Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 III 161



85 III 161

34. Entscheid vom 11. November 1959 i.S. Ritter. Regeste

    Betreibung gegen Minderjährige. Art. 47 Abs. 1 und 3 SchKG.

    Art. 47 Abs. 3 SchKG ist nur bei selbständiger Erwerbstätigkeit des
Minderjährigen anwendbar. Art. 412/280 ZGB (Erw. 1).

    Solche Tätigkeit schafft gegebenenfalls eine gewerbliche
Niederlassung und einen auf Verbindlichkeiten aus dem Gewerbe beschränkten
Betreibungsort, aber keinen Wohnsitz; dieser bestimmt sich nach Art. 25
Abs. 1 ZGB (Erw. 2).

    Der Verfügung des Kindes unterstehender Arbeitserwerb (Art. 295 Abs. 2
ZGB): mit Rücksicht darauf ist das Kind neben den Eltern zu betreiben
(Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Für drei Raten Kursgeld nebst Mahn- und Einzugsspesen hob der
Rekurrent im Februar 1959 beim Betreibungsamt Winterthur I gegen die am
20. Dezember 1939 geborene Marlies Rutz, Bürogehilfin in Winterthur,
Betreibung an. Er bemerkte im Betreibungsbegehren, die unmündige
Schuldnerin könne, da sie ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft ihrer
(laut den Rekursvorbringen im Kanton St. Gallen wohnenden) Eltern lebe,
über ihr Einkommen frei verfügen. Die Betreibung gehe nur in das Einkommen.

    B.- Das Betreibungsamt Winterthur I lehnte es unter Hinweis auf
Art. 47 Abs. 1 SchKG ab, das Betreibungsbegehren entgegenzunehmen. Des
Gläubigers Beschwerde war erfolglos, ebenso sein Rekurs an die obere
kantonale Aufsichtsbehörde.

    C.- Deren Entscheid vom 16. Oktober 1959 bildet den Gegenstand des
vorliegenden Rekurses des Gläubigers, der das Beschwerdebegehren erneuert,
das Betreibungsamt Winterthur I sei anzuweisen, dem Betreibungsbegehren
gegen Marlies Rutz Folge zu geben.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 47 SchKG bestimmt:

    (Abs. 1) Hat der Schuldner einen gesetzlichen Vertreter, so ist die
Betreibung am Wohnsitze des letzteren zu führen, und es sind diesem die
Betreibungsurkunden zuzustellen.

    (Abs. 3) Für Forderungen jedoch, die aus einem gemäss Artikel 412
des Zivilgesetzbuches bewilligten Geschäftsbetriebe herrühren, ist die
Betreibung gegen den Schuldner selbst am Orte des Geschäftsbetriebes
zu führen.

    Während das Betreibungsamt und die kantonalen Beschwerdeinstanzen
sich auf die erste dieser Bestimmungen stützen, hält der Rekurrent den
Ausnahmefall des Abs. 3 für gegeben. Jedoch zu Unrecht. Allerdings gilt
diese Sondernorm nicht etwa nur für Betreibungen gegen Bevormundete,
auf die allein sich der für deren Anwendung massgebende Art. 412 ZGB
als solcher bezieht. Da vielmehr Kinder unter der elterlichen Gewalt die
gleiche beschränkte Handlungsfähigkeit wie bevormundete Personen haben
(Art. 280 Abs. 1 ZGB), ist Art. 412 ZGB und damit auch Art. 47 Abs. 3
SchKG auf jene entsprechend anwendbar. Lehre und Rechtsprechung sind denn
auch darüber einig (JAEGER, N. 10 zu Art. 47 SchKG; BLUMENSTEIN, Handbuch
S. 177; EGGER, N. 6 zu Art. 412 ZGB; SILBERNAGEL, N. 10 zu Art. 280 ZGB;
BGE 66 III 28, 79 III 106). Im vorliegenden Fall ist jedoch der Tatbestand
des Art. 47 Abs. 3 SchKG nicht gegeben. Wohl mag der Schuldnerin von
ihren Eltern gestattet worden sein, in Winterthur eine Stelle anzutreten
und (mindestens jeweilen während der Arbeitswoche) in dieser Stadt ein
Zimmer zu benutzen. Immerhin hätte der Rekurrent im Betreibungsbegehren
Namen und Wohnort der Eltern der Schuldnerin angeben sollen, damit das
Betreibungsamt sich nach dem Vorliegen der entsprechend Art. 412 ZGB
erforderlichen und nicht einfach zu vermutenden elterlichen Bewilligung
erkundigen könne. Vor allem aber hat man es nicht mit der Forderung
aus einem (eigenen) Geschäftsbetriebe der Schuldnerin zu tun. Art. 47
Abs. 3 SchKG ist also hier nicht anwendbar, gesetzt auch, die Eltern der
Schuldnerin hätten deren Berufsausübung ausserhalb ihres eigenen Wohnortes
zugestimmt. Marlies Rutz ist Angestellte (bei Gebr. Sulzer, wie sich aus
den Protokollen der untern Aufsichtsbehörde ergibt). Sie hat also keinen
eigenen Geschäftsbetrieb, wie es Art. 47 Abs. 3 SchKG voraussetzt, oder,
mit den Worten von Art. 412 ZGB ausgedrückt, sie betreibt nicht selbständig
einen Beruf oder ein Gewerbe. Daher kann auch die in Betreibung stehende
Kursgeldforderung offensichtlich nicht als Verbindlichkeit aus einem
solchen Geschäftsbetriebe der Schuldnerin betrachtet werden (den es eben
gar nicht gibt).

    Entfällt somit der spezielle Betreibungsort des Art. 47 Abs. 3 SchKG,
so hat die Vorinstanz den Gläubiger mit Recht auf eine am allgemeinen
Betreibungsort der Schuldnerin, also am Wohnort ihrer Eltern, gemäss
Art. 47 Abs. 1 SchKG anzuhebende Betreibung verwiesen.

Erwägung 2

    2.- Die hievon abweichende Betrachtungsweise des Rekurrenten
beruht namentlich auf den Ausführungen in BGE 45 II 244 ff., Erw. 2, wo
einer minderjährigen Kellnerin ein selbständiger Wohnsitz am Ort ihrer
Berufsausübung zuerkannt wurde. Diese Entscheidung ist aber von der
spätern Rechtsprechung als unzutreffend erkannt worden. BGE 67 II 83/84
legt eingehend dar, dass sich weder aus den Art. 295 und 296 noch aus
Art. 412 ZGB in Verbindung mit Art. 47 Abs. 3 SchKG ein selbständiger
Wohnsitz des in Anstellung befindlichen Minderjährigen herleiten
lässt. "Seul l'exercice à titre indépendant d'une véritable profession
ou industrie peut comporter, pour le mineur sous puissance paternelle
comme pour le mineur sous tutelle, un domicile distinct". Mit Hinweis
hierauf hat auch die staatsrechtliche Kammer ausgesprochen: "Nur bei
selbständiger Ausübung eines Berufes oder Gewerbes kann das minderjährige,
unter elterlicher Gewalt stehende Kind einen andern Wohnsitz haben als
denjenigen der Eltern" (76 I 303). Da die Rekursgegnerin sich nicht in
einem solchen Falle befindet, bleibt es somit beim Ergebnis nach Erw. 1
hievor. Übrigens gehen die erwähnten neueren Entscheidungen ebenfalls noch
zu weit, indem sie dem fern vom Wohnort der Eltern, mit deren Zustimmung,
selbständig beruflich oder gewerblich tätigen Minderjährigen und ebenso
dem mit Zustimmung der Vormundschaftsbehörde in solcher Weise tätigen
Bevormundeten einen besondern "Wohnsitz" zuerkennen. In Wahrheit ergibt
sich aus Art. 412 (allenfalls in Verbindung mit Art. 280) ZGB nur eine
gewerbliche Niederlassung, die gemäss Art. 47 Abs. 3 SchKG lediglich für
die Geltendmachung der aus diesem Betrieb entspringenden Verbindlichkeiten
Bedeutung hat und nicht auch einen persönlichen Wohnsitz begründet. Dieser
befindet sich nach Art. 25 Abs. 1 ZGB ungeachtet eines solchen auswärtigen
Geschäftsbetriebes am Sitz der Vormundschaftsbehörde bzw. am Wohnsitz
der Eltern, und zwar (gemäss Art. 23 Abs. 2 ZGB) ausschliesslich.

Erwägung 3

    3.- Dem steht endlich nicht entgegen, dass das mit Zustimmung der
Eltern ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft lebende Kind nach Art. 295
Abs. 2 ZGB unter Vorbehalt seiner Pflichten gegenüber den Eltern über
seinen Arbeitserwerb verfügen kann. Dieser Umstand führt nicht zur
Anwendung von Art. 47 Abs. 3 SchKG - dessen Voraussetzungen durch einen
solchen Sachverhalt bei einem in Anstellung befindlichen Unmündigen
keineswegs erfüllt sind, wie dargetan --, sondern hat nur zur Folge,
dass eine auf Pfändung des Arbeitserwerbes gerichtete Betreibung gegen
das Kind nicht bloss (gemäss Art. 47 Abs. 1 SchKG) gegen dessen Eltern
als gesetzliche Vertreter, sondern zugleich gegen das Kind selbst als
mitbetriebene Person anzuheben und durchzuführen ist, und dass das Kind
gleichwie die Eltern aus eigenem Rechte die Stellung eines Betriebenen
wahren, insbesondere gegen eine Lohnpfändung Beschwerde führen kann (BGE 40
III 147, 79 III 104). Betreibungsort bleibt aber der Wohnsitz der Eltern.

Entscheid:

       Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen.