Verhalten nach der Tat zur Last fällt,
durch das er die Einweisung herbeigeführt oder den Zwangsaufenthalt
verlängert hat.