Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 II 170



85 II 170

27. Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. Juni 1959 i. S. G. gegen G.
Regeste

    Berufung. Unzulässiges neues Begehren? (Art. 55 lit. b OG).

    Anfechtung der Ehelichkeit (Art. 254 ZGB).

    1.  "Moralische Unmöglichkeit" ehelichen Verkehrs um die
Empfängniszeit?

    2.  Dass trotz bestehender Möglichkeit kein solcher Verkehr
stattgefunden habe, darf weder auf Grund des Zugeständnisses der Mutter
noch gestützt auf vom kantonalen Prozessrecht nicht als Beweismittel
anerkannte Aussagen im Parteiverhör noch auf Grund eines der freien
Beweiswürdigung entzogenen Parteieides oder -handgelübdes als erstellt
betrachtet werden (analoge Anwendung von Art. 158 Ziff. 1-4 ZGB). Auch gibt
das Bundesrecht dem Kläger keinen Anspruch darauf, dass die vor zweiter
Instanz am Prozess nicht mehr teilnehmende Mutter als Zeugin verhört werde.

Sachverhalt

    A.- Frau G., geb. 1913, die seit dem Jahre 1935 mit dem um 13 Jahre
ältern G. verheiratetet war und am 3. Oktober 1950 einen Knaben geboren
hatte, gebar am 3. November 1957 das Mädchen D. Am 3. Dezember 1957 leitete
der Ehemann gegen dieses Kind und die Ehefrau Klage auf Anfechtung der
Ehelichkeit ein mit der Begründung, seit der Geburt des ersten Kindes sei
es zwischen den Ehegatten nie mehr zum Geschlechtsverkehr gekommen. Vater
des Kindes sei R., mit dem die Ehefrau seit mehr als anderthalb Jahren
ehebrecherische Beziehungen unterhalte. Die Ehefrau beantragte Gutheissung,
der Beistand des Kindes Abweisung der Klage. Am 27. September 1958 schied
das Zivilgericht Basel-Stadt die Ehe G. wegen Ehebruchs der Frau. Gleichen
Tags erkannte es:

    "Sofern der Kläger unter Handgelübde an Eidesstatt erklärt, dass er
in der Zeit vom 8. Januar bis zum 8. Mai 1957 mit der Beklagten II keinen
Geschlechtsverkehr gehabt hat, wird festgestellt, dass die Beklagte I
nicht das eheliche Kind des Klägers, sondern das aussereheliche Kind der
Beklagten II ist.

    .....

    Leistet der Kläger das Handgelübde nicht, so wird die Klage
abgewiesen."

    In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, für die "vom Gesetz
verlangte Unmöglichkeit eines geschlechtlichen Umganges des Klägers mit der
Beklagten II" um die Empfängniszeit spreche die übereinstimmende Erklärung
der Ehegatten im Eheverhör, dass seit der Geburt des ersten Kindes kein
ehelicher Verkehr mehr stattgefunden habe. Dazu komme, dass die Ehefrau
in der kritischen Zeit intime Beziehungen mit R. unterhalten habe und
glaubhaft erkläre, das Kind D. sei aus diesem Verhältnis hervorgegangen. Da
sie aber bei getrennten Zimmern die gleiche Wohnung wie der Kläger
bewohnt habe und das Ergebnis der durchgeführten Blutuntersuchung den
Kläger als Vater nicht ausschliesse, sei die Unmöglichkeit der Vaterschaft
des Klägers nicht hinlänglich dargetan. Die Beweiskraft der vorliegenden
Indizien rechtfertige es jedoch, den gut beleumdeten Kläger zum Handgelübde
gemäss § 139 der kantonalen ZPO zuzulassen.

    B.- Der Beistand des Kindes zog dieses Urteil an das
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt weiter mit dem Antrag
auf Abweisung der Klage. Der Kläger beantragte die Bestätigung des
erstinstanzlichen Urteils. Am 24. März 1959 hat das Appellationsgericht
die Klage abgewiesen mit der Begründung, die Unmöglichkeit der Vaterschaft
des Klägers werde nur mit der Behauptung begründet, dass seit der Geburt
des ersten Kindes kein ehelicher Verkehr mehr stattgefunden habe. Dass
die Zeugung des Kindes durch den Kläger aus äussern Gründen unmöglich
sei, werde nicht geltend gemacht; aber auch eine Unmöglichkeit der
Beiwohnung aus psychischen Gründen sei nicht dargetan. Dass trotz
bestehender Möglichkeit um die Zeit der Empfängnis tatsächlich kein
Geschlechtsverkehr zwischen den Ehegatten stattgefunden habe, könne
durch das dem Kläger auferlegte Handgelübde an Eidesstatt im Sinne von §
139 ZPO nicht bewiesen werden, weil im Anfechtungsprozess angesichts
der hier auf dem Spiel stehenden öffentlichen Interessen die für das
Scheidungsverfahren geltende Vorschrift von Art. 158 Ziff. 2 ZGB analog
anzuwenden sei. Mit den übereinstimmenden Aussagen, die der Kläger und
seine Ehefrau im Scheidungs- und im Anfechtungsprozess machten, lasse
sich die Unmöglichkeit der Vaterschaft des Klägers nicht beweisen,
weil das kantonale Prozessrecht Parteiaussagen nicht als Beweismittel
anerkenne. Schliesslich dürfe das Ausbleiben des ehelichen Verkehrs nach
dem Grundsatze von Art. 158 Ziff. 1 und 3 ZGB, der im Anfechtungsprozess
ebenfalls anwendbar sei, auch nicht einfach auf Grund des Zugeständnisses
der Ehefrau als erstellt betrachtet werden.

    C.- Dieses Urteil hat der Kläger mit der vorliegenden Berufung
angefochten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Kläger beantragt mit seiner Berufung wie mit der Klage,
es sei festzustellen, dass er nicht der Vater des Kindes D. sei;
dieses sei als aussereheliches Kind seiner (geschiedenen) Ehefrau zu
erklären. Eventuell verlangt er, es sei ihm im Sinne des erstinstanzlichen
Urteils das Handgelübde an Eidesstatt abzunehmen. Da er im kantonalen
Appellationsverfahren nur die Bestätigung dieses Urteils beantragt
hatte, kann sich fragen, ob sein heutiger Hauptantrag nicht ein gemäss
Art. 55 lit. b OG unzulässiges neues Begehren darstelle. Aus den
Erwägungen der Vorinstanz ergibt sich jedoch, dass diese die sofortige,
nicht von vorheriger Leistung des Handgelübdes abhängige Gutheissung
der Klage durch sie als prozessual möglich betrachtete, obwohl bei
ihr ein dahingehender Antrag nicht gestellt worden war. Stand somit im
zweitinstanzlichen Verfahren nach der Auffassung der Vorinstanz, die
über Fragen des kantonalen Prozessrechts abschliessend zu befinden hatte,
das ursprüngliche Klagebegehren wieder im vollen Umfang zur Diskussion,
so kann dem Kläger nicht verwehrt werden, vor Bundesgericht auf dieses
Begehren zurückzugreifen.

Erwägung 2

    2.- Dass um die Zeit der Empfängnis des Kindes ein ehelicher Verkehr
aus äussern Gründen unmöglich oder der Kläger zeugungsunfähig gewesen
sei, hat dieser, wie die Vorinstanz zutreffend feststellt, nie geltend
gemacht. Von "moralischer" Unmöglichkeit einer Beiwohnung kann angesichts
der strengen Anforderungen, von denen die Rechtsprechung die Annahme einer
solchen Unmöglichkeit abhängig macht (BGE 82 II 502 lit. a), ebenfalls
keine Rede sein, da nichts dafür vorliegt, dass die Eheleute G., die
während der Empfängniszeit beisammen wohnten, die Mahlzeiten gemeinsam
einnahmen und miteinander ausgingen, gegeneinander so eingestellt gewesen
seien, dass eine Beiwohnung um jene Zeit als ausgeschlossen erschiene. Die
Blutuntersuchung führte zum Ergebnis, dass der Kläger als Vater des Kindes
D. nicht ausgeschlossen werden könne. Dass sich seine Vaterschaft auf
Grund anderer Merkmale ausschliessen lasse, hat der Kläger selber nicht
behauptet. Mit Recht hat daher die Vorinstanz angenommen, seine Vaterschaft
könnte im Sinne von Art. 254 ZGB nur dann als unmöglich bezeichnet werden,
wenn feststünde, dass zwischen den Ehegatten trotz bestehender Möglichkeit
keine Geschlechtsverkehr stattfand.

Erwägung 3

    3.- Der Kläger anerkennt, dass die Vorinstanz das Ausbleiben ehelichen
Verkehrs um die Empfängniszeit nicht schon auf Grund des Zugeständnisses
der Mutter als erstellt betrachten durfte. Wie die Vorinstanz zutreffend
ausgeführt hat, wäre dies mit Art. 158 Ziff. 1 und 3 ZGB unvereinbar,
welche Bestimmungen nach ständiger Rechtsprechung im Anfechtungsprozess
analog anwendbar sind (BGE 82 II 3 mit Hinweisen, 82 II 502/503, 83 II 4).

    Mit den Aussagen, welche die Mutter und der Kläger im Parteiverhör
gemacht haben, kann der von Art. 254 ZGB geforderte Nachweis nach
der Rechtsprechung (BGE 82 II 503 mit Hinweisen) schon deswegen nicht
geleistet werden, weil nach der für das Bundesgericht als Berufungsinstanz
verbindlichen Auslegung des kantonalen Prozessrechts durch die Vorinstanz
die Aussagen im Parteiverhör im Kanton Basel-Stadt nicht als Beweismittel
anerkannt sind.

    Dass die Mutter, die im zweitinstanzlichen Verfahren keine Anträge
stellte, von der Vorinstanz als Zeugin verhört worden sei, wie in
der Berufungsschrift behauptet wird, stimmt nach dem Protokoll der
Appellationsverhandlung nicht. Es kann aber auch keine Rede davon sein,
dass der Kläger von Bundesrechts wegen auf ihre Vernehmung als Zeugin
Anspruch gehabt habe. Wenn sie auch vor Appellationsgericht nicht mehr
am Verfahren teilnahm, blieb sie doch am Prozess insofern beteiligt,
als das diesen Prozess abschliessende Urteil, wie immer es ausfallen mag,
notwendigerweise auch für sie gelten wird (BGE 82 II 3/4). Darin konnte
die Vorinstanz ohne Bundesrechtsverletzung einen genügenden Grund dafür
finden, dem vom Kläger in der Appellationsantwort gestellten Antrag auf
Vernehmung der Mutter als Zeugin nicht zu entsprechen.

    Es bleibt somit einzig noch zu prüfen, ob der in Frage stehende Beweis
durch das dem Kläger auferlegte Handgelübde erbracht werden könne.

Erwägung 4

    4.- Art. 158 Ziff. 1 ZGB wird im Anfechtungsprozess deshalb analog
angewendet, weil hier der Streit wie im Scheidungsprozess um ein
Rechtsverhältnis geht, an dessen Stabilität ein öffentliches Interesse
besteht und in das daher nur dann eingegriffen werden darf, wenn der
Richter sich davon überzeugt hat, dass die gesetzlichen Voraussetzungen
dafür vorhanden sind.

    Dem Richter die Überzeugung vom Vorhandensein einer Tatsache zu
verschaffen, ist die Beweisführung mit den vom kantonalen Prozessrecht
vorgesehenen Beweismitteln nur unter der Voraussetzung geeignet, dass
der Richter die Beweise frei würdigen kann. Der in Art. 158 Ziff. 4 ZGB
ausgesprochene Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist also, was den
Beweis der klagebegründenden Tatsachen anbetrifft, in Art. 158 Ziff. 1
ZGB bereits mitenthalten.

    Der Eid und das Handgelübde einer Partei im Sinne von § 139 ff. der
baselstädtischen ZPO sind, wie die Vorinstanz im angefochtenen Urteil und
in dem darin angeführten Urteil vom 20. Januar 1959 i.S. Sch./Sch. in für
das Bundesgericht als Berufungsinstanz massgebender Weise festgestellt hat,
formale Beweismittel. Sie haben "Urteilscharakter" und sind demgemäss "der
freien Beweiswürdigung entzogen". Der Richter hat sie, wenn geleistet, "als
schlechthin entscheidend hinzunehmen". Beim Eid und beim Handgelübde einer
Partei im Sinne von § 139 ff. der ZPO von Basel-Stadt handelt es sich
also nicht bloss um eine in bestimmter Form gemachte Parteiaussage, die der
Richter frei würdigen könnte (wie dies in Abweichung von dem in Basel und
anderwärts herrschenden System für die durch Eid bekräftigte Parteiaussage
im Sinne von Art. 210 der freiburgischen ZPO vom 28. April 1953 gilt;
vgl. Art. 211 dieses Gesetzes und GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht,
2. Aufl., S. 374 Anm. 21). Vielmehr wird nach dem Zivilprozessrecht von
Basel-Stadt durch die Leistung des Eides oder Handgelübdes der Prozess ohne
weiteres Zutun des Richters entschieden. Dem Parteieid und -handgelübde
kommt hier von Gesetzes wegen volle Beweiskraft zu. Dieses Beweismittel
dient also nicht zur Bildung der richterlichen Überzeugung, sondern lässt
die beschworene Tatsache als feststehend erscheinen, ohne dass der Richter
sich auf dem Wege der freien Beweiswürdigung von ihrem Vorhandensein
überzeugt hätte. Der Umstand, dass der Eid und das Handgelübde nach § 139
der baselstädtischen ZPO nur nach Leistung "etwelchen" Beweises oder beim
Vorliegen anderer "starker Wahrscheinlichkeitsgründe" für die Darstellung
einer Partei und nach Prüfung des Leumunds der für die Eidesleistung in
Frage kommenden Personen auferlegt werden darf, erlaubt selbstverständlich
nicht zu sagen, dass der Richter sich im Sinne von Art. 158 Ziff. 1
ZGB vom Vorhandensein der beschworenen Tatsache überzeugt habe; denn
der Eid bezw. das Handgelübde wird ja eben gerade deswegen abgenommen,
weil nach der Auffassung des Richters ein hinlänglicher Beweis für die
betreffende Tatsache fehlt, m.a.W. weil der Richter vom Vorhandensein
dieser Tatsache nicht voll überzeugt ist. Daher ist es in Prozessen, für
die Art. 158 Ziff. 1 ZGB unmittelbar oder analog gilt, nicht zulässig, den
Eid und das Handgelübde im Sinne des baselstädtischen Zivilprozessrechts
(oder anderer diese Beweismittel mit voller Beweiskraft ausstattender
kantonaler Zivilprozessordnungen) zum Nachweis klagebegründender Tatsachen
zu verwenden. Art. 158 Ziff. 2 ZGB, wonach im Scheidungsverfahren der Eid
oder das Gelöbnis an Eidesstatt den Parteien als Beweismittel zur Erwahrung
solcher Tatsachen weder zugeschoben noch auferlegt werden darf, ist
insoweit, als er die Abnahme eines der freien Beweiswürdigung entzogenen
Parteieides oder -gelöbnisses verpönt, nichts anderes als ein Folgesatz
aus Art. 158 Ziff. 1 ZGB und muss daher mindestens in diesem Umfang auch
im Anfechtungsprozess Anwendung finden (wogegen im vorliegenden Fall
dahingestellt bleiben kann, ob im Anfechtungsprozess die eine oder andere
Partei zur Leistung des vom Richter frei zu würdigenden Parteieides im
Sinne von Art. 210 der neuen freiburgischen ZPO angehalten werden dürfte).

    Die Vorinstanz hat also mit Recht angenommen, dass das Ausbleiben
ehelichen Verkehrs während der Empfängniszeit, aus dem der Kläger
die Unmöglichkeit seiner Vaterschaft ableiten will, aus Gründen des
Bundesrechts durch das ihm vom Zivilgericht auferlegte Handgelübde nicht
bewiesen werden könne.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationsgerichtes
des Kantons Basel-Stadt vom 24. März 1959 bestätigt.