Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 I 217



84 I 217

30. Urteil vom 26. November 1958 i.S. N. gegen K. und Obergericht des
Kantons Obwalden. Regeste

    Staatsrechtliche Beschwerde wegen Art. 4 BV. Zulässigkeit der
Beschwerde gegen einen Beweisbeschluss in einer Zivilrechtsstreitigkeit,
die der Berufung an das Bundesgericht unterliegt?

    Kantonales Zivilprozessrecht; Willkür. Kann der Beklagte
im Vaterschaftsprozess verpflichtet werden, sich einer
anthropologisch-erbbiologischen Expertise zu unterziehen?

Sachverhalt

    A.- Frl. K. gebar am 25. November 1954 ein aussereheliches Kind Paul,
als dessen Vater sie N. bezeichnete. Dieser gab in dem beim Kantonsgericht
Obwalden eingeleiteten Vaterschaftsprozess zu, der Mutter am 1. März 1954
beigewohnt zu haben, behauptete aber, sie habe wenige Tage vorher auch
mit L. geschlechtlich verkehrt, was dieser als Zeuge bestätigte. Die
Blutuntersuchung der Mutter, des Kindes und des Beklagten schloss dessen
Vaterschaft nicht aus, während sich der Zeuge L. mit Erfolg weigerte,
sich einer solchen Untersuchung zu unterziehen (BGE 82 I 234 ff.). Darauf
wies das Kantonsgericht die Vaterschaftsklage ab.

    Die Kläger appellierten hiegegen an das Obergericht. Dieses
beschloss am 15. Juli 1958, "zwecks Erforschung der Vaterschaft oder
Nichtvaterschaft des Beklagten" eine anthropologisch-erbbiologische
Expertise durchzuführen. Es teilte dies den Parteien am 20. Oktober
1958 mit und forderte sie gleichzeitig (unter Androhung von Strafe nach
Art. 292 StGB und von Prozessnachteilen) auf, am 12. November 1958 vor
der Expertin Dr. Dora Pfannenstiel zu erscheinen.

    B.- N. führt gegen die Anordnung der anthropologischerbbiologischen
Expertise staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Zur
Begründung macht er geltend:

    a) Das Obergericht habe die von den Klägern erstinstanzlich nicht
beantragte Expertise von Amtes wegen angeordnet. Das wäre nur zulässig,
wenn die Expertise sich auf "bereits erhobene Tatumstände" beziehen würde
(Art. 184 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 158 Abs. 2 ZPO). Davon könne jedoch
nicht die Rede sein, da es sich bei den Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten,
welche die Expertin herauszufinden habe, um Tatbestände handle, die von
ihr zuerst erhoben werden müssen. Der angefochtene Entscheid verletze
somit offensichtlich die klare Vorschrift von Art. 158 Abs. 2 ZPO und
sei willkürrlich.

    b) Ferner verstosse er auch deshalb gegen Art. 4 BV, weil er den
Beschwerdeführer ohne gesetzliche Grundlage zu einer Leibesvisitation
zwinge. Die Pflichten des Beklagten seien in der ZPO erschöpfend
aufgezählt. Er müsse dem Richter auf Fragen antworten und unter Umständen
den Eid leisten (oder ihn ablehnen). Dagegen verpflichte ihn die ZPO
nirgends, sich einer medizinischen Expertise zu unterziehen, weshalb er
hiezu gegen seinen Willen so wenig gezwungen werden könne wie ein Zeuge
(BGE 82 I 234 ff.).

    C.- Das Obergericht des Kantons Obwalden und die Beschwerdegegner
beantragen, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sie
sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der angefochtene Beweisbeschluss ist ein Zwischenentscheid in einem
hängigen Zivilprozessverfahren. Gegen einen solchen Zwischenentscheid
ist die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV nur
zulässig, wenn er für den Betroffenen einen nicht wiedergutzumachenden
Nachteil zur Folge hat (Art. 87 OG). Das ist bei einem Zwischenentscheid
dann der Fall, wenn er eine nach kantonalem Zivilprozessrecht zu
entscheidende Frage zum Gegenstand hat und die Streitsache durch Berufung
an das Bundesgericht weitergezogen werden kann, da der Betroffene die
Verletzung kantonalen Zivilprozessrechts im Berufungsverfahren nicht
geltend machen kann und sie daher unter Umständen überhaupt nicht geltend
machen könnte (BGE 28 I 39, 77 I 226/7).

    Der vorliegende Vaterschaftsprozess kann, da der Streitwert Fr. 4000.--
übersteigt, mit der Berufung an das Bundesgericht weitergezogen werden. Mit
der staatsrechtlichen Beschwerde macht der Beschwerdeführer geltend,
er sei nach dem kantonalen Zivilprozessrecht nicht verpflichtet,
sich der angeordneten Expertise zu unterziehen. Im Berufungsverfahren
könnte er diese Frage nicht aufwerfen. Anderseits wäre er, wenn er -
nach Durchführung der Expertise - vor Obergericht zwar obsiegen, auf
Berufung der Gegenpartei hin aber vor Bundesgericht aus Gründen des
materiellen Rechts unterliegen würde, nicht mehr in der Lage, wegen der
von ihm behaupteten Verletzung kantonalen Prozessrechts staatsrechtliche
Beschwerde zu führen. Er muss hiezu daher jetzt Gelegenheit haben.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, die vom Obergericht gemäss Art.
184 Abs. 2 ZPO von Amtes wegen angeordnete anthropologisch-erbbiologische
Expertise sei schon deshalb willkürlich, weil sie nicht "bereits erhobene
Tatumstände" im Sinne von Art. 158 Abs. 2 ZPO zum Gegenstand habe. Die
Rüge ist unbegründet. Die Expertise bezieht sich auf die Möglichkeit
der Vaterschaft des Beschwerdeführers, die bereits aus der nicht
streitigen Beiwohnung in der kritischen Zeit sowie aus dem Ergebnis der
Blutuntersuchung folgt. Die Expertin soll prüfen, ob die auf Grund des
bisherigen Beweisergebnisses bestehende Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft
des Beschwerdeführers nach der Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Kind
nur gering oder im Gegenteil so gross ist, dass seine Vaterschaft als
praktisch erwiesen anzusehen ist. Es kann somit zwanglos und jedenfalls
ohne Willkür angenommen werden, die Expertise beziehe sich auf "bereits
erhobenen Tatumstände" im Sinne von Art. 158 Abs. 2 ZPO.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Anordnung
einer solchen Expertise entbehre der gesetzlichen Grundlage; die ZPO,
welche die Pflichten des Beklagten abschliessend aufzähle, biete
keine Handhabe, um ihn zu einer "Leibesvisitation" und allen damit
verbundenen Unannehmlichkeiten zu zwingen, wie sich aus BGE 82 I 234
ff. ergebe. Indessen lassen sich die in diesem Urteil angestellten
Erwägungen schon deshalb nicht auf den vorliegenden Fall übertragen,
weil es nicht wie dort um die Pflichten eines Zeugen, sondern um
diejenigen einer Prozesspartei geht. Ausserdem stand dort ein (freilich
verhältnismässig harmloser) Eingriff in die körperliche Unversehrtheit
in Frage, während sich der Beschwerdeführer lediglich von einem Experten
besichtigen und photographieren zu lassen braucht. Was von ihm verlangt
wird, geht also nicht wesentlich über das persönliche Erscheinen hinaus,
zu dem er bei der in Art. 106 ff. ZPO vorgesehenen Parteibefragung
verhalten werden kann. Jedenfalls kann von einem Eingriff in seine
körperliche Unversehrtheit nicht die Rede sein. Soweit aber ein solcher
Eingriff nicht in Frage steht, gelten für die Auslegung zivilprozessualer
Vorschriften, wie bereits in BGE 82 I 239 Erw. 4 ausgeführt worden
ist, die allgemeinen Regeln der Gesetzesauslegung. Dabei ist, nach
einem allgemeinen Grundsatz, im Zweifel derjenigen Auslegung der Vorzug
zu geben, die der Verwirklichung des materiellen Rechtes besser dient
(vgl. GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht II. Auflage S. 49). Aus diesem
Gesichtspunkt kann es aber nicht zweifelhaft sein, dass die Annahme, der
Beschwerdeführer habe sich der angeordneten anthropologisch-erbbiologischen
Expertise zu unterziehen, auf einer mit vernünftigen Gründen vertretbaren
Auslegung der Vorschriften der ZPO über die Parteibefragung und den Beweis
durch Sachverständige beruht und keine willkürliche, mit dem Sinn dieser
Vorschriften unvereinbare Lückenausfüllung darstellt.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.