Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 IV 28



84 IV 28

11. Urteil des Kassationshofes vom 7. März 1958 i.S. Beer gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 46 Abs. 3 MFV, Art. 26 Abs. 4 Satz 2 MFG. Der Lastwagenführer,
dessen Fahrzeug Nachfolgenden die Sicht nach vorne erheblich erschwert,
ist verpflichtet, nach rückwärts zu beobachten oder rechtzeitig den
Richtungsanzeiger zu stellen, bevor er überholt.

Sachverhalt

    A.- Beer führte am 24. Mai 1957 gegen 15 Uhr einen schweren Lastwagen
mit Einachsanhänger auf der 6,25 m breiten Kantonsstrasse von Nottwil
gegen Neuenkirch. Ausserhalb Nottwil lenkte er auf gerader Strecke sein
Fahrzeug frühzeitig gegen die Strassenmitte, um das Überholen eines vor ihm
fahrenden Pferdefuhrwerks vorzubereiten. Als er sich diesem bis auf ca. 50
m genähert hatte, begann er, ohne vorher in den Rückspiegel zu blicken
oder den Richtungsanzeiger zu stellen, weiter nach links auszubiegen.
Im gleichen Augenblick versuchte Kumschick, der das Fuhrwerk nicht gesehen
haben will, mit seinem Personenwagen, der eine Geschwindigkeit von rund 80
km/Std hatte, dem Lastzug vorzufahren. Sein Wagen wurde vom Lastwagen nach
links gedrängt und erlitt durch den Anprall an einen Randstein Sachschaden.
Beer hatte das Warnsignal, das Kumschick zu Beginn seines Überholens gab,
nicht gehört.

    B.- Das Amtsgericht Sursee verurteilte Beer am 28.  November 1957 in
Anwendung von Art. 26 Abs. 1 MFG zu einer Busse von Fr. 30.-. Es wirft
Beer vor, er hätte nicht nach links ausweichen dürfen, ohne sich vorher
nach rückwärts zu vergewissern, ob die linke Strassenhälfte frei sei.

    C.- Beer beantragt mit der Nichtigkeitsbeschwerde, er sei
freizusprechen. Er bestreitet, dass er verpflichtet gewesen sei, vor dem
Überholen des Fuhrwerks nach hinten zu beobachten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wer überholt, muss besonders vorsichtig fahren und auf die übrigen
Strassenbenützer Rücksicht nehmen (Art. 46 Abs. 3 MFV, Art. 26 Abs. 4 Satz
2 MFG). Diese Vorschrift verpflichtet den Vorfahrenden in erster Linie zur
Rücksichtnahme auf den zu Überholenden und allfällige in entgegengesetzter
Richtung sich bewegende oder von der Seite kommende Strassenbenützer. Er
hat sich vor dem Überholen insbesondere zu vergewissern, ob die dazu
erforderliche Strassenstrecke frei und übersichtlich ist (Art. 46 Abs. 1
Satz 1 MFV), d.h. das Überholen ist nur gestattet, wenn der Überholende
sicher sein darf, dass er den Gegenverkehr nicht behindere und dass der
zu Überholende nicht wegen eines vor ihm befindlichen Hindernisses nach
links ausweichen müsse.

    Im allgemeinen hat sich der Überholende nicht auf die Möglichkeit
einzustellen, dass ihn ein nachfolgendes Fahrzeug unversehens überholen
werde. Er darf vielmehr damit rechnen, dass der Nachfolgende seinerseits
pflichtgemäss nach vorn beobachte und nicht überhole, ohne sich gegen die
Gefahren, die ihm von vorn oder von der Seite drohen könnten, gesichert zu
haben. Wer überholen will und deshalb seine Aufmerksamkeit in vermehrtem
Mass auf die zu befahrende Strecke richten muss, hat nicht die Möglichkeit,
gleichzeitig ständig nach hinten zu schauen, und ausserdem erlaubt der
Rückspiegel vielfach nicht eine lückenlose Beobachtung des hinter dem Wagen
liegenden Raumes. Auch verlangt die Rechtsprechung vom Überholenden nicht,
dass er seine Absicht durch Ausstellen des Richtungsanzeigers ankündige.
Obgleich die Zeichengebung auch beim Überholen zur Übung geworden ist,
schreibt sie das Gesetz (Art. 75 Abs. 1 lit. b MFV) nur beim Abbiegen
vor, d.h. zum Verlassen der Strasse, zum Wenden oder zum Anhalten
auf der linken Seite (BGE 65 I 192, 67 I 64). Der Vordere, der vom
Nachfolgenden nicht gewarnt worden ist und dessen Absicht, zu überholen,
auch sonst nicht erkannt hat, genügt daher in der Regel der ihm durch
Art. 46 Abs. 3 MFV und Art. 26 Abs. 4 Satz 2 MFG auferlegten Pflicht zur
Rücksichtnahme auf den Nachfolgenden, wenn er das Überholen so vorsichtig
einleitet, dass dieser es rechtzeitig erkennen und das beabsichtigte oder
begonnene eigene Überholen ohne Gefahr unterlassen oder abbrechen kann
(nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 11. Oktober 1955
i.S. Birrer).

Erwägung 2

    2.- An dieser Praxis ist grundsätzlich festzuhalten. Eine Ausnahme
ist jedoch für Fälle zu machen, in denen ein Lastwagen durch seine
Bauart, Grösse oder Ladung dem Nachfolgenden die Beobachtung nach vorn
und damit das Überholen erheblich erschwert. Unter solchen Umständen
obliegt es dem Lastwagenführer, die sich aus der besondern Beschaffenheit
seines Fahrzeuges ergebende erhöhte Gefährdung Nachfolgender durch eine
entsprechend gesteigerte Rücksichtnahme auszugleichen. Diese verlangt,
dass er vor ihm befindliche Hindernisse erst zu überholen beginnt, wenn
er sicher sein darf, dass ihm kein schneller fahrendes Fahrzeug folgt,
oder nachdem er dem Nachfolgenden das beabsichtigte Überholen durch
Stellen des linken Richtungsanzeigers frühzeitig angekündigt hat. Der
nachfolgende Fahrzeuglenker soll sich darauf verlassen dürfen, dass
ein vor ihm fahrender Lastwagen, der die Sicht in erheblicher Weise
erschwert, nicht zum Überholen nach links ausweichen werde, ohne vorher
ein entsprechendes Zeichen zu geben.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer hat die ihm nach Art. 46 Abs. 3 MFV und
Art. 26 Abs. 4 Satz 2 MFG obliegende Pflicht, beim Überholen besonderers
vorsichtig zu fahren und auf die übrigen Strassenbenützer Rücksicht zu
nehmen, verletzt. Dass er den Lastwagen vorzeitig gegen die Strassenmitte
gesteuert hat und während einiger Zeit der Leitlinie entlang gefahren
ist, wird ihm mit Recht nicht als Fehler vorgeworfen; abgesehen davon,
dass kein Gegenverkehr herrschte, war nach der verbindlichen Feststellung
der Vorinstanz links neben dem Lastwagen genügend freier Raum vorhanden,
der einem von hinten Kommenden das Überholen gestattet hätte, und eine
Pflicht zum Rechtsausweichen bestand nicht, da sich während dieser Phase
kein schneller fahrendes Fahrzeug angekündigt hat. Beer wusste aber,
dass sein grosser Lastwagen mit Anhänger nachfolgenden Fahrzeugen die
Sicht nach vorne auf eine verhältnismässig weite Strecke behinderte
und infolgedessen das Überholen stark erschwerte. Das hätte ihn
veranlassen sollen, rechtzeitig in den Rückspiegel zu blicken und,
wenn die Beobachtungsmöglichkeiten nicht genügend waren oder wenn er
tatsächlich ein Fahrzeug herannahen sah, den linken Richtungsanzeiger zu
stellen. Der Beschwerdeführer hat sich erst nach rückwärts vergewissert
und darauf den Richtungsanzeiger stellen wollen, nachdem er bereits in
die linke Strassenhälfte auszubiegen begonnen hatte. Das war zu spät und
daher pflichtwidrig, und zwar umsomehr, als er wegen des Motorenlärms
nicht sicher sein konnte, das Warnsignal eines Überholenden zu hören.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.