Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 II 297



85 II 297

48. Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Oktober 1959 i.S. Th. gegen Th.
Regeste

    Wohnsitz der Ehefrau. Gerichtsstand für die Scheidungsklage.

    Hat sich die Ehefrau kraft einer ihr nach Art. 170 Abs. 1 ZGB
zustehenden Berechtigung an einem andern Orte fest im Sinne von Art. 23
Abs. 1 ZGB niedergelassen, so hat sie dort ihren einzigen Wohnsitz (Art. 25
Abs. 2 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 ZGB), der für sie selbst wie auch
für Dritte massgebend ist und insbesondere den Gerichtsstand für eine
von ihr beabsichtigte Scheidungsklage nach Art. 144 ZGB bestimmt (Erw. 1).

    Wird eine an diesem Ort angehobene Scheidungsklage abgewiesen mit
der Begründung, die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft sei für die
Klägerin nicht unzumutbar geworden (Art. 142 Abs. 1 ZGB), so ist damit
der Frage nicht vorgegriffen, ob Gründe zum Getrenntleben im Sinne von
Art. 170 Abs. 1 ZGB (weiterhin) bestehen (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Die seit 1948 verheirateten Parteien wohnten in Volketswil, Kanton
Zürich, wo der Ehemann eine Schreinerei betrieb. Am 1. Februar 1955
geriet er in Konkurs. Vor der Versteigerung des Hauses vereinbarten
die Parteien, dass die Ehefrau mit Rücksicht auf den geschwächten
Zustand ihrer Nerven mit den drei der Ehe entsprossenen Kindern für
kürzere Zeit zu ihren Eltern nach Niederuzwil, Kanton St. Gallen, in
die Ferien gehe. Dieses Vorhaben wurde am 18. Juni 1955 ausgeführt. Am
30. desselben Monats liess die Ehefrau dann aber auch sämtlichen Hausrat
nach Niederuzwil bringen. Am 18. Juli 1955 nahm sie in der Nähe, in
Flawil, eine Bürostelle an und erhielt im Laufe des Herbstes 1955 von
der Gemeinde Henau die Niederlassungsbewilligung. Sie ist bisher in
Niederuzwil wohnen geblieben und übt fortdauernd ihre Berufstätigkeit aus.

    B.- Am 4. Februar 1956 hob sie beim Vermittleramt Henau eine
Scheidungsklage an. Der Ehemann bestritt die Zuständigkeit der
st.gallischen Gerichte ohne Erfolg. Das Bezirksgericht Untertoggenburg
anerkannte einen selbständigen Wohnsitz der Ehefrau in Niederuzwil sowohl
deshalb, weil der Wohnsitz des Ehemannes bei Klageanhebung nicht bekannt
gewesen sei, wie auch deshalb, weil die Ehefrau wegen Gefährdung ihres
wirtschaftlichen Auskommens zum Getrenntleben berechtigt sei. Das
Kantonsgericht St. Gallen bejahte den von der Ehefrau in Anspruch
genommenen Gerichtsstand aus dem ersten Grunde, ohne den zweiten zu
prüfen. Die Scheidungsklage wurde in erster Instanz gutgeheissen, vom
Kantonsgericht dagegen am 17. März 1958 abgewiesen. Die Entscheidungsgründe
schliessen mit folgenden Ausführungen:

    "Als die Klägerin noch nur auf ihre eigene innere Stimme hörte,
fand sie trotz Konkurs und Andersartigkeit des Beklagten ein weiteres
Zusammenleben mit ihm nicht untragbar. Der Ehemann hat ihr, wie aus
allen seinen Äusserungen ersichtlich ist, im Grunde die anfängliche
starke Liebe bewahrt. Bei dieser Sachlage muss im Zweifel zugunsten der
Ehe entschieden, der Klägerin die Wiederaufnahme bzw. Weiterführung der
ehelichen Gemeinschaft zugemutet und damit die Klage in Aufhebung des
erstinstanzlichen Urteils als unbegründet erklärt und abgewiesen werden."

    C.- Anfangs September 1958 erhob die in Niederuzwil verbliebene Ehefrau
eine neue, in erster Linie auf Art. 137 ZGB gestützte Scheidungsklage beim
Bezirksgericht Zürich, d.h. am Wohnsitz des Ehemannes. Dieser bestritt die
örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes nicht, doch erklärte das
Bezirksgericht sich mit Hinweis auf den selbständigen Wohnsitz der Ehefrau
nach Art. 25 Abs. 2 und Art. 170 Abs. 1 ZGB als örtlich unzuständig und
wies die Klage von der Hand. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte
diesen Entscheid am 4. April 1959.

    D.- Mit vorliegender Berufung an das Bundesgericht stellt die
Ehefrau den Antrag, "das angefochtene Erkenntnis sei aufzuheben und
das Bezirksgericht Zürich anzuweisen, die Scheidungsklage materiell
zu behandeln."

    Der Ehemann enthält sich eines Antrages.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Für die Scheidungsklage ist der Richter am Wohnsitz des klagenden
Ehegatten zuständig (Art. 144 ZGB). Dieser Gerichtsstand ist, soweit
nicht abweichende Bestimmungen des NAG eingreifen (was hier nicht in
Betracht kommt), zwingend, also der Verfügung der Parteien entzogen. Die
Stellungnahme des Beklagten zur Zuständigkeitsfrage ist daher ohne Belang.

    Daraus folgt, dass die Ehefrau, falls sie einen von dem des Ehemannes
verschiedenen selbständigen Wohnsitz hat, eine Scheidungsklage nur an
diesem Ort und nicht nach ihrer Wahl am Wohnsitz des Ehemannes anbringen
kann. Mit Recht haben die Vorinstanzen daher geprüft, ob Niederuzwil,
wo die Klägerin seit mehreren Jahren vom Beklagten getrennt wohnt, auf
Grund von Art. 25 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 170 Abs. 1 ZGB als ihr
selbständiger Wohnsitz zu gelten habe. Ist dies der Fall, so wurde die
Klage in Zürich in der Tat nicht zuständigen Ortes angebracht.

    Gewöhnlich beruft sich nun freilich eine Ehefrau mit selbständigem
Wohnsitz auf diesen und nimmt den damit gegebenen Gerichtsstand für die
Scheidungsklage in Anspruch. Erhebt sie, obwohl vom Manne getrennt lebend,
eine solche Klage am Wohnsitz des Mannes, so hat der Richter jedoch die
Wohnsitzfrage von Amtes wegen zu prüfen, da die örtliche Zuständigkeit des
Gerichtes eben nur am Wohnsitz des klagenden Ehegatten gegeben ist. Dem
steht nicht entgegen, dass die zum Getrenntleben berechtigte Ehefrau nach
Art. 25 Abs. 2 ZGB einen selbständigen Wohnsitz haben "kann", also nicht
muss. Damit ist nur gesagt, es stehe der Ehefrau, auch wenn ein Grund zum
Getrenntleben im Sinne von Art. 170 Abs. 1 ZGB besteht, frei, von ihrem
Rechte Gebrauch zu machen, d.h. einen selbständigen Wohnsitz zu nehmen,
oder nicht. Trennt sie sich aber infolge einer solchen Berechtigung
vom Manne und lässt sie sich im Sinne von Art. 23 Abs. 1 ZGB an einem
andern Orte dauernd nieder, so begründet sie damit einen selbständigen
Wohnsitz. Dessen rechtlicher Bestand ergibt sich dann als Folge der
tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse der Ehefrau auf Grund einer
gesetzlichen Berechtigung (wofür es nach ständiger Rechtsprechung keiner
gerichtlichen Bewilligung bedarf; vgl. statt vieler BGE 41 I 109, 42 I 95
und 145, 54 I 115, 64 II 397; daran wurde trotz einzelner abweichender
Lehrmeinungen, worauf BGE 79 II 126 hinweist, festgehalten: BGE 83 II
496 ff.). "Kann" sie beim Vorliegen eines Grundes zum Getrenntleben
beim Ehemann bleiben oder aber einen selbständigen Wohnsitz nehmen,
so ist, wenn sie im zweiten Sinne handelt, der selbständige Wohnsitz
als einziger gegeben (Art. 23 Abs. 2 ZGB) und wie für Dritte so auch
für die Ehefrau selbst massgebend (vgl. GMÜR, N. 5 zu Art. 144 ZGB;
Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 82 S. 434; TH. HOLENSTEIN,
Der privatrechtliche Wohnsitz..., S. 93 ff.).

Erwägung 2

    2.- Nun bejaht die Vorinstanz die Berechtigung der Klägerin zum
Getrenntleben gemäss deren eigenen Vorbringen, wie die Klägerin denn
auch in der Berufungsschrift diesen Standpunkt einnimmt. Wie sie zur
Begründung der Klage ausführte und das Obergericht als erwiesen annimmt,
erbringt der Beklagte keine Unterhaltsleistungen für die Kinder. Er tat
es auch nicht während des ersten Scheidungsprozesses, als er dazu durch
gerichtliche Verfügung verpflichtet war. In einer Betreibung ergab sich,
dass er in letzter Zeit etwa als Hilfsarbeiter tätig gewesen, zeitweise
aber keiner Arbeit nachgegangen sei. Aus diesen den Vorbringen der
Klägerin entsprechenden Tatsachen durfte das Obergericht folgern, jene
sei fortwährend zum Getrenntleben berechtigt. Und dass sie tatsächlich
einen von dem des Ehemannes getrennten Wohnsitz genommen hat, steht
vollends fest.

Erwägung 3

    3.- Nichts Abweichendes ergibt sich aus dem die erste Scheidungsklage
abweisenden Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen, wonach der Klägerin
"die Wiederaufnahme bzw. Weiterführung der ehelichen Gemeinschaft"
zugemutet wurde. Es handelte sich damals um die Anwendung von Art. 142
Abs. 1 ZGB, nicht um eine Entscheidung nach Art. 170 Abs. 1 ZGB. Die
Verneinung einer tiefen Zerrüttung der Ehe im Sinne jener Bestimmung liess
die Möglichkeit bestehen, dass der klagende Ehegatte triftige Gründe,
bis auf weiteres getrennt zu leben, im Sinne der zweiten Vorschrift
hatte. Art. 170 ZGB ist im Titel über die Wirkungen der Ehe, und zwar im
Unterabschnitt über den Schutz der Gemeinschaft eingereiht. Dabei ist eine
Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes grundsätzlich als vorübergehende
Massnahme gedacht, wie denn der französische Randtitel zutreffend von
blosser "suspension de la vie commune" spricht (vgl. auch BGE 72 II 56,
74 II 178, 80 I 308 betreffend die Rechtsnatur der Entscheidungen über
Eheschutzmassnahmen). Braucht einerseits eine tiefe Ehezerrüttung keinen
Grund zu bilden, den gemeinsamen Haushalt aufzuheben, solange keine
Scheidungs- oder Trennungsklage angehoben ist (Art. 170 Abs. 2 ZGB; BGE
79 II 128), so ist anderseits mit der Abweisung einer Scheidungsklage
mangels der Voraussetzungen des Art. 142 Abs. 1 ZGB nicht zugleich
ausgesprochen, der klagende Ehegatte habe keinen Grund, bis auf weiteres
gemäss Art. 170 Abs. 1 ZGB getrennt zu leben. Der auf dieser Grundlage
beruhende selbständige Wohnsitz der Klägerin, dessen Bestehen die
Vorinstanz nach dem Gesagten einwandfrei bejaht hat, wird somit durch
das die erste Scheidungsklage abweisende Urteil nicht berührt.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des
Kantons Zürich, I. Zivilkammer, vom 4. April 1959 bestätigt.