Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 I 18



84 I 18

4. Urteil vom 29. Januar 1958 i.S. Baumgartner gegen Kleiner Rat des
Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 31 BV.

    1.  Nicht nur der Geschäftsinhaber, sondern auch der Angestellte
kann sich auf die Handels- und Gewerbefreiheit berufen (Änderung der
Rechtsprechung; Erw. 2).

    2.  Kann der Verkauf von Waren vor der Ladentüre bewilligungspflichtig
erklärt werden? (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Nach Art. 2 des bündnerischen Gesetzes über die Ausübung von
Handel und Gewerbe (HGG) vom 7. April 1929 muss, wer im Kanton ein
Hausier- oder Wandergewerbe ausüben will, zuvor ein kantonales Patent
lösen. Unter den Begriff des Hausier- und Wandergewerbes fällt nach
Art. 1 Ziff. 2 des Gesetzes auch "das vorübergehende Feilbieten eines
Warenlagers ausserhalb des Geschäftslokals, sei es, dass die Waren von
einer festen Verkaufsstelle aus feilgeboten oder von einem im Kanton
befindlichen Depot aus auf dem Hausierwege verschleisst oder von Ort zu
Ort gebracht werden (Wanderlager)". Die kantonale Patentgebühr beträgt
je nach dem Umfang des betreffenden Hausier- oder Wandergewerbes 2 bis
1000 Franken im Monat (Art. 19). Verletzungen der Patentpflicht werden
vom Kleinen Rat mit Bussen bis zu 1000 Franken bestraft (Art. 41 Abs.
2); allfällig umgangene Gebühren sind nachzuzahlen (Art. 44 Abs. 1).

    B.- Das Schuhhaus Wergles & Co. in St. Moritz verkauft nebenbei
Strumpfwaren, die es von der Firma Fischlin in Bern bezieht. Während
der Sommer-Hochsaison errichtet es hiefür vor dem Schuhladen auf dem ihm
gehörenden Vorplatz zwischen dem Haus und dem Gehsteig der Dorfstrasse
einen Verkaufsstand, an dem ein von der Firma Fischlin zur Verfügung
gestellter Verkäufer den Strumpfverkauf besorgt. Vom 15. Juli bis zum
12. August 1957 übte Walter Baumgartner diese Tätigkeit aus. Weil er dafür
kein Patent gelöst hatte, verurteilte ihn die kantonale Polizeiabteilung
am 5. September 1957 zu einer Busse von Fr. 20.-, zur Tragung der Kosten
von Fr. 5.- und zur Nachzahlung einer Patentgebühr von Fr. 90.-. Die
Einsprache, die Baumgartner dagegen erhob, hat der Kleine Rat des Kantons
Graubünden mit Entscheid vom 30. September 1957 abgewiesen.

    C.- Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung
der Art. 4 und 31 BV beantragt Baumgartner, der Einspracheentscheid
sei aufzuheben, eventuell aber sei ihm die Nachzahlung der Patentgebühr
zu erlassen.

    D.- Der Kleine Rat des Kantons Graubünden schliesst auf Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Auffassung des Kleinen Rates erfüllt die Geschäftstätigkeit
des Beschwerdeführers in klarer Weise den in Art. 1 Ziff. 2 HGG
umschriebenen Tatbestand des Feilbietens eines Warenlagers ausserhalb
des Geschäftslokals. Der Beschwerdeführer bezeichnet diese Feststellung
insofern als willkürrlich, als die kantonale Instanz angenommen hat,
das Warenlager sei "ausserhalb des Geschäftslokals" feilgeboten worden.

    Bei Prüfung dieser Einwendung fällt in Betracht, dass Art. 1 HGG
in Ziff. 1 das eigentliche Hausieren ("Feilbieten von Waren durch
Umhertragen in den Strassen, auf öffentlichen Plätzen oder von Haus
zu Haus") erfasst, in Ziff. 2 verschiedene Fälle des vorübergehenden
Feilbietens eines Warenlagers ausserhalb des Geschäftslokals, in Ziff. 3
den gewerbsmässigen Ankauf oder Tausch von Waren im Umherziehen und in
Ziff. 4 den sonstigen Betrieb eines Gewerbes im Umherziehen. Im Einklang
mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch liegt das notwendige Merkmal des
Hausier- und Wandergewerbes nach Ziff. 1, 3 und 4 darin, dass Ware im
Umherziehen veräussert wird. Ebendas gilt von Ziff. 2, soweit diese
den Fall betrifft, da "Waren ... von einem im Kanton befindlichen Depot
aus auf dem Hausierwege verschleisst oder von Ort zu Ort gebracht
werden (Wanderlager)". Eine gewisse Ausdehnung erfährt der Begriff
des Hausier- und Wandergewerbes in der letztgenannten Ziffer dadurch,
dass sie ausdrücklich auch das "Feilbieten eines Warenlagers ... von
einer festen Verkaufsstelle aus" patentpflichtig erklärt, sofern es
vorübergehend und ausserhalb des Geschäftslokals erfolgt. Die Tragweite
dieser Vorschrift ist nicht ohne weiteres zu überblicken. Sie dürfte
im Sinne einer Generalklausel jeden vorübergehenden, ausserhalb des
Geschäftslokals ausgeübten Warenhandel erfassen, der aus einem der in
Erw. 3 umschriebenen fiskalischen oder polizeilichen Gründe dem Hausier-
und Wandergewerbe zugerechnet werden muss. Ob sie darüber hinaus, wie der
Kleine Rat annimmt, stets schon Platz greife, wenn ein Ladeninhaber vor
der Ladentüre (als der "einzigen logischen und eindeutigen Abgrenzung des
Geschäftslokals") einen Verkaufsstand aufschlägt, und ob die Bestimmung
demgemäss ohne Willkür auch auf den vorliegenden Fall angewendet werden
könne, kann offen bleiben, da eine Vorschrift, die in diesem Sinne
ausgelegt werden müsste, jedenfalls gegen Art. 31 BV verstiesse.

Erwägung 2

    2.- Es fragt sich indes zunächst, ob der Beschwerdeführer sich auf
diesen Verfassungssatz berufen könne. Er ist zweifellos nicht befugt,
eine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Freiheit des Schuhhauses Wergles
& Co. oder der Firma Fischlin zu rügen, die beide nicht Beschwerde führen;
er kann sich vielmehr nur über eine Verletzung seiner eigenen, rechtlich
geschützten Interessen beschweren (Art. 88 OG). Das Bundesgericht hat
jedoch in früheren Urteilen nur den Geschäftsinhaber, nicht aber den
Angestellten zur Beschwerde wegen Verletzung des Art. 31 BV zugelassen,
da nur der erstgenannte "Gewerbetreibender" sei (BGE 63 I 229 Erw. 2,
64 I 25 Erw. 4). Art. 31 BV enthält indes keine Anhaltspunkte für die
Einschränkung der Handels- und Gewerbefreiheit auf Selbständig-Erwerbende;
der Sinn dieses Freiheitsrechts - die Gewährleistung der Freiheit
in der Erwerbstätigkeit - verlangt vielmehr auch den Schutz der
unselbständigen Erwerbstätigkeit (MARTI, Handels- und Gewerbefreiheit,
S. 60 ff.). Dass auch der Angestellte durch staatliche Eingriffe in seine
Erwerbstätigkeit nicht nur in seinen tatsächlichen, sondern zudem in
seinen rechtlichen geschützten Interessen verletzt sein kann, ist schon
bei früherer Gelegenheit stillschweigend vorausgesetzt worden (vgl. BGE
57 I 100 ff., 81 I 18 ff.), und zeigt sich gerade in einem Falle wie dem
vorliegenden, in dem weder das Schuhhaus Wergles & Co. noch die Firma
Fischlin unmittelbar von einem Rechtsnachteil betroffen worden ist,
sondern allein der Beschwerdeführer, der gebüsst und zur Nachzahlung
der Patentgebühr verpflichtet worden ist. Es muss ihm daher zustehen,
wegen Verletzung des Art. 31 BV Beschwerde zu erheben.

    Kann auch Art. 1 Ziff. 2 HGG selbst nicht mehr mit staatsrechtlicher
Beschwerde angefochten werden, weil die Frist dazu längst abgelaufen
ist, so kann doch seine Verfassungswidrigkeit noch in jedem einzelnen
Anwendungsfall gerügt und verlangt werden, dass die ihn anwendende
Entscheidung deswegen aufgehoben werde (BGE 81 I 25 und 182 Erw. 2;
82 I 222; 83 I 113/114 und 252 Erw. 1).

Erwägung 3

    3.- Art. 31 BV, der die Handels- und Gewerbefreiheit gewährleistet,
behält in Abs. 2 kantonale Bestimmungen über die Ausübung von Handel und
Gewerben sowie deren Besteuerung vor; diese dürfen jedoch ihrerseits den
Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit nicht beeinträchtigen. Auf
Grund dieser Vorschrift - die inhaltlich mit dem früheren Art. 31 lit. e
BV übereinstimmt - sind die Kantone nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesgerichts befugt, das Hausieren und ähnliche im Umherziehen
ausgeübte Gewerbe, wie insbesondere die Veranstaltung von Warenlagern,
der Patentpflicht und einer mit der Bewilligung verbundenen Sondersteuer
zu unterwerfen. Diese Beschränkungen lassen sich damit rechtfertigen,
dass solche Wanderbetriebe das Publikum eher der Gefahr der Übervorteilung
und Belästigung aussetzen als das ortsansässige Gewerbe, und dass sie
am Orte der gewerblichen Tätigkeit nicht der ordentlichen Steuerpflicht
unterliegen, wofür ein Ausgleich in der Form einer besonderen fiskalischen
Belastung als angemessen erscheinen mag (BGE 64 I 10 mit Zitaten). Die
erwähnte Gefahr und die dadurch bedingte Notwendigkeit einer Überwachung
ist darin zu erblicken, dass der Händler die Kunden einzeln in deren
Wohnstätten aufsucht, bzw. bei Veranstaltung eines Warenlagers sich an
einer für einen bestimmten Personenkreis bequem gelegenen Stelle einfindet
und so den Kunden besonders nahe tritt, nach Abschluss des Geschäfts für
diese aber (insbesondere im Falle von Beanstandungen) meist schwer zu
erreichen ist. Die Einführung der Patentpflicht lässt sich hingegen nicht
schon damit begründen, dass ein Beruf in der Öffentlichkeit ausgeübt wird
(BGE 42 I 257, 58 I 158).

    Wenn der Inhaber eines Ladengeschäfts einen Teil seiner Waren vor dem
Laden aufstellt und feilbietet, statt sie im Schaufenster auszubreiten
und im Innern des Ladens zu verkaufen, so besteht grundsätzlich kein
Anlass, diese Tätigkeit der Bewilligungspflicht zu unterstellen und eine
Sondersteuer darauf zu erheben. Es ist nicht einzusehen und wird auch vom
Kleinen Rat nicht behauptet, dass das Publikum bei einem solchen Verkauf
im Freien eher Gefahr laufe, belästigt oder übervorteilt zu werden,
als wenn sich der Handel ganz im Geschäftslokal abspielt. Insbesondere
weiss der Kunde im einen wie im andern Falle, mit wem er es zu tun hat,
und an wen er sich wegen allfälliger Mängel zu halten hat. Mit Bezug
auf die behördliche Überwachung des Gewerbes begründet der Verkauf vor
oder hinter der Ladentüre gleichfalls keinen Unterschied. Gestützt auf
die Strassenhoheit und aus verkehrspolizeilichen Gründen könnte jedoch
die Errichtung eines Verkaufsstandes nur bewilligungspflichtig erklärt
werden, wenn dafür öffentlicher Boden in Anspruch genommen würde, oder wenn
mit einer Beeinträchtigung des Verkehrs auf einer öffentlichen Strasse
zu rechnen wäre. Das war hier nicht der Fall, da der Verkaufstisch
des Beschwerdeführers auf einem dem Schuhhaus Wergles & Co. gehörenden
Vorplatz stand und nicht ersichtlich ist, dass die Bedienung der Kunden
den Verkehr auf dem Gehsteig der Dorfstrasse behindert hätte. Da die
Verkaufstätigkeit des Beschwerdeführers unbestrittenermassen im Auftrag
und auf Rechnung des ortsansässigen Schuhhauses Wergles & Co. ausgeübt
wurde und zu dessen dortigem Geschäftsbetrieb gehörte, unterlag sie mit
diesem der ordentlichen Steuerpflicht. Es bestand daher kein Grund für
eine besondere fiskalische Belastung; lag doch nichts vor, was durch eine
solche hätte ausgeglichen werden können.

    Zusammengefasst ergibt sich, dass die Gründe, die kantonale
Beschränkungen des Hausier- und Wandergewerbes zu rechtfertigen vermögen,
auf den vorliegenden Fall des Feilbietens von Waren vor dem Geschäftslokal
des Händlers nicht zutreffen. Wenn Art. 1 Ziff. 2 diese Tätigkeit,
wie die kantonale Instanz annimmt, der Patentpflicht und einer mit der
Bewilligung verbundenen Sondersteuer unterwerfen sollte, so ginge er
über den Rahmen dessen hinaus, was die Kantone gestützt auf Art. 31
Abs. 2 BV sowie kraft ihrer Strassenhoheit vorschreiben können. Sollte
die Auslegung des Art. 1 Ziff. 2 HGG durch die kantonale Instanz richtig
oder doch nicht willkürlich sein, so verstiesse mithin die Bestimmung
selbst oder ihre ohne Willkür mögliche Anwendung gegen Art. 31 BV.
Der angefochtene Entscheid verletzt damit wenn nicht Art. 4, so Art. 31
BV; er ist in jedem Falle verfassungswidrig.

Entscheid:

              Demgemäss erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird dahin gutgeheissen, dass der Entscheid des Kleinen
Rates des Kantons Graubünden vom 30. September 1957 aufgehoben wird.