Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 II 85



84 II 85

12. Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Februar 1958 i.S. Lutz gegen
Höhener. Regeste

    Nachbarrecht. Verbot der Errichtung eines Schlachthauses wegen
übermässiger Einwirkung auf die Nachbarliegenschaft (Art. 684 ZGB).

Sachverhalt

    A.- Die Schwestern Lutz sind Eigentümerinnen des an der
St. Gallerstrasse in Teufen liegenden Grundstücks Parzelle Nr. 208 mit dem
an der Strasse stehenden Hause Nr. 242, wo sie wohnen und einen Stoffladen
betreiben. Höhener ist Eigentümer der von diesem Grundstück durch die
Parzelle Nr. 209 (mit dem Haus zum "Adler") getrennten Parzelle Nr. 214
mit dem Haus zum "Anker", wo er eine Wirtschaft und Metzgerei führt. Auch
die Parzelle Nr. 209 gehört heute unbestrittenermassen ihm. Anstelle
der Remise Nr. 245, die auf dem hintern (von der Strasse abgewendeten)
Teil dieser Liegenschaft steht und von der Hinterfront des Hauses Lutz
ca. 5-8 m entfernt ist, gedenkt er ein Schlachthaus zu bauen, das den
veralteten Schlachtraum im Hause zum "Anker" ersetzen soll.

    B.- Gegen dieses am 18. Oktober 1955 ausgeschriebene Bauvorhaben
erhoben die Schwestern Lutz am 23. Oktober 1953 Einsprache. Am
17. November 1955 leiteten sie gegen Höhener gerichtliche Klage ein
mit dem Hauptbegehren, dem Beklagten sei die Ausführung der geplanten
Baute zu untersagen. Dieses Begehren stützen sie vor allem darauf, dass
vom Schlachthausbetrieb übermässige Einwirkungen auf ihr Grundstück zu
erwarten seien.

    Das Bezirksgericht Mittelland nahm einen Augenschein vor, holte bei Dr.
med. vet. R. Sturzenegger, Tierarzt und Fleischschauer der Gemeinden
Trogen und Speicher, ein Gutachten ein und wies die Klage am 5. Juli
1956 ab. Das Obergericht von Appenzell A.-Rh., an das die Klägerinnen
appellierten, besichtigte die Örtlichkeiten ebenfalls und befragte den
Sachverständigen. Am 7. Januar 1957 hat es das erstinstanzliche Urteil
bestätigt.

    C.- Mit ihrer Berufung an das Bundesgericht erneuern die Klägerinnen
das Begehren, der geplante Bau sei zu verbieten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Streitwert).

Erwägung 2

    2.- Wie die Vorinstanz zutreffend angenommen hat, kann die Errichtung
einer Baute auf Grund von Art. 684 und 679 ZGB verboten werden, wenn ihr
bestimmungsgemässer Gebrauch nach der Lebenserfahrung mit Sicherheit oder
(was dem gleichzuachten ist) mit höchster Wahrscheinlichkeit übermässige,
nach den örtlichen Verhältnissen nicht zumutbare Einwirkungen auf das
Eigentum des Nachbarn erwarten lässt (vgl. BGE 58 II 117 und 336 und dort
angeführte Entscheidungen).

    Dass diese Voraussetzung im vorliegenden Falle verwirklicht sei,
verneint die Vorinstanz mit der Begründung, nach dem Gutachten und den
verbindlichen Bauplänen sei mit Rauch- und Russeinwirkungen nicht zu
rechnen. Die aller Wahrscheinlichkeit nach zu erwartenden Immissionen durch
lästige Gerüche, die nur bei der zweimal im Jahr erfolgenden Entleerung
der Abwasserfaulgrube zu erwarten seien, seien zeitlich und hinsichtlich
ihrer Intensität geringfügig. Lärm werde vom Betrieb im Schlachthaus
nicht nach aussen dringen, und das Geräusch beim Zuschlagen von Türen
und Fenstern falle dank geeigneten Vorkehren weg. Hingegen werde der
Antransport der Schlachttiere einen gewissen Lärm mit sich bringen. Das
Quietschen widersetzlicher Schweine und das Rufen des Metzgereipersonals
beim Zutreiben widersetzlicher Tiere werde von der Liegenschaft der
Klägerinnen aus zeitweise hörbar sein. Etwas Lärm werde voraussichtlich
auch durch das Zu- und Wegfahren von Motorfahrzeugen verursacht werden. Es
sei auch begreiflich, dass allein schon die Existenz eines Schlachthauses,
besonders aber der mit seinem Betrieb verbundene Antransport der zu
schlachtenden Tiere und der Abtransport von Fleisch wie überhaupt
"die ganze Schlachthausatmosphäre" auf die Klägerinnen als Nachbarn
abstossend wirke. Ob diese mit höchster Wahrscheinlichkeit zu erwartenden
Einwirkungen materieller und ideeller Art übermässig seien, entscheide
sich nach objektiven Kriterien. Der Entscheid verlange eine Abwägung
der Interessen, die Berücksichtigung der nach Ort und Zeit verschiedenen
Bedürfnisse. Art. 684 ZGB verbiete Einwirkungen, welche die Grenzen der
unter Nachbarn geschuldeten und durch die Lage und Beschaffenheit der
Grundstücke sowie durch den Ortsgebrauch gerechtfertigten Rücksichtnahme
überschreiten (BGE 79 I 205/6). Die hier sicher zu erwartenden Einwirkungen
seien nicht so intensiv, dass die Klägerinnen sie ohne Rücksicht auf
Lage und Beschaffenheit der Grundstücke unter keinen Umständen dulden
müssten. Entscheidend sei daher, ob Schlachtlokale vom geplanten Ausmass
mit den damit verbundenen Einwirkungen auf die Nachbargrundstücke in
einem Dorfteil wie dem in Frage stehenden ortsüblich seien oder nicht. Die
beteiligten Liegenschaften befänden sich sozusagen im Dorfkern, soweit von
einem solchen die Rede sein könne. Im Dorfinnern von Teufen herrsche ein
ziemlich regelloses Nebeneinander von öffentlichen Gebäuden, Wohnhäusern,
Verkaufsgeschäften, Kleingewerbebetrieben und Wirtschaften. In der Umgebung
der Liegenschaften der Parteien wögen zwar die Ladengeschäfte vor, doch
fänden sich daneben auch einige - wenn auch ruhige - Kleingewerbebetriebe
sowie eine Garage für Lastwagen. Im Hause zum "Anker", rund 20 m vom
Hause der Klägerinnen und vom geplanten Schlachthaus entfernt, habe
sich von jeher ein Schlachtlokal befunden, das nicht mit den für den
Neubau vorgesehenen Einrichtungen zur Verhinderung übermässigen Lärms und
Geruchs ausgestattet sei. Nach Ansicht des Experten werde im neuen Lokal
kaum viel mehr geschlachtet werden können als im alten. Im übrigen sei
ortsüblich, dass sich die Schlachtlokale in nächster Nähe der Metzgereien
befinden (so bei den Metzgereien zur "Ilge", zum "Schützengarten" und zum
"Ochsen"). Im Vergleich zu diesen Lokalen liege der geplante Neubau nur
deshalb etwas ungünstiger, weil sich der Eingang dazu in einem ziemlich
engen Hinterhof direkt gegenüber dem nördlichen Hauseingang der Klägerinnen
und gegenüber ihrer Wohnküche befinde. Die von den Klägerinnen am meisten
benützten Räume (Laden, Wohn- und Schlafräume) befänden sich jedoch auf der
Südseite ihres Hauses. Ihr angeblicher Sitzplatz sei schon jetzt räumlich
sehr beschränkt und in dem engen Hinterhof auf der Nordseite des Hauses
ohnehin ungeeignet. Unter diesen Umständen seien die zu erwartenden
materiellen Immissionen zumutbar, zumal da sie geringfügig und in der
Regel auf je einen Wochentag (soweit von der Grubenentleerung ausgehend
sogar auf kurze Zeit an zwei Tagen im Jahr) beschränkt seien. Aber auch
die ideellen Einwirkungen seien nicht übermässig. Der zeitweise Anblick
des Antransports von Schlachttieren und des Abtransports von Fleisch
bedeute für einen normalen Durchschnittsmenschen keine übermässige
seelische Belastung. Ob schon der blosse Gedanke, in nächster Nähe eines
Schlachthauses zu wohnen, geeignet sei, das seelische Wohlbefinden der
Klägerinnen erheblich zu beeinträchtigen, brauche nicht untersucht zu
werden. Wenn auch der Schlachthausbetrieb von diesem Gesichtspunkt aus
auf die Bewohner des Hauses der Klägerinnen unangenehm, lästig oder sogar
nachteilig wirken könne, so handle es sich doch nicht um übermässige
Einwirkungen. Es könne nicht angenommen werden, dass die blosse Nähe
der Anlage in der Vorstellung der Nachbarn aus objektiven Gründen ein
derartiges Unbehagen hervorrufen werde, dass deshalb die Untersagung der
Neubaute gemäss Art. 684 ZGB gerechtfertigt wäre (BGE 42 II 453/4).

    Der Vorinstanz ist zuzugeben, dass sie die Umstände des vorliegenden
Falles sorgfältig geprüft und bei Beurteilung der Frage, ob man es mit
einer übermässigen Einwirkung im Sinne von Art. 684 ZGB zu tun habe,
von einer im ganzen richtigen Auslegung des Gesetzes ausgegangen
ist. Bei ihrer Schlussfolgerung, dass die Einwirkungen durch vom
Schlachthausbetrieb ausgehenden Geruch und Lärm unbedeutend sein würden,
hat sie sich jedoch allzusehr von der Vorstellung eines Idealbetriebes
beeinflussen lassen. Schon geringe Abweichungen von den nach dem Gutachten
zur Vermeidung von Geruchs- und Lärmbelästigungen bei der Einrichtung und
beim Betrieb des Schlachthauses zu beobachtenden Regeln, wie sie nach
der Lebenserfahrung in Rechnung gestellt werden müssen, sind geeignet,
in Verbindung mit den von der Vorinstanz selber als unvermeidlich
betrachteten Nachteilen eine empfindliche, der Nachbarschaft nicht
mehr zuzumutende Belästigung herbeizuführen. Hievon abgesehen hat die
Vorinstanz die immateriellen, in der Erweckung unangenehmer psychischer
Eindrücke bestehenden Einwirkungen des geplanten Betriebs, die nach ihrer
zutreffenden Rechtsauffassung so gut wie die materiellen Einwirkungen
zu berücksichtigen sind (vgl. BGE 61 II 329), zu milde beurteilt. Die
unmittelbare Nachbarschaft eines Schlachthauses mit dem zugehörigen Betrieb
ist geeignet, nicht nur bei überempfindlichen Leuten, sondern auch bei
Personen mit einer normalen, durchschnittlichen Empfindlichkeit (BGE 79
II 54) ein erhebliches, ständig (also nicht nur während der Betriebszeit)
fühlbares Unbehagen zu wecken, was die Vorinstanz denn auch nicht im
Ernste zu bestreiten wagt. Den Klägerinnen lässt sich nicht entgegenhalten,
dass der geplante Neubau ihnen keine grössere Belästigung bringe als das
bereits bestehende Schlachthaus des Beklagten, mit dem sie sich bisher
abgefunden haben. Das Haus zum "Adler" trennt sie von diesem Lokal,
wogegen das neue Schlachthaus wenige Meter hinter ihrem Haus unmittelbar
vor dem Fenster ihrer Wohnküche läge. Der Hinweis auf das bisherige Lokal
des Beklagten und einige weitere Schlachtlokale bei Metzgereien in Teufen
genügt auch nicht, um das Bestehen eines den Betrieb von Schlachthäusern
im Dorfinnern erlaubenden Ortsgebrauchs im Sinne von Art. 684 Abs. 2
ZGB darzutun, ganz abgesehen davon, dass die Verhältnisse beim geplanten
Neubau nach den eigenen Feststellungen der Vorinstanz wegen der räumlichen
Enge ungünstiger wären als bei den im angefochtenen Urteil angeführten
andern Betrieben. Schlachtlokale stellen nach heutiger Auffassung im
Innern von Ortschaften ohne Zweifel Fremdkörper dar. Kann deswegen auch
nicht ohne weiteres die Verlegung der bestehenden Lokale verlangt werden,
so muss dieser Gesichtspunkt doch bei der Beurteilung neuer Bauvorhaben
eine wesentliche Rolle spielen. Neue Bauten dieser Art nicht mehr im
Innern, sondern an der Peripherie der Ortschaften zu errichten, kann den
Betriebsinhabern um so eher zugemutet werden, als die Nachteile, die sich
daraus für den Betrieb ergeben, im Zeitalter der Motorisierung nicht
erheblich ins Gewicht fallen. Zum vorliegenden Projekt ist im übrigen
zu sagen, dass es nicht notwendig ist, Schlachthaus und Kühlanlage wie
hier vorgesehen zusammenzulegen. Eine Trennung der Anlagen, welche die
Aufbewahrung des Fleisches in der Metzgerei erlaubt, wäre, vom praktischen
und hygienischen Standpunkt aus betrachtet, gewiss ebenso zweckmässig. Bei
dieser Sachlage ist den Klägerinnen vernünftigerweise nicht zuzumuten,
die mit dem geplanten Neubau verbundenen Einwirkungen zu dulden. Vielmehr
ist dieser gemäss Art. 684 ZGB zu verbieten, weil die unvermeidlichen
Einwirkungen als übermässig erscheinen.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und
dem Beklagten in Gutheissung der Klage untersagt, auf seiner Liegenschaft
Parzelle Nr. 209 das geplante Schlachthaus zu bauen.