Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 II 12



85 II 12

3. Urteil der II. Zivilabteilung vom 19. Februar 1959 i.S. N. gegen W.
Regeste

    Änderung des Scheidungsurteils, Kinderzuteilung. Wie bei der
Regelung der Elternrechte im Scheidungsurteil sind bei der Anwendung
von Art. 157 ZGB nicht allein die zur Zeit der Beurteilung bestehenden
Verhältnisse massgebend, sondern ist auch in Betracht zu ziehen, wie sich
die Verhältnisse aller Voraussicht nach in absehbarer Zukunft gestalten
werden. Bedeutung des Umstandes, dass die Mutter Gelegenheit erhält, die
bisher an einem Pflegeort untergebrachten Kinder persönlich zu betreuen.

Sachverhalt

    A.- Am 27. Juni 1956 schied das Kantonsgericht Zug die Eheleute
W. auf Klage der Ehefrau wegen Ehebruchs des Mannes, sprach diesem das
Klagerecht ab, weil die tiefe Zerrüttung, die schon vor seinem Ehebruch
bestanden habe, vorwiegend seiner Schuld (übermässigem Alkoholgenuss)
zuzuschreiben sei, und untersagte ihm die Eingehung einer neuen Ehe
für zwei Jahre. Die Kinder, ein im September 1953 geborenes Mädchen und
einen im Dezember 1955 geborenen Knaben, wies es unter Anordnung einer
vormundschaftlichen Aufsicht und unter Regelung des Besuchsrechts der
Ehefrau dem Ehemann zu mit der Begründung:

    "Über die Nebenfolgen einer allfälligen Scheidung haben die Parteien
anlässlich der persönlichen Befragung vom 4.6.56 eine Vereinbarung
getroffen. Die Klägerin hat, wenn auch schweren Herzens, auf die
Elternrechte verzichtet, weil sie derzeit zufolge ihrer beruflichen
Inanspruchnahme nicht in der Lage ist, die Kinder persönlich zu betreuen,
und weil letztere bei Verwandten des Beklagten gut aufgehoben sind. Dem
Richter stellt sich damit die Frage, ob er die Kinder dem Beklagten
anvertrauen soll. Gegen diese Regelung der Elternrechte sprechen
gewisse Bedenken. Der Beklagte hat während der Ehe oft übermässig dem
Alkohol zugesprochen; schliesslich hat er in leichtfertiger Weise die
Ehe gebrochen. Es kann aber nicht gesagt werden, dass er sich eines
schweren Missbrauchs der Gewalt über die Kinder oder einer groben
Pflichtvernachlässigung schuldig gemacht habe. Der Beklagte sorgte für
das Auskommen der Familie, auch wenn er sich nicht besonders um das
gesundheitliche Wohlergehen der Kinder kümmerte und diese Sorgen der
Frau überliess. Die Entziehung der elterlichen Gewalt gemäss Art. 285 ZGB
rechtfertigte sich daher nicht, weshalb sich auch verbietet, die Kinder
unter Vormundschaft zu stellen, statt sie dem Beklagten zur Erziehung zu
überlassen. Allfälligen Bedenken begegnet der Ric.hter damit, dass er die
zuständige Vormundschaftsbehörde um Überwachung der Erziehung der Kinder
ersucht und den Wunsch ausspricht, dass die Kinder vorderhand bei den
Verwandten des Beklagten belassen werden, wo sie gut aufgehoben sind,
nämlich das Mädchen bei P. W. in K. und der Knabe bei den Eheleuten
K. in G."

    B.- Mit Klage vom 8. Februar 1958 verlangte die Ehefrau, in Abänderung
des Scheidungsurteils seien die Kinder (die heute beide bei den Eheleuten
K. in G. untergebracht sind) ihr zuzusprechen und sei der Ehemann zu
verpflichten, für sie monatliche Unterhaltsbeiträge von je Fr. 100.--
zu bezahlen. Sie machte geltend, sie habe sich entschlossen, zu ihrem
verwitweten Vater nach W. zu ziehen und ihm den Haushalt zu besorgen;
so erhalte sie Gelegenheit, die Kinder zu sich zu nehmen und persönlich
zu betreuen. Der Beklagte wandte ein, hierin liege keine Änderung der
Verhältnisse im Sinne von Art. 157 ZGB; auch seien die Wohnverhältnisse
in W. ungünstig und sei die Klägerin als Erzieherin der Kinder nicht
besonders geeignet, während diese in G. sehr gut aufgehoben seien. Nach
Durchführung eines Beweisverfahrens hat das Kantonsgericht mit Urteil
vom 4. Juli 1958 die Kinder der Klägerin zugeteilt, den Beklagten
verpflichtet, ihr an den Unterhalt der beiden Kinder bis zu deren erfülltem
14. Altersjahr einen Unterhaltsbeitrag von je Fr. 70.- und von da an bis
zum erfüllten 20. Altersjahr einen solchen von je Fr. 90.- pro Monat zu
bezahlen, und dem Beklagten das Recht eingeräumt, die Kinder je am 1. und
3. Samstag eines Monats zwischen 10 und 18 Uhr zu besuchen und sie einmal
im Jahr für 14 Tage zu sich in die Ferien zu nehmen.

    C.- Die Justizkommission des Kantons Zug, an welche die Beklagte
dieses Urteil weiterzog, hat dagegen am 27. September 1958 erkannt,
das erstinstanzliche Urteil werde in den wiedergegebenen Bestimmungen
aufgehoben, d.h. das Abänderungsbegehren der Klägerin werde abgewiesen. In
den Erwägungen heisst es, die blosse Möglichkeit, mit den Kindern in den
väterlichen Haushalt zu ziehen, stelle noch keine Änderung der Verhältnisse
im Sinne von Art. 157 ZGB dar. Erst nach erfolgtem Umzug könnte von einer
solchen Änderung die Rede sein, nicht aber heute, wo die Klägerin es in
der Hand hätte, nach der gewünschten Änderung des Scheidungsurteils in
Zürich zu bleiben (wo sie als Serviertochter tätig ist) und die Kinder
irgendwo unterzubringen. Liege demgemäss eine wesentliche Änderung der
Verhältnisse im Sinne des Gesetzes zur Zeit nicht vor, so brauche nicht
geprüft zu werden, ob es sich nach dem allfälligen Umzug der Klägerin nach
W. aufdränge, die Kinder ihrer elterlichen Gewalt zu unterstellen. Die
Justizkommission lege jedoch Wert auf die Feststellung, dass bei der
heutigen Aktenlage einer Umgestaltung der Elternrechte im Sinne der
Begehren der Klägerin nichts im Wege stehe, sobald sie nach W. umgezogen
sei und dort Verhältnisse vorfinde, wie sie heute für den Fall der Änderung
des Scheidungsurteils geplant seien.

    D.- Mit ihrer Berufung an das Bundesgericht erneuert die Klägerin
ihr Abänderungsbegehren. Der Beklagte schliesst auf Bestätigung des
angefochtenen Urteils. Das Bundesgericht schützt die Berufung und stellt
das Urteil des Kantonsgerichts vom 4. Juli 1958 wieder her.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach dem Scheidungsurteil hat die Klägerin bei der Scheidung
auf die (von ihr zunächst beanspruchten) Elternrechte schweren Herzens
verzichtet, weil sie "derzeit" aus beruflichen Gründen nicht in der
Lage sei, die Kinder persönlich zu betreuen. Das angefochtene Urteil
stellt hiezu überdies fest, die Klägerin habe sich in der persönlichen
Befragung vom (Scheidungs-) Richter davon überzeugen lassen, dass die
Interessen der Kinder am besten gewahrt seien, wenn sie "vorderhand"
bei ihren Pflegeeltern blieben; "hierauf" habe sie mit Rücksicht
auf die Unmöglichkeit, die Kinder persönlich zu betreuen, auf die
Elternrechte verzichtet. Aus diesen Feststellungen ergibt sich, dass
das Scheidungsgericht der Klägerin diesen Verzicht nahegelegt hat, weil
sie damals nicht in der Lage war, die Kinder zu sich zu nehmen. Andere
Tatsachen, die gegen eine Zuteilung der Kinder an die Klägerin hätten
sprechen können, sind bei der Scheidung nicht festgestellt worden.
Dagegen bestanden gegen die Zuteilung an den Beklagten, der die Kinder
auch nicht persönlich betreuen konnte, in dessen Person begründete
Bedenken. Unter diesen Umständen drängt sich die Frage auf, ob es richtig
war, die Klägerin zum Verzicht auf die elterliche Gewalt zu bewegen. Hätte
doch die Übertragung dieser Gewalt an sie die einstweilige Belassung der
Kinder bei den Verwandten des Beklagten, wohin die Klägerin die Kinder
unmittelbar vor Einleitung der Scheidungsklage selber gebracht hatte,
keineswegs ausgeschlossen. Allein auch wenn die Elternrechte bei der
Scheidung besser anders geordnet worden wären, kann die einmal getroffene
Gestaltung dieser Rechte, nachdem sie rechtskräftig geworden ist, nur dann
abgeändert werden, wenn die Voraussetzungen von Art. 157 ZGB zutreffen,
d.h. wenn infolge von Heirat, Wegzug oder Tod eines der Eltern oder aus
andern Gründen eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse eingetreten
ist, die eine Neuregelung als erforderlich erscheinen lässt. Ob dies der
Fall sei, beurteilt sich vor allem nach Massgabe der Interessen der Kinder
(BGE 43 II 476).

Erwägung 2

    2.- Es kann nicht bestritten werden und wird auch nicht bestritten,
dass die Kinder bei den Eheleuten K., wo sich heute beide befinden,
gut aufgehoben sind. Das Kantonsgericht hat jedoch gefunden, gegenüber
der Fremdpflege, die bei der Scheidung nur als vorübergehende Massnahme
ins Auge gefasst worden sei, verdiene die Betreuung der Kinder durch die
eigene Mutter, die ihnen zugetan sei und der die Eignung zu ihrer Pflege
und Erziehung nicht abgesprochen werden könne, den Vorzug, auch wenn die
Unterkunftsverhältnisse bei ihr enger seien als bei den Pflegeeltern. Die
Vorinstanz ist, wie die wiedergegebene Feststellung am Schluss ihrer
Erwägungen zeigt, grundsätzlich nicht anderer Ansicht. Sie hat die
Klage nur deshalb abgewiesen, weil sie fand, die blosse Möglichkeit,
mit den Kindern in den väterlichen Haushalt zu ziehen, stelle noch
keine Änderung der Verhältnisse im Sinne des Gesetzes dar. Wie bei der
Gestaltung der Elternrechte im Falle der Scheidung können jedoch auch
beim Entscheid darüber, ob veränderte Verhältnisse eine Neuregelung
verlangen, nicht allein die im Zeitpunkt der Beurteilung bestehenden
Verhältnisse massgebend sein, sondern muss auch in Betracht gezogen
werden, wie sich die Verhältnisse aller Voraussicht nach in absehbarer
Zukunft gestalten werden. Wenn die Klägerin nach den Aussagen ihres gut
beleumdeten Vaters und ihrer Schwester heute Gelegenheit hat, mit den
Kindern zu ihrem Vater nach W. zu ziehen und ihm den Haushalt zu führen,
während sie im Zeitpunkt der Scheidung noch gezwungen war, anderwärts der
Arbeit ausser Hause nachzugehen, so darf darin also eine Änderung der
für die Gestaltung der Elternrechte erheblichen Verhältnisse erblickt
werden, und zwar handelt es sich um eine wesentliche, eine Neuregelung
dieser Rechte fordernde Änderung Das Interesse der beiden kleinen Kinder
verlangt bei der gegebenen Sachlage vor allem, dass sie von der eigenen
Mutter betreut werden. Es besteht denn auch kein Zweifel, dass die Kinder
bei der Scheidung der Klägerin zugeteilt worden wären, wenn die heute
gegebenen Verhältnisse schon damals bestanden hätten. Die Unterkunft ist
beim Vater der Klägerin zwar enger als bei den Eheleuten K., aber immerhin
genügend, und das wirtschaftliche Auskommen der Klägerin (die einen Lohn
erhalten wird) und der Kinder ist im Haushalt des Vaters der Klägerin
gesichert, wenn der Beklagte an den Unterhalt der Kinder angemessene
Beiträge zahlt. Der Umstand, dass die Kinder auch an ihren Pflegeeltern
hangen, kann nichts daran ändern, dass es für sie noch besser ist, wenn
ihre eigene Mutter sich ihrer persönlich annimmt.

    Dass die Klägerin erst dann ihre jetzige Stelle aufgeben und zum
Vater ziehen und in dessen Haushalt ihre Schwester ablösen will, wenn sie
zugleich die Kinder dorthin mitnehmen kann, ist sehr wohl begreiflich und
beweist entgegen der Auffassung des Beklagten keineswegs, dass es ihr mit
dem Wunsche, die Kinder bei sich zu haben, gar nicht ernst sei. Ebensowenig
liegt in der erwähnten Tatsache ein Anzeichen für einen Charaktermangel,
der ihre erzieherische Eignung in Frage stellen könnte.

    Sollte die Klägerin wider Erwarten nicht zu ihrem Vater ziehen, sondern
ihre Stelle in Zürich beibehalten und die Kinder "irgendwo" unterbringen,
wie dies die Vorinstanz für den Fall der Gutheissung der Klage vor
vollzogenem Umzug als Möglichkeit in Betracht zieht, so könnte dies unter
Umständen dazu führen, ihr die elterliche Gewalt gemäss Art. 157 ZGB wieder
zu entziehen. Auch würde sich in diesem Falle die Frage erheben, ob nicht
die Klägerin gegenüber dem Beklagten für den Betrag der ihm auferlegten
Kosten des gegenwärtigen Prozesses schadenersatzpflichtig würde.

    3./4. - (Unterhaltsbeiträge und Besuchsrecht; Kosten.)