Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 II 677



84 II 677

89. Urteil der II. Zivilabteilung vom 13. November 1958 i.S. X. gegen
Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt. Regeste

    Ende der Bevormmundung (Art. 431 ff. ZGB).

    Die Vormundschaft über eine zu Freiheitsstrafe verurteilte Person
(Art. 371 ZGB) bleibt bei bedingter Entlassung bis auf weiteres
bestehen (Art. 432 Abs. 2 ZGB). Sie kann jedoch, wenn der Entlassene
der vormundschaftlichen Fürsorge nicht mehr bedarf, von der zuständigen
Behörde noch während des Laufes der Probezeit, jedenfalls nach dem normalen
Endtermin der Strafe, aufgehoben werden (in sinngemässer Anwendung von
Art. 433 Abs. 2 ZGB).

    Gerichts- und Parteikosten (Art. 156 und 159 OG).

Sachverhalt

    A.- Das Appellationsgericht von Basel-Stadt verurteilte den
Architekten X. wegen betrügerischen Konkurses, Pfändungsbetruges und
anderer Vergehen zu einer Gefängnisstrafe von anderthalb Jahren. Da
am 27. Dezember 1956 zwei Drittel der Strafe erstanden waren, beschloss
die Strafvollzugskommission am 18. gl. M. gestützt auf den günstigen
Führungsbericht, ihn auf jenen Tag bedingt aus der Strafanstalt zu
entlassen. Dabei setzte sie eine Probezeit von drei Jahren, laufend bis
zum 27. Dezember 1959, fest und nahm von der Anordnung einer Schutzaufsicht
Umgang, "da der Petent nach wie vor bevormundet bleibt".

    B.- X. war beim Strafantritt gemäss Art. 371 Abs. 1 ZGB unter
Vormundschaft gestellt worden. Der Vormund leitete am 11. Februar 1958 ein
von X. gestelltes Gesuch um Aufhebung der Vormundschaft, es unterstützend,
an die Vormundschaftsbehörde von Basel-Stadt weiter. Darin wurde auf
die Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit des Gesuchtstellers als
eines selbständigen Architekten durch die Vormundschaft hingewiesen. Der
Vormund führte aus, dessen Vertrauenswürdigkeit ergebe sich aus dem von
ihm bezeugten guten Willen, in seinen finanziellen Angelegenheiten Ordnung
zu halten: Er hatte seine Gläubiger befriedigt und dadurch den Widerruf
des über ihn eröffneten Konkurses erlangt. Ferner hatte er auch während
der Haft die Unterhaltspflicht gegenüber seiner ersten (geschiedenen)
Ehefrau erfüllt.

    Die Vormundschaftsbehörde lehnte es jedoch ab, die Vormundschaft
aufzuheben; diese müsse nach Art. 432 Abs. 2 ZGB bis zum Ablauf der
Probezeit bestehen bleiben. Die Rekurse des Gesuchstellers an die
Oberbehörden hatten keinen Erfolg; sie wurden vom Justizdepartement am
23. Juli 1958 und vom Regierungsrat am 22. September 1958 abgewiesen.

    C.- Gegen den regierungsrätlichen Entscheid legte der Gesuchsteller
binnen gesetzlicher Frist die vorliegende Berufung an das Bundesgericht
ein. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die
Vormundschaftsbehörde anzuweisen, mit sofortiger Wirkung die Vormundschaft
über ihn aufzuheben.

    Die Vormundschaftsbehörde hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 371 ZGB gehört unter Vormundschaft, wer
zu Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber verurteilt worden
ist. Wie sich aus Abs. 2 daselbst ergibt, zieht aber nicht schon die
Verurteilung die Bevormundung nach sich. Diese ist vielmehr nur und erst
beim Antritt der Strafe anzuordnen, also vorerst überhaupt nicht bei
bedingtem Strafaufschub, und auch nicht während der Untersuchungshaft,
mag diese auch die Ausfällung des rechtskräftigen Strafurteils überdauern
(vgl. BGE 62 II 68, 75 II 27). Massgebend ist die Dauer der eigentlichen
Strafe. Nur wenn sie, nach allfälliger Anrechnung der Untersuchungshaft,
noch mindestens ein Jahr beträgt, soll die Vormundschaft nach Art. 371
ZGB Platz greifen, dies dann aber ohne Rücksicht darauf, ob im Zeitpunkt
ihrer Anordnung die noch bevorstehende Strafdauer allenfalls nicht mehr
ein volles Jahr beträgt (BGE 78 II 407). Die Vormundschaft soll eben für
die ganze wirkliche Strafdauer von mindestens einem Jahr Schutz bieten,
wie denn auch dem Vormunde bei verzögerter Anordnung dieser Massnahme
oftmals verschiedene Angelegenheiten zu besorgen bleiben, die seit dem
Strafantritt versäumt worden sind.

    Dass die Bevormundung nach Art. 371 ZGB Schutz und Fürsorge während
der Strafhaft (nicht vor- und nachher) bieten soll, äussert sich auch in
den Vorschriften über ihre Beendigung. Art. 432 ZGB bestimmt:

    Die Vormundschaft über eine zu Freiheitsstrafe verurteilte Person
hört auf mit der Beendigung der Haft.

    Die zeitweilige oder bedingte Entlassung hebt die Vormundschaft
nicht auf.

    Nach Abs. 1 endigt die Vormundschaft ohne weiteres, von Gesetzes wegen,
mit einer endgültigen Haftentlassung, also namentlich nach vollendeter
Straferstehung, ebenso aber auch bei endgültigem Erlass des Restes
der Strafe. Bei bedingter Entlassung mit einer Probezeit fällt nach
Abs. 2 die Vormundschaft nicht dahin, sondern bleibt bestehen (vgl. den
französischen Text: "Le détenu libéré temporairement ou conditionnellement
reste sous tutelle"). Fraglich ist aber, ob dies notwendig bis zum Ablauf
der Probezeit so bleiben müsse, oder ob eine Aufhebung der Vormundschaft
durch die zuständige Behörde schon während der Probezeit zulässig sei,
und allenfalls aus welchen Gründen. Das ist in der Lehre wie auch in der
kantonalen Rechtsprechung umstritten. Nach der einen Ansicht verträgt
sich mit Art. 432 Abs. 2 ZGB eine Aufhebung der Vormundschaft während der
Probezeit nicht (so KAUFMANN, 2. Auflage, N. 5 zu Art. 432 ZGB; Entscheid
des Regierungsrates des Kantons Luzern: Zeitschrift für Vormundschaftswesen
Bd. 1 S. 69; ebenso die in Basel-Stadt befolgte Übung, ausgenommen Fälle,
in denen dem bedingt Entlassenen die Ausübung seines Berufes bei Fortdauer
der Vormundschaft geradezu verwehrt wäre, wie bei Rechtsanwälten). Davon
abweichend findet sich die Ansicht vertreten, Art. 432 Abs. 2 ZGB lasse
die Frage offen, wie lange die Vormundschaft bei bedingter Entlassung noch
fortdauern solle. Gelegentlich wird das normale Ende der Strafzeit als
Endtermin der Vormundschaft bei bedingter Entlassung betrachtet, aus der
Erwägung, der bedingt Entlassene solle nicht länger unter Vormundschaft
stehen, als wenn er die ganze Strafe erstanden hätte (vgl. die von EGGER,
2. Auflage, in N. 2 zu Art. 432 ZGB erwähnte ältere kantonale Praxis;
unter diesem Gesichtspunkt stellte sich die Frage auch in einem dem
Bundesgericht unterbreiteten Fall, der jedoch noch nicht in das zur
Entscheidung geeignete Stadium getreten war: BGE 71 II 68). Im übrigen
wird eine Aufhebung der Vormundschaft nach bedingter Entlassung aus
dem allgemeinen Grund als zulässig erachtet, dass der bedingt Entlassene
unter Umständen eines solchen Schutzes nicht mehr bedarf (vgl. EGGER, N. 3
zu Art. 432 ZGB; Kreisschreiben der Justizdirektion des Kantons Zürich
vom 21. August 1950: Zeitschrift für Vormundschaftswesen Bd. 5 S. 145 ff.;
Entscheid des Regierungsrates des Kantons Aargau: dieselbe Zeitschrift
Bd. 1 S. 153 ff. = SJZ 41 S. 292 N. 133; Entscheid des Appellationshofes
des Kantons Bern: dieselbe Zeitschrift Bd. 4 S. 30 = ZbJV 84 S. 406).

Erwägung 2

    2.- Der letztern Auslegung des Art. 432 Abs. 2 ist beizutreten mit
Rücksicht auf den zur Ergänzung beizuziehenden Art. 433. Jene Vorschrift
will nur die im ersten Absatz ausgesprochene Regel einschränken, wonach die
gemäss Art. 371 angeordnete Vormundschaft mit der Beendigung der Haft ohne
weiteres aufhört. Er legt fest, dass diese Regel bei bloss zeitweiliger
oder bedingter Entlassung nicht Platz greift, so dass die Vormundschaft
wenigstens bis auf weiteres bestehen bleibt. Dass dies in allen Fällen
bis zum Ende der Probezeit gelten müsse, ist damit nicht gesagt. Freilich
liegt eine dahingehende Schlussfolgerung nahe, wenn man den Art. 432 allein
in Betracht zieht, also davon ausgeht, die Beendigung einer nach Art. 371
angeordneten Vormundschaft werde darin abschliessend geordnet, somit müsse
die von der bedingten Entlassung nicht berührte Vormundschaft eben solange
fortbestehen, bis die Entlassung endgültig ist. Einer solchen Auslegung
stehen jedoch sachliche Gründe entgegen, und wenn ihnen Art. 432 Abs. 2
ZGB auch nicht durch einen ausdrücklichen Vorbehalt Rechnung trägt, so ist
doch nicht anzunehmen, das Gesetz wolle sie nicht berücksichtigen. Vielmehr
ergibt sich im Zusammenhang mit Art. 433 ZGB eine in sinngemässer Anwendung
dieser Bestimmung auszufüllende Gesetzeslücke. Dass Art. 432 Abs. 2
ZGB die Frage, wie lange eine nach Art. 371 angeordnete Vormundschaft
bei bedingter Entlassung noch weiterbestehen solle, nicht näher ins
Auge fasst, erklärt sich einigermassen aus dem Stand des Strafrechts
zur Zeit des Erlasses des ZGB. Manche Kantone bemassen die Probezeit
einfach auf die Dauer der restlichen Strafe (so war es in Zürich,
Luzern, Schwyz, Zug, Freiburg, Tessin, Neuenburg, Genf; vgl. STOOSS,
Die Schweizerischen Strafgesetzbücher, S. 133 ff.; MOUSSON, Die bedingte
Entlassung im schweizerischen Recht, S. 52). Auch nach Art. 38 Ziff.
2 des schweizerischen StGB kommt die Probezeit "in der Regel" dem Reste
der Strafzeit gleich. Hat es dabei sein Bewenden, so mag eine Fortdauer
der Vormundschaft bis zum Ablauf der Probezeit in der Tat im allgemeinen
keine Bedenken erwecken. Jene Regel gilt jedoch nach Art. 38 Ziff. 2 StGB
nur im Rahmen von mindestens einem bis zu höchstens fünf Jahren. Sehr
oft wird die Probezeit auf ein Vielfaches der restlichen Strafzeit
bemessen, wie gerade auch im vorliegenden Fall. Nun muss jedenfalls
nach dem Endtermin der Haft, wie er bei vollendeter Strafverbüssung
eingetreten wäre (das war hier der 27. Juni 1957), eine Aufhebung
der Vormundschaft vernünftigerweise zulässig sein, wo dies nach den
Umständen als gerechtfertigt erscheint. Es steht nichts entgegen, in
diesem Sinne den Art. 433 Abs. 2 ZGB analog anzuwenden. Allerdings gilt
Art. 433 ZGB eigentlich nur für die andern als die von den vorausgehenden
Artikeln speziell berücksichtigten Bevormundungsfälle der "Unmündigen"
(Art. 431) und der "Verurteilten" (Art. 432). Diesen Sondervorschriften
tritt aber Art. 433 in erster Linie durch die im Abs. 1 aufgestellte
Norm gegenüber, wonach die Vormundschaft in allen andern Fällen nicht von
selbst, als Folge eines bestimmten Ereignisses (Eintritt der Mündigkeit;
endgültige Beendigung der Haft) aufhört, sondern nur mit der Aufhebung
durch die zuständige Behörde endigt. Was Art. 433 Abs. 2 betrifft,
so verdient der darin ausgesprochene Grundsatz als subsidiäre Regel
auch beim Bevormundungsgrund des Art. 371 ZGB angewendet zu werden,
wenn sich nach bedingter Entlassung des Bevormundeten erweist, dass
"der Grund zur Bevormundung nicht mehr besteht". Dies trifft nach dem
oben Ausgeführten jedenfalls nach Ablauf der normalen Strafdauer zu,
wie sie ohne die bedingte Entlassung gegolten hätte.

Erwägung 3

    3.- In sachlicher Beziehung ist angesichts des Art. 432 Abs. 2
ZGB davon auszugehen, dass der an sich, wie oben dargetan, nur in der
tatsächlich zu erstehenden Strafhaft liegende Grund der Bevormundung bei
bedingter Entlassung zunächst als weiterhin gegeben gelten muss. Die
Aufhebung einer solchen Vormundschaft ist also nur zulässig, wenn sie
sich bei Prüfung der Verhältnisse unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der
Fürsorgebedürftigkeit des Gesuchstellers als zwecklos erweist. Wer aus
einer auf mindestens ein Jahr bemessenen Strafhaft bedingt entlassen wird,
ist denn auch in manchen Fällen - über die allfällige Schutzaufsicht hinaus
- einer vormundschaftlichen Fürsorge und Führung bedürftig. Ja, es kann
sich abgesehen von Art. 371 eine dauernde Entmündigung, insbesondere nach
Art. 370 ZGB, als notwendig erweisen. Im vorliegenden Fall ist indessen
nicht nur kein anderer Entmündigungsgrund ersichtlich, sondern besteht auch
kein ernstlicher Grund, die nach Art. 371 angeordnete Vormundschaft noch
länger beizubehalten. Der Vormund hat das Gesuch um Entlassung aus dieser
Vormundschaft unterstützt. Es darf angenommen werden, der Gesuchsteller,
der seine finanziellen Angelegenheiten in Ordnung brachte und auch
während der Haft darauf bedacht war, seine Unterhaltspflicht gegenüber
der geschiedenen ersten Ehefrau zu erfüllen, werde seine neu gewonnene
Stellung im Leben nicht durch Handlungen gefährden, die zum Widerruf der
bedingten Entlassung führen würden. Sodann ist zu berücksichtigen, dass
sich bei selbständigen Geschäftsleuten das Bestehen einer Vormundschaft
äusserst hinderlich auszuwirken pflegt und ihr Fortkommen erschwert. Das
gilt nicht nur für Rechtsanwälte, die, solange sie bevormundet sind, keine
Aufträge übernehmen könnten (worauf die Behörden von Basel-Stadt denn auch
Rücksicht nehmen). Auch der Gesuchsteller, als selbständiger Architekt,
wird, wie er einleuchtend darlegt, durch die Vormundschaft in seiner
beruflichen Tätigkeit beeinträchtigt. Sein Ausruf: "Wer will schon einem
Architekten einen Bauauftrag erteilen, von dem er weiss, dass er unter
Vormundschaft gemäss ZGB 371 steht?" ist nach der Lebenserfahrung vollauf
gerechtfertigt. Auch als Verwaltungsrat zweier Immobiliengesellschaften
(deren Aktienkapital seiner Ehefrau gehört) stösst er als Bevormundeter auf
Schwierigkeiten, obwohl er in dieser Eigenschaft frei handeln kann. Unter
diesen Umständen erscheint die Vormundschaft für die noch ausstehende
Dauer der Probezeit geradezu als zweckwidrig und ist daher aufzuheben.

    Ob Grund bestehe, eine Schutzaufsicht anzuordnen, wovon im Hinblick auf
die Vormundschaft abgesehen wurde, hat das Bundesgericht nicht zu prüfen.

Erwägung 4

    4.- Da die Basler Behörden in ihrem amtlichen Wirkungskreis gehandelt
haben und es weder um ein Vermögensinteresse dieser Behörden selbst
noch des von diesen vertretenen Gemeinwesens geht, können sie nicht,
wie es der Berufungskläger beantragt, mit den bundesgerichtlichen
Kosten belastet werden, noch. kann ihnen für das Berufungsverfahren eine
Parteientschädigung auferlegt werden (Art. 156 Abs. 2 und Art. 159 Abs. 5
OG). Für die amtlichen und Partei-Kosten der kantonalen Instanzen gilt das
kantonale Recht (vgl. BGE 82 II 283 E. 5). Die Sache ist zur Neuregelung
dieser Kosten an den Regierungsrat zurückzuweisen.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen und der Beschluss des Regierungsrats
des Kantons Basel-Stadt vom 22. September 1958 samt den vorinstanzlichen
Entscheidungen aufgehoben, ebenso die über den Berufungskläger bestehende
Vormundschaft.