Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 III 131



85 III 131

30. Entscheid vom 12. Oktober 1959 i.S. Probst. Regeste

    Lohnpfändung bei Handelsreisenden. Unter welchen Voraussetzungen
hat das Betreibungsamt gemäss BGE 84 III 37 ff. vorzugehen, d.h. den
Arbeitgeber des Schuldners über die Beachtung der Vorschriften des HRAG
zu befragen und gegebenenfalls bestrittene Ansprüche des Schuldners gegen
den Arbeitgeber zu pfänden?

    Rekurs an das Bundesgericht. Unzulässige neue Vorbringen (Art. 79

Sachverhalt

    In der Betreibung Nr. 35163, die Erich Probst gegen den
Handelsreisenden Hans Schmid führt, verfügte das Betreibungsamt St. Gallen
auf Grund der Annahme, dass das Einkommen des Schuldners (Fixum und
Provision) Fr. 636.90, sein Notbedarf Fr. 553.15 im Monat betrage, eine
Lohnpfändung von monatlich Fr. 83.-. Die untere Aufsichtsbehörde wies
die hiegegen gerichtete Beschwerde des Schuldners ab. Die kantonale
Aufsichtsbehörde hat dagegen mit Entscheid vom 18. September 1959 die
Lohnpfändung aufgehoben. Sie nahm an, bei der Ermittlung des Notbedarfs
seien zu den vom Betreibungsamt berücksichtigten Posten Fr. 48.- für
durch die Spesenvergütung und die Einsparung auf dem "Grundnotbedarf"
nicht gedeckte Reisespesen, Fr. 5.- für gewisse "weitere Auslagen"
und Fr. 30.- für ausserordentlichen Kleiderverschleiss hinzuzurechnen,
so dass der Notbedarf Fr. 636.15 erreiche.

    Diesen Entscheid hat der Gläubiger an das Bundesgericht weitergezogen
mit dem Antrag, er sei aufzuheben und "die Sache zur Durchführung einer
Lohnpfändung an das Betreibungsamt St. Gallen zurückzuweisen". Zur
Begründung machte er geltend, die Vorinstanz habe festgestellt, dass die
dem Schuldner vom Arbeitgeber ausgerichtete Spesenvergütung offenbar die
tatsächlichen Auslagen nicht decke. Nach Art. ~~ HRAG seien dem Reisenden
alle durch die Reisetätigkeit notwendig entstehenden Auslagen zu ersetzen,
einschliesslich der Aufwendungen für den gesamten Unterhalt ausserhalb der
Wohnstätte. Diese Vorschrift sei zwingend. Wenn der Anstellungsvertrag
eines Reisenden zwingende Vorschriften des HRAG verletze, habe das
Betreibungsamt nach BGE 84 III 37 den Arbeitgeber anzufragen, ob und in
welchem Umfang er bereit sei, diese Vorschriften zu beobachten; hierauf
habe es gegebenenfalls von Amtes wegen oder auf Verlangen des Gläubigers
eine bestrittene Forderung gegen den Arbeitgeber zu pfänden. Nach diesem
Entscheide sei auch im vorliegenden Falle vorzugehen. Zudem seien hier die
Angaben des Schuldners und des Arbeitgebers über die Verdienstverhältnisse
mit Vorsicht zu überprüfen und zu würdigen.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Rekursantrag, die Sache sei zur Durchführung einer
Lohnpfändung an das Betreibungsamt zurückzuweisen, hat nach der
Rekursbegründung den Sinn, das Betreibungsamt sei anzuweisen, die in BGE
84 III 37 ff. vorgesehenen, in der Rekursbegründung näher bezeichneten
Massnahmen zu treffen. Vor der Vorinstanz hatte der Rekurrent Ausführungen
gemacht, die darauf schliessen lassen, dass er sich der vom Schuldner
verlangten Aufhebung der Lohnpfändung widersetzen, also die Abweisung der
Beschwerde des Schuldners und die Bestätigung der Pfändungsverfügung des
Betreibungsamtes beantragen wollte. Die Vorinstanz hat seinen Ausführungen
ausdrücklich diesen Sinn beigemessen. Man könnte sich fragen, ob der
heutige Rekursantrag über diesen frühern Antrag hinausgehe und somit ein
nach Art. 79 OG unzulässiges neues Begehren darstelle, soweit damit für
den Fall, dass die Arbeitgeberin keine eine feste Lohnpfändung erlaubenden
Zugeständnisse machen sollte, die Pfändung einer bestrittenen Forderung
verlangt wird. Wie es sich damit verhalte, kann jedoch dahingestellt
bleiben, weil der vorliegende Rekurs auch dann keinen Erfolg haben kann,
wenn man zugunsten des Rekurrenten annimmt, der Rekursantrag sei in dem
vor der Vorinstanz gestellten Antrag als das Mindere inbegriffen.

Erwägung 2

    2.- Das Vorgehen nach BGE 84 III 37 ff. hat grundsätzlich zur
Voraussetzung, dass der Gläubiger (oder allenfalls der Schuldner,
vgl. BGE 75 III 100) die Behauptung ("affirmation") aufstellt, der
Anstellungsvertrag des Schuldners stehe mit zwingenden Vorschriften des
HRAG über die Ansprüche des Reisenden im Widerspruch; der Arbeitgeber wäre
nach Gesetz mehr zu zahlen verpflichtet, als was er tatsächlich leistet
(vgl. BGE 84 III 38). Im Falle BGE 84 III 37 ff. hatte denn auch der
Gläubiger mit seiner Beschwerde ausdrücklich geltend gemacht, dass der
Schuldner von seinem Arbeitgeber neben den ihm ausbezahlten Provisionen
die Vergütung seiner Reisekosten verlangen könne. Ähnlich lagen die Dinge
auch im Falle 75 III 97 ff., wo das Bundesgericht zwar mit den kantonalen
Behörden das Begehren des Gläubigers abwies, die Lohnpfändung kurzerhand um
den vom Betreibungsamt zum Notbedarf gerechneten, nach der Auffassung des
Gläubigers vom Arbeitgeber zu vergütenden Spesenbetrag zu erhöhen, aber
in seinen Erwägungen (S. 100) das Betreibungsamt einlud, den Arbeitgeber
zur Frage der Beachtung der Vorschriften des HRAG anzuhören und hierauf
allenfalls zur Pfändung bestrittener Ansprüche des Schuldners gegen ihn
zu schreiten. Ist eine Verletzung dieses Gesetzes weder vom Gläubiger
noch vom Schuldner behauptet worden, so kommt ein Vorgehen im Sinne
der erwähnten Präjudizien allerhöchstens dann in Frage, wenn auf Grund
der im Pfändungsverfahren ermittelten Verhältnisse ausser Zweifel steht,
dass der Schuldner von seinem Arbeitgeber weniger erhält, als ihm nach den
zwingenden Vorschriften des HRAG gebührt. In zweifelhaften Fällen kann es
nicht Sache der Betreibungsbehörden sein, sich aus eigenem Antrieb in die
vertraglichen Beziehungen zwischen dem Schuldner und seinem Arbeitgeber
einzumischen und von sich aus eine Pfändung bestrittener Ansprüche zu
verfügen, die zu einem Prozess zwischen dem Erwerber derselben und dem
Arbeitgeber Anlass geben kann.

    Im vorliegenden Falle kann von einem offenkundigen Verstoss gegen
das HRAG nicht die Rede sein. Die Anstellungsbedingungen des Schuldners
sehen gemäss Verdienstausweis ausser einem Fixum von Fr. 500.-- und
einer Umsatzprovision, die durchschnittlich Fr. 136.90 im Monat ausmacht,
den Ersatz der Reiseauslagen in Form eines festen Taggelds von Fr. 8.-
und einer Vergütung für auswärtiges Übernachten von Fr. 5.- pro Nacht
vor. Der Schuldner selber hat den Spesenersatz laut Pfändungsprotokoll
auf Fr. 15.- pro Tag beziffert. (Bahnspesen hat er nicht zu bestreiten,
da ihm die Arbeitgeberin ein Auto zur Verfügung stellt.) Selbst wenn
diese Entschädigung etwas knapp bemessen sein sollte, wie der Schuldner
im kantonalen Verfahren behauptet und die Vorinstanz angenommen hat,
stünde deswegen dem Schuldner nicht ohne weiteres ein Anspruch auf
zusätzlichen Spesenersatz zu, sondern läge materiell ein Verstoss gegen
zwingendes Recht nur unter der Voraussetzung vor, dass die gesamten
Leistungen der Arbeitgeberin dem Schuldner nach Abzug aller notwendigen
Reiseauslagen kein angemessenes Entgelt für seine Dienste böten (BGE
84 II 55). Dass diese Voraussetzung zweifellos erfüllt sei, kann um so
weniger angenommen werden, als die Arbeitgeberin nach ihren Mitteilungen
an das Betreibungsamt den Schuldner, der längere Zeit nicht gearbeitet
haben soll, nicht definitiv als Reisevertreter angestellt hat, sondern
ihn nur provisorisch als "Volontär" im Aussendienst beschäftigt, um ihn
wieder in einen geordneten Arbeitsprozess einzuführen.

    Ist demnach mindestens im vorliegenden Falle das Verfahren im Sinne
von BGE 84 III 37 ff. nicht ohne Rücksicht auf die Stellungnahme der
Parteien des Betreibungsverfahrens von Amtes wegen durchzuführen,
so hängt das Schicksal des Rekurses davon ab, ob der Rekurrent in
nach Verfahrensrecht wirksamer Weise behauptet habe, der Schuldner
habe nach den zwingenden Vorschriften des HRAG Anspruch auf zusätzliche
Leistungen der Arbeitgeberin. (Gestützt auf eine entsprechende Behauptung
des Schuldners könnte nur dieser, nicht auch der Rekurrent auf dem
Beschwerde- bzw. Rekurswege die Durchführung des erwähnten Verfahrens
verlangen. Im übrigen hat der Schuldner in seinem Rekurs an die Vorinstanz
zwar geltend gemacht, seine Spesen seien höher als die Spesenvergütung,
aber nicht behauptet, er habe deswegen Anspruch auf weitere Leistungen
der Arbeitgeberin, sondern die durch die Spesenvergütung nicht gedeckten
Reiseauslagen nur zur Begründung dafür angeführt, dass von seinem Lohn
nichts gepfändet werden könne.)

    Im kantonalen Verfahren hat der Rekurrent nicht behauptet,
der Schuldner könne von seiner Arbeitgeberin nach HRAG über seine
tatsächlichen Bezüge hinaus noch weitere Leistungen verlangen. Von der
kantonalen Aufsichtsbehörde eingeladen, sich zum Rekurs des Schuldners zu
äussern, hat er (von hier nicht interessierenden Vorbringen abgesehen)
lediglich ausgeführt, es scheine ihm merkwürdig, dass die Arbeitgeberin
des Schuldners diesem nicht die effektiven Reiseauslagen vergüte; auch
betrachte er die vom Schuldner behaupteten Spesen als zu hoch; wer Schulden
habe, müsse den Gürtel enger schnallen. In diesen Ausführungen liegt
nicht der geringste Hinweis darauf, dass die Anstellungsbedingungen des
Schuldners nach der Auffassung des Rekurrenten dem HRAG widersprechen und
dass die Arbeitgeberin von Rechts wegen mehr zahlen sollte, als sie es tut.

    Eine ausdrückliche Behauptung dieses Inhalts ist aber auch im
vorliegenden Rekurs an das Bundesgericht nicht zu finden. Man kann
lediglich aus dem Zusammenhang schliessen, dass der Rekurrent geltend
machen will, der Anstellungsvertrag des Schuldners verletze zwingende
Vorschriften des HRAG, insbesondere dessen Art. 13, und dass er der Meinung
ist, dieser Verstoss liege im Ungenügen der im Vertrag vorgesehenen
Spesenvergütung. Um welchen Betrag die Leistungen der Arbeitgeberin
erhöht werden sollten, sagt er nicht einmal andeutungsweise. Ob eine
nur implicite aufgestellte und zudem so unbestimmte Behauptung des
Gläubigers zur Einleitung des Verfahrens nach BGE 84 III 37 ff. Anlass
geben könne, ist mindestens zweifelhaft. Diese Frage braucht indes nicht
endgültig entschieden zu werden. Soweit der Rekurrent vor Bundesgericht
das Besteh en eines Anspruchs des Schuldners au zusätzliche Leistungen der
Arbeitgeberin behauptet, be schränkt er sich nämlich nicht etwa darauf, aus
bereits in den Akten erwähnten Tatsachen einen neuen rechtlichen Schluss zu
ziehen. Vielmehr macht er damit im Sinne von Art. 79 OG eine neue Tatsache
(das Vorhandensein einer beim Pfändungsvollzug nicht berücksichtigten
Forderung) geltend. Dies ist nach der eben genannten Bestimmung unzulässig,
weil er die fragliche Tatsache bereits im kantonalen Verfahren, nämlich
in seiner Vernehmlassung zum Rekurs des Schuldners an die Vorinstanz,
hätte anbringen können. Er wusste aus dem ihm zugestellten Entscheid
der untern Aufsichtsbehörde und aus dem Rekurs des Schuldners, welche
Leistungen dieser nach seinen eigenen Angaben und nach denjenigen seiner
Arbeitgeberin erhielt und auf welche Beträge dieser seine wirklichen
Reiseauslagen bezifferte. Zu einer umsichtigen Verteidigung gegen den
Rekurs des Schuldners hätte es daher gehört, nicht bloss Zweifel daran zu
äussern, dass der Schuldner mit ungedeckten Reisespesen rechnen müsse,
sondern zugleich geltend zu machen, dass der Schuldner im Falle der
Richtigkeit seiner Darstellung von seiner Arbeitgeberin weitere Leistungen
fordern könne. So gut wie heute hätte der Rekurrent diesen Standpunkt
schon in seiner Antwort auf den Rekurs des Schuldners an die Vorinstanz
verfechten können. Was er hienach bereits im kantonalen Verfahren hätte
tun können, kann er nach Art. 79 OG vor Bundesgericht nicht mehr nachholen.

    Es fehlt somit an einer verfahrensrechtlich beachtlichen Behauptung,
die zur Einleitung des Verfahrens nach BGE 84 III 37 ff. führen könnte.

Entscheid:

       Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen.