Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 IV 18



84 IV 18

9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. Februar 1958
i.S. Kübler gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 238 StGB.

    1.  Störung des technischen Bahnbetriebes in seinem planmässigen Ablauf
(Erw. 2 lit. a).

    2.  Gefährdung von Leib und Leben von Menschen; geschützter
Personenkreis (Erw. 2 lit. b).

Sachverhalt

    A.- Der Betriebsbeamte Kübler hatte am 3. Februar 1957 im Bahnhof
Horgen-See den Abfertigungsdienst zu besorgen. Er liess den fahrplanmässig
um 22.55 Uhr aus Zürich eintreffenden Personenzug 3795 auf Geleise 2
einfahren. Gleichzeitig nahte von Au her mit 17 Minuten Verspätung der
Schnellzug 9880 F, der um 22.38 Uhr in Horgen hätte durchfahren sollen.
Kübler, der sich um eine Stunde verrechnete und den Schnellzug 9880 F
für den fahrplanmässig um 23.50 Uhr durchfahrenden Zug 97 hielt, öffnete
jenem die Signale zur Durchfahrt auf Geleise 1, das soeben von ein- und
aussteigenden Reisenden des haltenden Zuges 3795 überschritten wurde. Der
Lokomotivführer des Schnellzuges gab angesichts dieser Gefahrenlage
Pfeifsignale und leitete unverzüglich eine Schnellbremsung ein, indem er
die Geschwindigkeit von 60 km/Std. auf 20 km/Std. drosselte. Die Passagiere
des haltenden Zuges 3795 und die Personen, die diesen Zug zu besteigen
im Begriff waren, konnten sich, durch Zurufe des Begleitpersonals des
haltenden Zuges auf die Gefahr aufmerksam gemacht, knapp vor der Durchfahrt
des Schnellzuges 9880 F in Sicherheit bringen.

    B.- Am 22. November 1957 verurteilte das Obergericht des Kantons
Zürich Kübler wegen fahrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs zu einer
bedingt löschbaren Busse von Fr. 200.--.

    C.- Kübler führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichtes sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er macht geltend, der Tatbestand des
Art. 238 StGB sei objektiv nicht erfüllt.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    .....

Erwägung 2

    2.- a) Im vorliegenden Fall gab der Beschwerdeführer dem Schnellzug
9880 F die Durchfahrt auf Geleise 1 der Station Horgen-See frei, obschon
der Personenzug 3795 auf Geleise 2 anhielt und die ein- und aussteigenden
Reisenden die Fahrbahn des Schnellzuges überschreiten mussten. Darin liegt
objektiv eine Störung des durch Art. 238 StGB in seinem planmässigen Ablauf
geschützten technischen Bahnbetriebes (BGE 54 I 57, 296, 362, 365; 72 IV
69, 78 IV 103/4). Denn nach Ziff. 47 (12) des Reglementes 310.1 über den
Fahrdienst vom 20. Mai 1951 dürfen Züge aus gleicher oder entgegengesetzter
Richtung in der Regel nur dann gleichzeitig in eine Station einfahren,
"wenn die Gleis- und Sicherungsanlage die feindliche Begegnung ausschliesst
und die Reisenden beim Ein- und Aussteigen keine Gleise zu überschreiten
haben". Durch das pflichtwidrige Verhalten Küblers wurde, gleich wie bei
einer unrichtigen Weichenstellung (vgl. BGE 54 I 57), die Zufahrt zu einem
Geleise geöffnet, das zur Sicherung des ordnungsgemässen Verlaufes des
technischen Verkehrsvorganges hätte gesperrt bleiben müssen. Dass eine
Schnellbremsung notwendig wurde, ist übrigens ein untrügliches Zeichen
für die eingetretene Störung.

    b) Diese hatte zur Folge, dass die ein- und aussteigenden Reisenden
des Zuges 3795, die im Begriffe waren Geleise 1 zu überschreiten,
einer dem technischen Eisenbahnbetrieb innewohnenden Gefahr ausgesetzt
wurden. Das stellt auch der Beschwerdeführer nicht in Abrede. Er
bestreitet jedoch, sich gegen Art. 238 StGB vergangen zu haben, weil die
gefährdeten Reisenden nicht zu dem nach dieser Bestimmung geschützten
Personenkreis gehörten. Hiezu zählten ausschliesslich die sich in der
Eisenbahn befindlichen, nicht auch die auf den Geleisen, den Perrons oder
im Bahnhof sich aufhaltenden Reisenden. Der Schutz des Art. 238 StGB höre
mit dem Verlassen des Zuges auf.

    Diese Auffassung findet im Gesetz keine Stütze. Art. 238
StGB spricht allgemein von der durch die Störung des technischen
Bahnbetriebes bewirkten Gefährdung von Leib und Leben von Menschen,
ohne deren Kreis irgendwie zu begrenzen. Tatsächlich ist denn auch
kein innerer Grund ersichtlich, Art. 238 StGB nur anzuwenden, wenn die
Störung des technischen Verkehrsvorganges zu einer Gefährdung der im Zug
befindlichen Passagiere führt, ihn aber auszuschliessen, wenn dieselbe,
dem Eisenbahnverkehr inhärente Gefahr sich infolge der Störung zu einer
Gefährdung von Reisenden auswächst, die nach Verlassen des Zuges oder zum
Einsteigen in einen Zug ein Geleise überschreiten müssen. Ja, Art. 238 StGB
bietet darüber hinaus überhaupt keinen Anhalt für eine unterschiedliche
Behandlung von Reisenden und am Transportvorgang unbeteiligten Personen
(z.B. Personen, die Reisende begleiten oder abholen). Das Gesetz schränkt
den Straftatbestand nur insoweit ein, als es voraussetzt, dass die den
planmässigen Ablauf des technischen Bahnbetriebes beeinträchtigenden
Handlungen oder Unterlassungen über die Störung des technischen
Verkehrsvorganges hinaus eine Gefahr für Leib und Leben von Menschen
oder für fremdes Eigentum hervorrufen. Ob es sich bei den gefährdeten
Menschen um in der Eisenbahn befindliche Passagiere oder um Personen
handelt, die am Transport nicht teilnehmen, ist ohne Belang. Die Störung
des Eisenbahnverkehrs ist nicht dann weniger gefährlich und im Sinne von
Art. 238 StGB minder strrafwürdig, wenn sie zur Gefährdung eines Menschen
führt, der am Verkehrsvorgang unbeteiligt ist. Dieser bedarf des Schutzes
gegen die erhöhten Gefahren des Eisenbahnverkehrs gleicherweise wie der
beförderte Reisende. Eine engere Beziehung der durch die Gefahr bedrohten
Personen zum Transportvorgang ist somit weder nach dem Wortlaut noch nach
dem Sinn des Gesetzes Tatbestandsmerkmal. Sie wäre übrigens bei Reisenden,
die nach dem Verlassen des Zuges bzw. zum Einsteigen in einen Zug ein
Geleise überschreiten müssen, gegeben.

    Demgegenüber beruft sich der Beschwerdeführer vergeblich auf
die gesetzliche Ordnung des früheren Bundesstrafrechtes. Art. 67
des Bundesgesetzes vom 4. Februar 1853 über das Bundesstrafrecht der
schweizerischen Eidgenossenschaft (BStR) schützte ausdrücklich nur Personen
und Waren, "die sich auf einem zur Beförderung der Post dienenden Wagen
oder Schiff oder auf einer Eisenbahn befinden". Diese Regelung wurde
schon in der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom
26. Oktober 1900 betreffend Abänderung des Art. 67 BStR (BBl 1900 IV S. 157
ff.) als unzulänglich bezeichnet und würde den inzwischen noch gestiegenen
Bedürfnissen des Verkehrsschutzes erst recht nicht genügen. Auch lässt
sich dem revidierten Art. 67 BStR nichts zugunsten des Beschwerdeführers
entnehmen. Nach der Fassung vom 5. Juni 1902 fiel jede (erhebliche)
Gefährdung der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs unter Strafe. Die Tötung
oder erhebliche Verletzung von Menschen wurde indessen bloss straferhöhend
berücksichtigt, und dies nur, sofern es sich bei den Betroffenen um
Passagiere oder um Bahnpersonal handelte. Wie schon in BGE 78 IV 104/5
ausgeführt wurde, wollte mit der Revision die Anwendung des Art. 67 BStR
lediglich auf das Bahnpersonal (bzw. das Bahnmaterial), nicht aber auch
auf Personen (und Sachen) ausgedehnt werden, die am Eisenbahnverkehr
nicht teilnehmen. Diese dem Willen des historischen Gesetzgebers von 1902
entsprechende Beschränkung des geschützten Personenkreises kann nicht auch
für Art. 238 StGB massgebend sein. Der Beschwerdeführer verkennt, dass mit
dieser Bestimmung die Gefährdung von Leib und Leben von Menschen (bzw. von
fremdem Eigentum) zum absoluten Tatbestandserfordernis erhoben und insoweit
eine gegenüber dem früheren Rechtszustand neue Ordnung geschaffen wurde.