Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 I 13



84 I 13

3. Auszug aus dem Urteil vom 22. Januar 1958 i.S. Rohner gegen
Bezirksgericht Vorderland. Regeste

    Kantonaler Strafprozess; Willkür. Unter welchen Voraussetzungen
dürfen die Kosten einer wegen eines Offizialdelikts durchgeführten
Strafuntersuchung im Falle der Freisprechung desAngeschuldigten dem
Verzeiger oder Privatstrafkläger auferlegt werden?

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    Am 22. Januar 1957 fuhren der 1945 geborene Knabe Willi Rohner und ein
1952 geborenes Mädchen auf einem Schlitten aus einem steilen Seitenweg
in die Staatsstrasse Rheineck-Wolfhalden, stiessen dort mit einem von
Alfred Hausamann gesteuerten Automobil zusammen und wurden dabei erheblich
verletzt. Das Untersuchungsamt Wolfhalden leitete gegen Hausamann eine
Strafuntersuchung wegen Übertretung des MFG ein. Hans Rohner, der Vater
des verletzten Knaben, beauftragte Rechtsanwalt Dr. J. Auer mit der Wahrung
seiner Interessen. Dieser verlangte Einsicht in die Untersuchungsakten und
stellte mit Eingaben vom 22. März, 25. März und 11. April 1957 Begehren
um Aktenergänzung zur weiteren Abklärung des Tatbestandes.

    Mit Urteil vom 29. Juni 1957 erklärte das Gemeindegericht Wolfhalden
Hausamann der Nichtbeherrschung des Fahrzeuges (Art. 25 MFG) schuldig,
büsste ihn mit Fr. 20.- und auferlegte ihm die Fr. 152.45 betragenden
Rechtskosten sowie eine Staatsgebühr.

    Hausamann appellierte hiegegen an das Bezirksgericht Vorderland. Dieses
sprach ihn mit Urteil vom 7. Oktober 1957 von Schuld und Strafe frei
und auferlegte die erstinstanzlichen Rechtskosten von Fr. 152.45 zu 2/3
dem Angeschuldigten Hausamann und zu 1/3 dem Kläger Rohner. Dieser
Kostenentscheid wird im wesentlichen wie folgt begründet: Der
Angeschuldigte habe durch die ganze Unfallsituation, wie sie sich vorerst
bot (langsame Reaktion und langer Bremsweg) mindestens Verdachtsgründe
gesetzt, was es nach Art. 90 Abs. 1 StPO rechtfertige, ihm 2/3 der
Untersuchungskosten aufzuerlegen. Der Vertreter des verunfallten
Knaben sei als Privatkläger im Strafpunkt zu betrachten. Da seine
Beweisergänzungsbegehren, denen entsprochen worden sei, zu keinen
neuen Ergebnissen geführt hätten, was im Freispruch des Angeklagten
zum Ausdruck komme, sei er gemäss Art. 90 Abs. 2 StPO zur Tragung
derjenigen Untersuchungskosten zu verurteilen, die er durch diese Anträge
verursacht habe. Nach richterlichem Ermessen seien ihm daher 1/3 der
Untersuchungskosten aufzuerlegen.

    Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde beantragt Hans
Rohner, das Urteil des Bezirksgerichts Vorderland sei insoweit, als
ihm Verfahrenskosten auferlegt werden, wegen Verletzung von Art. 4 BV
(Willkür) aufzuheben.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales).

Erwägung 2

    2.- (Ausführungen darüber, ob der Beschwerdeführer als "Privatkläger"
im Sinne von Art. 90 Abs. 2 app. StPO betrachtet werden kann. Frage offen
gelassen, da sich der angefochtene Entscheid selbst dann als unhaltbar
erweist, wenn der Beschwerdeführer als Privatkläger zu gelten hätte).

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 90 Abs. 2 StPO "kann" der Privatkläger im Falle der
Freisprechung des Angeklagten zur ganzen oder teilweisen Bezahlung
der Kosten verurteilt werden. Damit wird der Entscheid jedoch, wie das
Bundesgericht bereits im Urteil vom 16. März 1955 i.S. Allg. Konsumverein
Herisau c. Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh. ausgeführt hat,
nicht ins freie Belieben des Richters gestellt; dieser hat vielmehr nach
pflichtgemässem Ermessen zu befinden und macht sich der Willkür schuldig,
wenn er sein Ermessen missbraucht, sich von unsachlichen, unvernünftigen
Gründen leiten lässt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn er die
Kosten dem "Privatkläger" aus Gründen auferlegt, die mit dem Wesen der
Strafverfolgung als einer staatlichen Aufgabe (Art. 10 StPO) unvereinbar
sind. Die nicht dem Angeschuldigten zu überbindenden Kosten können daher
zwar dann dem "Privatkläger" auferlegt werden, wenn dieser anstelle der
staatlichen Behörde die Anklage erhoben und den Prozess geführt hat,
denn wenn ein Privater einen Strafprozess selbständig betreiben will,
nachdem die staatliche Behörde auf die Durchführung verzichtet hat, ist
es nur folgerichtig, dass er dann auch das Kostenrisiko trägt. Dagegen
geht es nicht an, dem Verzeiger oder "Privatkläger", der neben dem
staatlichen Ankläger am Strafverfahren teilgenommen hat, die nicht
dem Freigesprochenen überbindbaren Kosten stets und ohne weiteres
aufzuerlegen. Das würde darauf hinauslaufen, die Kosten der Erfüllung
einer staatlichen Aufgabe in untragbarer Weise auf Private abzuwälzen. Die
Kostenauflage an den Verzeiger oder Privatkläger bei Offizialdelikten
lässt sich mit vernünftigen Gründen nur rechtfertigen, wenn sein Verhalten
zu missbilligen ist, weil er die Einleitung des Verfahrens leichtfertig
oder arglistig veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat. Eine
Reihe kantonaler Prozessordnungen (vgl. z.B. Zürich § 189 Abs. 2, Bern
Art. 260/1) wie auch Art. 177 BStP machen denn auch die Kostenauflage an
den Verzeiger ausdrücklich von Voraussetzungen solcher Art abhängig. Die
app. StPO enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass im Gegensatz zu diesen
Ordnungen ein "Privatkläger", der lediglich neben dem staatlichen Ankläger
am Strafverfahren teilgenommen hat, die Verfahrenskosten tragen muss,
soweit sie dem Angeschuldigten nicht auferlegt werden können. Art. 90
Abs. 2 StPO ist daher in solchen Fällen vernünftigerweise so auszulegen,
dass dem "Privatkläger" Kosten nur dann auferlegt werden können, wenn
sein Verhalten zu missbilligen ist.

    Im vorliegenden Falle ist die Untersuchung nicht auf Verzeigung
des Beschwerdeführers, sondern von Amtes wegen eingeleitet worden. Das
Bezirksgericht hat den Beschwerdeführer mit 1/3 der erstinstanzlichen
Kosten belastet, weil "alle seine Ergänzungsbegehren zu keinen neuen
Ergebnissen führten" und er daher die durch diese Anträge selbst
verursachten Kosten zu tragen habe. Nun bestanden die vom Beschwerdeführer
beantragten und durchgeführten Aktenergänzungen in Erhebungen darüber,
ob Hausamann zu langsam auf den Zusammenstoss reagiert und deswegen nicht
rechtzeitig angehalten habe, über die Gründe hiefür sowie darüber, ob
bei rascher Reaktion und schnellerem Anhalten die Unfallfolgen weniger
schwer gewesen wären. Diese Begehren waren für die Beurteilung des
Falles wesentlich und keineswegs überflüssig. Das Gemeindegericht
betrachtete denn auch die Aufmerksamkeit und Bremsreaktion des
Angeklagten als ungenügend, und das Bezirksgericht hat sich ebenfalls
mit dieser Frage auseinandergesetzt. Dass es dabei im Gegensatz zum
Gemeindegericht zum Freispruch kam, ändert nichts daran, dass die vom
Beschwerdeführer beantragten Beweisergänzungen keineswegs leichtfertig
oder gar verwerflich waren, die Untersuchung nicht erschwerten und daher
nicht mit sachlichen Gründen missbilligt werden können. Allein schon die
Tatsache, dass die beiden kantonalen Instanzen entgegengesetzte Schlüsse
aus dem Untersuchungsergebnis zogen, zeigt klar, dass die fraglichen
Aktenergänzungen sich sachlich durchaus rechtfertigen liessen. Dem
Beschwerdeführer ihretwegen einen Teil der erstinstanzlichen Kosten
aufzuerlegen, ist daher schlechthin unhaltbar. Andere Gründe für die
beanstandete Kostenauflage nennt das angefochtene Urteil nicht und sind
auch sonst nicht ersichtlich, weshalb sie wegen Verletzung von Art. 4
BV aufzuheben ist. Das Bezirksgericht Vorderland wird über die dem
Beschwerdeführer auferlegten Kosten neu zu entscheiden haben. Dabei wird
es sich ernstlich überlegen müssen, ob dieser Kostenanteil nicht auf die
Staatskasse zu nehmen sei, da schon die Belastung des freigesprochenen
Hausamann mit 2/3 der Kosten als fragwürdig erscheint.