Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 II 226



85 II 226

36. Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. September 1959
i.S. H. gesch. F. gegen F. Regeste

    Gestaltung der Elternrechte bei Ehescheidung. Art. 156 ZGB.

    1.  Tragweite des Grundsatzes, dass kleine Kinder in der Regel der
Mutter zuzuweisen sind (Erw. 1).

    2.  Über das Besuchsrecht und die Unterhaltspflicht des Ehegatten,
dem die Kinder nicht zugeteilt werden, hat der Scheidungsrichter von Amtes
wegen, also auch, wenn kein dahingehender Antrag einer Partei vorliegt,
zu entscheiden (Erw. 2).

    3.  Ist die Scheidung in Rechtskraft erwachsen und vor Bundesgericht
nur noch die Gestaltung der Elternrechte streitig, so kann das
Bundesgericht über die Zuweisung der Kinder entscheiden und die Regelung
des Besuchsrechtes und der Unterhaltspflicht, sofern es hiefür noch der
ergänzenden Feststellung der Verhältnisse bedarf, dem kantonalen Gericht
aufgeben. Art. 64 OG. (Erw. 2 Schluss).

Sachverhalt

    A.- Die Parteien liessen sich am 12. November 1955 trauen. Der Mann
ist 1923 geboren, die Frau 1926. Sie ist Deutsche von Geburt und war
früher in Deutschland verheiratet. Nachdem der erste Ehemann im Kriege
gefallen war, hatte sie 1947 ausserehelich ein Kind, das sich bei ihr
befindet. Vor der neuen Ehe arbeitete sie in Zurzach, wo sie den künftigen
zweiten Ehemann kennen lernte. Sie wurde von ihm schwanger und gebar am 12.
April 1955 einen Knaben P., der durch die nachfolgende Heirat der Eltern
ehelich wurde.

    B.- Infolge der in der Ehe eingetretenen Zerwürfnisse klagte der
Ehemann Ende August 1957 beim Bezirksgericht Zurzach auf Scheidung. Für die
Dauer des Prozesses wurde der gemeinsame Haushalt aufgehoben. Der Richter
wies die Beklagte an, das Haus des Klägers in Rietheim zu verlassen,
und sprach ihr den Knaben P. für die Prozessdauer zu.

    C.- Beide kantonalen Instanzen sprachen die Scheidung in Anwendung
von Art. 142 ZGB aus. Den Knaben P. unterstellten sie der elterlichen
Gewalt des Klägers. Das Besuchsrecht der Beklagten wurde in der Weise
geordnet, dass sie den Knaben alle zwei Wochen einen halben Tag besuchen
oder auf Besuch abholen und jedes Jahr während zweier Wochen in die Ferien
nehmen könne.

    D.- Gegen das obergerichtliche Urteil vom 6. März 1959 hat die Beklagte
binnen gesetzlicher Frist Berufung an das Bundesgericht eingelegt. Sie
verlangt die Aufhebung der die Kindeszuteilung betreffenden Ziffern 2 und
3 des Scheidungsurteils und die Zuweisung des Knaben an sie, eventuell
die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz "zur Zusprechung des Knaben
... an die Berufungsklägerin".

    Der Kläger trägt auf Abweisung der Berufung an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zur bessern Abklärung der für die Gestaltung der Elternrechte
massgebenden Verhältnisse holte das Bezirksgericht bei Dr. Bressler, Leiter
der psychiatrischen Beratungsstelle in Brugg, den die Parteien mehrmals
aufgesucht hatten und den sie nun von der ärztlichen Schweigepflicht
entbanden, einen Bericht ein über die Frage, "ob der eine oder andere
der Ehegatten, bzw. beide Eheleute, charakterlich zur Ausübung der
elterlichen Gewalt geeignet sind". Der Berater war, wie er ausführt,
anfänglich geneigt, die Hauptschuld am Misslingen der Ehe bei der Frau zu
suchen. Diese erschien ihm damals nervös, aufgeregt und lärmig. Dieser
Eindruck "verschob sich aber allmählich ganz deutlich zu Ungunsten des
Mannes". Es drängte sich, ohne dass seine berufliche Tüchtigkeit in
Frage zu stellen wäre, der Verdacht auf, als seien ihm Herzlichkeit,
Liebe, Opferbereitschaft, Selbstentäusserung im Verhältnis zu seiner
Familie fremd. Sein Wesen schien zu sehr von Ehrgeiz, Geltungssucht nach
aussen, Ichbezogenheit erfüllt. Die Frau erschien unbeherrschter und auch
selbstunsicherer als der Gatte, "zugleich aber auch wirklich leidender und
opferbereiter". "Bei all ihrer teilweise etwas fragwürdig erscheinenden
Vorgeschichte, bei ihrer vermutlichen Unterlegenheit an Intelligenz
ihm gegenüber, wirkte sie auf uns doch viel echter und hingabefähiger."
Die Antwort auf die Frage des Gerichtes lautet dahin, "dass sicherlich
keine absoluten Gründe gegen eine Zuteilung an Vater oder Mutter sprechen.
Es möchte uns aber bei der vorgängigen Charakteristik beider Eltern doch
bedünken, als ob der Bub bei seiner Mutter besser, vor allem menschlich
wärmer, aufgehoben wäre als bei seinem Vater".

    Die kantonalen Gerichte lassen diese Würdigung der Wesensart der
beiden Eltern an und für sich gelten. Es ist nicht die Rede davon, dass
ein Grund im Sinne von Art. 285 ZGB vorläge, dem einen oder andern von
ihnen die elterliche Gewalt vorzuenthalten bzw. zu entziehen. Die Frage,
welchem von beiden die während der Prozessdauer von der Mutter ausgeübte
elterliche Gewalt zuzuweisen sei, glauben aber beide kantonalen Instanzen
(je mehrheitlich) abweichend von der Meinung des Eheberaters entscheiden
zu sollen. Das Obergericht erklärt zusammenfassend, die Beklagte biete
weniger Garantie für eine richtige Erziehung des Knaben als der Kläger. Die
Begründung verweist in erster Linie auf den "wenig vertrauenerweckenden
Werdegang" der Beklagten, weshalb deren Zukunft als "sehr unsicher"
erscheine. In sittlicher Beziehung wird ihr vorgehalten, sie habe schon
mit 17 Jahren die erste Ehe geschlossen, als Witwe (1947) ausserehelich
geboren, nach ihrer Einreise in die Schweiz einen "sexuell ungeordneten
Lebenswandel" geführt, sich in der Folgezeit dem Kläger ohne längere
Bekanntschaft hingegeben und sichtlich eine Ehe mit ihm gesucht, ohne
jedoch imstande gewesen zu sein, eine gute Ehe zu gestalten. Es sei daher
"keinerlei Gewähr dafür vorhanden, dass sie sich richtig aufgefangen hat
und ihren Kindern eine gute Mutter sein wird". Der geschilderte Lebensgang
vermag aber keine erheblichen Bedenken gegenüber einer Zuweisung des Knaben
an die Mutter zu rechtfertigen. Von den erwähnten Tatsachen könnte nur der
"sexuell ungeordnete Lebenswandel" (worüber das angefochtene Urteil nichts
Näheres feststellt) aus der Zeit vor der Bekanntschaft mit dem Kläger
eine Rolle spielen. Indessen lässt sich aus diesem weit zurückliegenden,
unbestimmten Sachverhalt nicht auf eine dauernde sittliche Gefährdung
der Beklagten und damit auch der ihr anvertrauten Kinder schliessen,
wie denn sonst nicht verständlich wäre, dass der Richter ihr den Knaben
für die Dauer des Rechtsstreites zugewiesen hat. Die aussereheliche
Geburt während ihres Witwenstandes, vor zwölf Jahren, und die ungehemmte
Hingabe an den Kläger sind vollends keine Tatsachen, die ihre Eignung
zur Erziehung des Knaben in Frage zu stellen vermögen. Seit dessen Geburt
ist nichts vorgefallen, was die Beklagte in sittlicher Hinsicht belasten
würde. Namentlich hat sie das Vertrauen des Richters, der ihr den Knaben
für die Prozessdauer überliess, nicht getäuscht. Es ist nicht die Rede
davon, dass die Vormundschaftsbehörde wegen irgendwelcher Verletzung oder
Vernachlässigung der Betreuungs- und Erziehungspflichten hätte einschreiten
müssen. Und was die unangenehmen Seiten ihres Charakters betrifft, so
stehen ihnen nach dem in seiner Richtigkeit nicht angezweifelten Befund
des Eheberaters Dr. Bressler mütterliche Eigenschaften gegenüber, die,
alles in allem genommen, nach Ansicht des Eheberaters die Zuweisung an
sie als wünschbar erscheinen lassen.

    Die Vorinstanz zieht allerdings noch einen Selbstmordversuch der
Beklagten vom Jahre 1951 und "verschiedene Selbstmorddrohungen im Laufe
der Ehe mit dem Kläger" in Betracht. Allein jener Selbstmordversuch dürfte
wesentlich durch die damaligen unsichern Lebensverhältnisse der Beklagten
mitbedingt gewesen sein. Was aber die dem Kläger gegenüber bei ehelichen
Auftritten ausgestossenen Drohungen mit Selbstmord und andern gefährlichen
Handlungen betrifft, so handelte es sich offenbar um Lärmszenen, denen
keine grosse Tragweite beizumessen ist (abgesehen von dem Verschulden an
der Zerrüttung der Ehe). Jedenfalls ist eine ernstliche Gefährdung des
Knaben nicht dargetan.

    Endlich hat sich das Obergericht für die Zuweisung des Knaben an den
Vater entschieden, weil dieser bessere Erziehungsmöglichkeiten besitze,
"zumal wenn er, wie er zugesichert hat, den Knaben seiner Schwester
Frau K. übergibt, die ihn bei sich aufnehmen kann und deren Familie
laut Bericht des Gemeinderates in geordneten Verhältnissen lebt und gut
beleumdet ist". Gewiss ist damit dargetan, dass der Knabe bei Zuweisung
an den Vater, obwohl dieser ihn nicht bei sich haben könnte, in gute
Obhut käme. Allein dies vermag den Wert der Erziehung durch die eigene
Mutter nicht aufzuwiegen, selbst wenn deren äussere Lebensumstände nicht
von vornherein auf weite Sicht gefestigt sind. Die mütterliche Liebe
verdient bei der Zuweisung kleiner Kinder in erster Linie berücksichtigt
zu werden, besonders wenn die Mutter die Erziehung selber zu leiten vermag
(vgl. EGGER, 2. Auflage, N. 6 zu Art. 156 ZGB). Mit Rücksicht auf diese
Bedürfnisse des ersten Kindesalters pflegt die Zuweisung an die Mutter
immer mehr zur Regel zu werden. Sie soll nach verbreiteter Ansicht
"wenn immer möglich" stattfinden (vgl. HINDERLING, Das schweizerische
Ehescheidungsrecht, S. 100/01, ferner BlZR 43 Nr. 143). Bei erheblicher
Gefährdung der Kinder ist freilich davon abzuweichen (BGE 79 II 241);
doch sind im vorliegenden Falle nach dem Gesagten ernstliche Gefahren
nicht gegeben.

Erwägung 2

    2.- Infolge der Zuweisung an die Mutter hat der Vater ein Besuchsrecht
(Art. 156 Abs. 3 ZGB). Dieses ist als Element der Elternrechte vom
Scheidungsgericht zu ordnen, auch wenn kein dahingehender Parteiantrag
vorliegt. Das Bundesgericht ist nicht in der Lage, darüber zu entscheiden,
da die hiefür massgebenden Verhältnisse durch die tatsächlichen
Feststellungen des Obergerichts nicht abgeklärt sind und Gründe bestehen
mögen, das Besuchsrecht des Vaters nicht einfach gleich zu ordnen, wie die
Vorinstanz in ihrem abweichenden Zuweisungsentscheide das Besuchsrecht
der Mutter geregelt hat. Somit ist die Rückweisung der Sache an das
Obergericht in diesem Punkt unerlässlich.

    Gleich verhält es sich mit der väterlichen Unterhaltspflicht. Auch
in dieser Beziehung liegt kein Parteiantrag (insbesondere seitens der
Mutter) vor, obwohl bei den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen der
Parteien anscheinend Beiträge des Vaters für das Kind gerechtfertigt, ja
notwendig sind. Es ist bereits entschieden worden, dass die Bemessung der
Unterhaltsbeiträge, die der Ehegatte zu leisten hat, dem das Kind nicht
zugeteilt wird, der Verfügung der Parteien entzogen ist (BGE 82 II 470).
Daraus folgt, dass der Scheidungsrichter auch dann angemessene Beiträge für
das Kind festzusetzen hat, wenn der Ehegatte, dem das Kind zugewiesen wird,
keine bestimmten Beiträge einklagt, sondern die "Festsetzung der Alimente
von Amtes wegen" verlangt. Dies ist hier in erster Instanz geschehen,
freilich erst, nachdem die Beklagte die Klagebeantwortung versäumt und
vergeblich um Wiederherstellung der Frist gebeten hatte (S. 1 unten/2
des bezirksgerichtlichen Urteils). Aber auch wenn man davon ausgeht,
ein prozessual gültiger Antrag liege nicht einmal hinsichtlich der
grundsätzlichen Unterhaltspflicht des Vaters vor, ist darüber und auch
über das Mass der Beiträge, eben von Amtes wegen, zu entscheiden. Da die
kantonalen Urteile keinen genügenden Aufschluss über die wirtschaftlichen
Verhältnisse der Parteien geben, ist die Sache auch in dieser Hinsicht
an das Obergericht zurückzuweisen.

    Obwohl somit heute kein abschliessendes Urteil über die Gestaltung
der Elternrechte gefällt werden kann, ist die Zuweisung des Knaben an
die Mutter unmittelbar durch das Bundesgericht auszusprechen. Gegenstand
der Rückweisung ist also nur die Regelung des Besuchsrechtes des Vaters
und der väterlichen Unterhaltspflicht (dies nach Grundsatz und Mass). Es
wäre nicht gerechtfertigt, auch die Zuweisung selbst (im Sinne der soeben
dargelegten Erwägungen) dem Entscheid der Vorinstanz vorzubehalten,
nur damit gleichzeitig über die Zuweisung und über deren Auswirkungen
entschieden werde. Die Gründe, aus denen eine Ehescheidung nicht ohne
gleichzeitige Beurteilung der Nebenfolgen (allenfalls abgesehen von der
güterrechtlichen Auseinandersetzung) ausgesprochen werden soll (BGE 77 II
18, 84 II 145), treffen hier nicht zu. Gerade der Grundsatz, wonach über
die Kinderzuteilung im Scheidungsurteil selbst entschieden werden soll,
lässt es als angezeigt erscheinen, heute wenigstens die Zuweisungsfrage
selbst im Anschluss an die bereits rechtskräftige Scheidung ungesäumt zu
erledigen, da sie spruchreif ist. Die noch offen bleibenden Punkte werden
notwendig auf die Zuweisung als solche abzustimmen sein. Ein Widerspruch
zwischen der heutigen und der dem Obergericht vorbehaltenen ergänzenden
Entscheidung ist nicht zu befürchten.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 6. März 1959 in bezug auf die
Kindeszuteilung aufgehoben und der Knabe P., geboren am 12. April 1955,
der Berufungsklägerin zugewiesen wird.

    Zur Entscheidung über das Besuchsrecht und die Unterhaltspflicht des
Berufungsbeklagten wird die Sache an das Obergericht zurückgewiesen.