Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 I 232



84 I 232

33. Urteil vom 12. November 1958 i.S. Dinten gegen Dowideit und Obergericht
des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 86 Abs. 2, Art. 87 OG. Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs;
Verhältnis der staatsrechtlichen Beschwerde zu den ausserordentlichen
kantonalen Rechtsmitteln. Rügen, die mit einem ausserordentlichen
kantonalen Rechtsmittel erhoben werden können, können nicht auch mit
der staatsrechtlichen Beschwerde gegen das Sachurteil geltend gemacht
werden. Ausnahme, wenn die Ergreifung des ausserordentlichen kantonalen
Rechtsmittels eine leere Formalität bliebe.

Sachverhalt

    A.- Während der Sommermonate der Jahre 1954 und 1955 arbeitete der
Maler Kurt Dowideit, der mit seiner Familie in Waldshut (Deutschland)
wohnt, bei Friedrich Dinten, der in Zürich ein Malergeschäft
betrieb. Dowideit wurde zunächst vorübergehend in Wettingen und hierauf
in Kreuzlingen beschäftigt. Während er in Kreuzlingen arbeitete, wohnte
er in einem Zimmer, das er im benachbarten Konstanz gemietet hatte.

    Nach Beendigung des Dienstverhältnisses klagte Dowideit gegen
Dinten auf Zahlung von Fr. 2444.30. Dieser Betrag setzt sich zusammen
aus der Differenz zwischen dem bezahlten und dem nach den Ansätzen
des Gesamtarbeitsvertrages (GAV) für das Malergewerbe der Stadt Zürich
geschuldeten Lohn sowie aus der im GAV vorgesehenen Entschädigung für
auswärtige Arbeit von Fr. 8.- im Tage. Das Bezirksgericht Zürich und
das Obergericht des Kantons Zürich wiesen die Klage ab.

    Gegen das Urteil des Obergerichts führte Dowideit
Nichtigkeitsbeschwerde beim Kassationsgericht des Kantons Zürich. Dieses
hob am 25. Mai 1957 das angefochtene Urteil auf und wies die Sache
zur Beweisergänzung im Sinne der Erwägungen und zur Ausfällung eines
neuen Urteils an das Obergericht zurück. In den Erwägungen führte das
Kassationsgericht aus, die Annahme des Obergerichts, das Vertragsverhältnis
der Parteien unterstehe nicht dem GAV für das Malergewerbe der Stadt
Zürich vom 17. Juni 1953, sondern dem allgemeinverbindlich erklärten GAV
für das Malergewerbe der Ostschweiz vom 1. Juli 1953, sei unangefochten
geblieben, und es sei daher davon auszugehen. Dowideit habe indes einen
höheren Lohn bezogen, als ihn der GAV für das Malergewerbe der Ostschweiz
vorsehe, weshalb ihm unter diesem Titel nichts zustehe. Dagegen könne er
allenfalls aus Ziff. 6 dieses GAV einen Anspruch ableiten. Nach dieser
Bestimmung seien dem Arbeitnehmer, der ausserhalb des Geschäftssitzes
des Arbeitgebers arbeitet, die tatsächlichen Auslagen für Unterkunft
und Verpflegung sowie die Fahrkosten zu vergüten. Bisher sei aber nicht
festgestellt worden, ob Dowideit infolge der Arbeit in Kreuzlingen Auslagen
gehabt habe, die ihm nicht erwachsen wären, wenn er während dieser Zeit
am Geschäftssitze Dintens in Zürich gearbeitet hätte. Die Vorinstanz habe
darüber ergänzend Beweis abzunehmen.

    Das Obergericht gab den Parteien Gelegenheit, sich zum streitigen
Punkt zu äussern. Es schützte hierauf am 16. Januar 1958 die Klage im
Teilbetrag von Fr. 1008.65.

    B.- Friedrich Dinten führte gegen dieses Urteil staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV und kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs und
aktenwidriger tatsächlicher Annahmen (§ 344 Ziff. 6 und 8 zürch. ZPO). Die
Behandlung der staatsrechtlichen Beschwerde wurde bis zum Entscheid
über das kantonale Rechtsmittel ausgesetzt. Am 27. März 1958 starb
Friedrich Dinten; an seiner Stelle ist seine Ehefrau und Erbin Berta
Dinten geb. Imhof in den Prozess eingetreten.

    Am 26. September 1958 wies das Kassationsgericht die
Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es darauf eintrat.

    C.- Nach Fällung das Entscheids des Kassationsgerichts, den
die Beschwerdeführerin nicht angefochten hat, ist das Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde wieder aufgenommen worden. Diese richtet
sich auf Aufhebung des Urteils des Obergerichts vom 16. Januar 1958. Die
Begründung der Beschwerde ist, soweit wesentlich, aus den nachstehenden
Erwägungen ersichtlich. Kurt Dowideit schliesst auf Abweisung der
Beschwerde. Das Obergericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV ist
gemäss Art. 87 OG erst gegen letztinstanzliche Entscheide zulässig. Das
Erfordernis der Letzinstanzlichkeit deckt sich mit dem der Erschöpfung
der kantonalen Rechtsmittel, das Art. 86 Abs. 2 OG aufstellt. Um diese
Voraussetzung zu erfüllen, muss der Beschwerdeführer von sämtlichen
kantonalen Rechtsmitteln, auch den ausserordentlichen Gebrauch machen,
mit denen die gerügte Verfassungsverletzung geltend gemacht werden kann
(BGE 72 I 95, 81 I 147 Erw. 2). Ergreift er eines dieser Rechtsmittel auf
prozessual unzulässige (nicht form- oder fristgerechte) Weise, so ist es
gleich zu halten, wie wenn er das Rechtsmittel überhaupt nicht benützt
hätte (nicht veröffentlichte Urteile vom 10. November 1954 i.S. Sax und
vom 17. Mai 1955 i.S. Grob. Erw. 2; BIRCHMEIER, Handbuch, S. 348 lit. d).

    Wenn die Ausgestaltung des kantonalen Rechtsmittelverfahrens es
gestattet, die Rügen zu prüfen, die in der staatsrechtlichen Beschwerde
erhoben werden können, so stellt sich mithin der Rechtsmittelentscheid
als letzter kantonaler Entscheid im Sinne des Art. 87 OG dar. Daraus
folgt, dass die staatsrechtliche Beschwerde diesfalls in erster Linie
den Rechtsmittelentscheid zum Gegenstand haben muss, dass also mit der
Beschwerde geltend gemacht werde, der Rechtsmittelrichter habe willkürlich
das Vorhandensein des Rechtsmittelgrundes verneint. Dem Beschwerdeführer
bleibt es aber unbenommen, ausserdem auch das Sachurteil in die Anfechtung
einzubeziehen (BGE 81 I 148); er darf dabei indes keine Einwendungen
erheben, die er auch mit dem kantonalen ausserordentlichen Rechtsmittel
hätte vorbringen können, die er damit jedoch nicht geltend gemacht hat
(nicht veröffentlichte Urteile vom 19. Oktober 1955 i.S. Sibold, Erw. 5,
und vom 1. Oktober 1958 i.S. Luder, Erw. 2). Beschränkt er sich in einem
solchen Falle dagegen auf die Anfechtung des Sachurteils ohne auch den
Rechtsmittelentscheid darin einzubeziehen, so kann auf die Beschwerde
überhaupt nicht eingetreten werden (BGE 81 I 149).

Erwägung 2

    2.- Die vorliegende Beschwerde richtet sich allein gegen das Sachurteil
des Obergerichts. Nach dem Gesagten könnte sie deshalb nur an Hand genommen
werden, falls die Rügen, die mit der staatsrechtlichen Beschwerde
gegen dieses Urteil erhoben werden, nicht auch mit der kantonalen
Nichtigkeitsbeschwerde dem Kassationsgericht hätten unterbreitet werden
können. Im Folgenden ist zu prüfen, wieweit das der Fall war.

    a) In der staatsrechtlichen Beschwerde wird dem Obergericht
vorgeworfen, es habe in Missachtung des § 317 zürch. ZPO nach Ablauf
der Novenfrist neue tatsächliche Behauptungen des Beschwerdegegners
entgegengenommen und stelle ohne Beweisverfahren auf bestrittene Vorbringen
des Genannten ab. Der Beschwerdeführer macht damit geltend, es sei ihm das
rechtliche Gehör verweigert worden, und das Gericht habe seinen Entscheid
auf aktenwidrige tatsächliche Annahmen gestützt. Diese Rügen konnte er
mit der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde erheben (§ 344 Ziff. 6 und 8
zürch. ZPO); er hat es denn auch tatsächlich (wenn auch nicht durchwegs
in formgerechter Weise) getan. Unter diesen Umständen kann nach der in
Erw. 1 dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichts auf die nur das
Sachurteil des Obergerichts anfechtende Beschwerde in diesem Punkt nicht
eingetreten werden.

    b) Der Beschwerdeführer bezeichnet es im weiteren als willkürlich,
dass das Obergericht das Vertragsverhältnis der Parteien dem GAV für das
Malergewerbe der Ostschweiz, insbesondere dessen Ziff. 6, unterstellt hat,
und dass es den Grundsatz des Handelns nach Treu und Glauben (Art. 2 ZGB)
ausser Acht gelassen habe.

    Entgegen der Meinung des Beschwerdegegners sind diese Einwendungen
nicht verspätet. Richtig ist zwar, dass das Obergericht den erwähnten
GAV schon in seinem ersten Urteil auf das Dienstverhältnis der Parteien
anwandte. Der Beschwerdeführer konnte sich indes nicht dagegen wehren. Da
das Obergericht die Klage des Beschwerdegegners damals abwies, war der
Beschwerdeführer nicht beschwert; er war demgemäss nicht berechtigt, das
Urteil mit der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde oder der staatsrechtlichen
Beschwerde (Art. 88 OG) anzufechten. Die Rechtslage änderte sich erst, als
das Kassationsgericht den Anspruch des Beschwerdegegners auf Auslagenersatz
im Sinne von Ziff. 6 GAV in seinem ersten Entscheid grundsätzlich schützte
und die Sache zur Feststellung der Höhe der Auslagen an das Obergericht
zurückwies. Dieser Entscheid unterlag jedoch als blosser Zwischenentscheid
ohne nicht wiedergutzumachende Folgen der staatsrechtlichen Beschwerde
nicht (Art. 87 OG). Die Beschwerde war deshalb, unter Vorbehalt des in
Erw. 1 Gesagten, erst gegen das zweite Sachurteil des Obergerichts gegeben,
und als solche ist sie rechtzeitig, das heisst innert der in Art. 89
OG gesetzten Frist, eingereicht worden. Zu prüfen ist dagegen, ob die
Beschwerde auch in diesem Punkt deswegen nicht an Hand zu nehmen sei, weil
die damit geltend gemachten Rügen mit der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde
hätten erhoben werden können.

    Das trifft mit Bezug auf den Vorwurf, das Obergericht habe den in
Art. 2 ZGB aufgestellten Grundsatz des Handelns nach Treu und Glauben
in willkürlicher Weise ausser Acht gelassen, ohne weiteres zu. Mit
dieser Behauptung wird ein Widerspruch zu einer materiellrechtlichen
klaren gesetzlichen Bestimmung geltend gemacht, der gemäss § 344 Ziff. 9
zürch. ZPO mit der Nichtigkeitsbeschwerde hätte gerügt werden können. Auf
die staatsrechtliche Beschwerde ist daher insoweit mangels Erschöpfung
des kantonalen Instanzenzuges nicht einzutreten.

    Eine andere Frage ist es, ob auch die Anwendung des GAV für das
Malergewerbe der Ostschweiz und die Auslegung seiner Ziff. 6 unter
Anrufung dieses Nichtigkeitsgrundes hätte gerügt werden können. Gemäss §
344 Ziff. 9 zürch. ZPO kann Nichtigkeitsbeschwerde erhoben werden, wenn
der angefochtene Entscheid in materieller Beziehung mit einer klaren
"gesetzlichen" Bestimmung in Widerspruch steht. Nach einem Urteil des
Kassationsgerichts vom 12. März 1941 (ZR XL Nr. 65 S. 173 f.) sind darunter
nur die Vorschriften eines "Gesetzes im technischen Sinne" zu verstehen,
die in vertraglichen Ordnungen enthaltenen Bedingungen dagegen selbst
dann nicht, wenn sie behördlich genehmigt worden sind (vgl. GULDENER,
Nichtigkeitsbeschwerde in Zivilsachen, S. 134/135). Ob das auch für die
Regeln eines allgemeinverbindlich erklärten GAV gelte, wurde, soweit
ersichtlich, noch nie entschieden. Die Frage kann indes offen bleiben,
da der mit der staatsrechtlichen Beschwerde gerügte Mangel jedenfalls
in anderer Weise mit der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde hätte geltend
gemacht werden können.

    Mit der Behauptung, der GAV für das Malergewerbe der Ostschweiz
sei offensichtlich zu Unrecht auf das Dienstverhältnis der Parteien
angewandt und Ziff. 6 des Vertragswerks sei zudem unrichtig ausgelegt
worden, rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der in Art. 19 Abs. 1 OR
gewährleisteten Vertragsfreiheit einerseits, die willkürliche Anwendung und
Auslegung des GAV anderseits. In der staatsrechtlichen Beschwerde macht er
denn auch ausdrücklich geltend, es liege eine "krasse Verletzung der freien
Dispositionsbefugnis der Parteien" vor. Einen Verstoss gegen die genannte
gesetzliche Bestimmung hätte er aber auf Grund von § 344 Ziff. 9 zürch. ZPO
auch mit der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde beanstanden kÖnnen. Wegen
der willkürlichen Anwendung und Auslegung des GAV dagegen hätte er auf
Grund von § 344 Ziff. 6 zürch. ZPO an das Kassationsgericht gelangen
können. Nach dieser Vorschrift kann Nichtigkeitsbeschwerde geführt werden,
wenn einer Partei das rechtliche Gehör verweigert wurde. Die zürcherischen
Gerichte legen diese Bestimmung sehr weit aus und wenden sie nicht nur
bei formeller, sondern auch bei materieller Rechtsverweigerung an, wenn
der Richter zum Vorgebrachten in willkürlicher Weise Stellung genommen hat
(GULDENER, aaO, S. 126 f.).

    Dass die Anwendung und Auslegung des GAV zum Gegenstand einer
Nichtigkeitsbeschwerde hätte gemacht werden können, scheint übrigens auch
die Auffassung des Kassationsgerichts zu sein. Wenn es in seinem ersten
Entscheid bemerkte, die entsprechenden Feststellungen der Vorinstanz seien
"unangefochten geblieben", so ging es offensichtlich davon aus, dass ihm
diese Fragen mit der Nichtigkeitsbeschwerde hätten unterbreitet werden
können. Da es in seinem ersten Entscheid nicht materiell dazu Stellung
genommen hat, liesse sich auch nicht etwa einwenden, die Anrufung des
Kassationsgerichts wäre eine leere Formalität geblieben; sie sei darum
unter dem Gesichtswinkel der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges
nicht erforderlich gewesen (BIRCHMEIER, aaO, S. 349 lit. aa).

    Auch in diesem Punkt liegt demgemäss kein letztinstanzlicher Entscheid
vor, gegen den die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4
BV gegeben wäre. Soweit dem Obergericht vorgeworfen wird, es habe Ziff. 6
des GAV für das Malergewerbe der Ostschweiz willkürlich ausgelegt, fehlt es
der Beschwerde zudem an einer den Anforderungen des Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG genügenden Begründung. Die Beschwerde führt lediglich aus, Ziff. 6
GAV beziehe sich "ganz offensichtlich nur auf den Normalfall, wo der
Arbeitgeber sein Geschäftsdomizil im Verbandsgebiet und der Arbeitnehmer
seinen Wohnsitz am Ort des Geschäftsdomizils hat"; sie tut aber in keiner
Weise dar, inwiefern eine andere Auslegung schlechthin unhaltbar, mit
keinen sachlichen Gründen zu vertreten und damit willkürlich sei.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.