Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 II 614



84 II 614

82. Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. Oktober 1958
i.S. Erbengemeinschaft Inderbitzin gegen M. und P. Inderbitzin. Regeste

    Notweg, Art. 694 ZGB. Ein Grundeigentümer, der genügende Zufahrt zu
den Hauseingängen hat, kann das Notwegrecht nicht verlangen, um in einer
Remise im Hinterhaus ein Auto einstellen zu können, das für die Nutzung
der Liegenschaft nicht notwendig ist.

Sachverhalt

    A.- An der untern Rickenbachstrasse in Schwyz liegen nebeneinander
die durch frühere Teilung entstandenen Grundstücke Nr. 792 der Schwestern
Inderbitzin und Nr. 791 der Erbengemeinschaft des Robert Inderbitzin
(die Grundbuchnummern sind im bisherigen Verfahren und in den Entscheiden
der Vorinstanzen vertauscht). Zwischen dem von einem Mehrfamilienhaus mit
Konsumladenlokal eingenommenen Grundstück Nr. 792 der Schwestern und dem
Maschinenhaus des Gerbereigewerbes der Erbengemeinschaft liegt ein 14 m
langer, ca. 5 m breiter, beiden Nachbarn gemeinsam gehörender Vorplatz,
welcher der Gerberei als Zufahrt zu ihrem Hofe dient. Im hintern Teil des
Hauses der Schwestern befindet sich eine Remise, in welche sie mit ihrem
vor einiger Zeit angeschafften Volkswagen vom gemeinsamen Vorplatz aus
nur unter Inanspruchnahme einer - teilweise bereits mit einem Bauverbot
belegten - Ecke des Gerbereihofs der Nachbarn einbiegen können. Diese
hatten bisher die Befahrung dieser Ecke geduldet, da sie ihrerseits auf
die Erlaubnis der Schwestern angewiesen waren, für das Einbiegen mit
Lastwagen von der Strasse in die nur drei Meter breite Vorplatzeinfahrt
die beidseitigen Ecken der Parzellen der Schwestern zu berühren. Nachdem
nun eine Strassenkorrektion durch Verkürzung des engen Vorplatzhalses
eine Verbesserung der Einfahrt für die Gerberei brachte, befürchteten die
Schwestern, die Nachbarn wollten ihnen künftig die Durchfahrt über die
Hofecke zu ihrer als Garage benützten Remise verbieten, und verlangten
daher die Einräumung eines Notwegrechts gemäss Art. 694 ZGB.

    Die beklagte Erbengemeinschaft erklärte sich bereit, die Zufahrt im
bisherigen Rahmen weiterhin freiwillig zu gestatten, widersetzte sich
jedoch der Errichtung einer dauernden Grunddienstbarkeit.

    B.- Der Gemeinderat von Schwyz hat dem Gesuch der Schwestern
entsprochen, und der Regierungsrat des Kantons Schwyz hat in Abweisung
der Beschwerde der Erbengemeinschaft diesen Entscheid bestätigt. Er
führt aus, Gegenstand des begehrten Notfahrwegrechts sei, die Ein- und
Ausfahrt nach bisheriger Übung unter Benutzung weniger Quadratmeter
des Nachbargrundstückes rechtlich zu sichern. Vorerst sei zu prüfen,
ob das verlangte Recht den Bedürfnissen des klägerischen Grundstücks
entspreche. Dies treffe zu; unter den heutigen Verhältnissen sei für ein
Geschäftshaus mit Ladenlokal und zugleich Mehrfamilienhaus eine Garage
durchaus notwendig. Der Augenschein habe ergeben, dass den Klägerinnen die
Erstellung einer andern Garage, wenn überhaupt, nur mit aussergewöhnlichen
und unverhältnismässig kostspieligen Bauten, unter Preisgabe entweder des
Ladenlokals an der Strassenfront oder des Treppenhauses am gemeinsamen
Vorplatz, möglich wäre, was ihnen nicht zuzumuten sei. Anderseits sei die
Einräumung des Fahrwegrechts der Gerbereiliegenschaft zumutbar, da der
Notweg den Belasteten nicht schade, sie für sich selbst auf die gleiche
Zufahrt angewiesen seien und auf einem Teil des beanspruchten Bodens
bereits ein Bauverbot bestehe. Seien die Beklagten für ihre Zufahrt dank
der Strassenkorrektion nicht mehr auf das Entgegenkommen der Klägerinnen
angewiesen, so sei es verständlich und begründet, dass diese sich die
bisherige Zufahrt rechtlich sichern liessen; mit der blossen Duldung
wären sie immer vom Wohl- oder Übelwollen der Beklagten abhängig.

    C.- Mit der vorliegenden Berufung halten die Beklagten am Antrag
auf Abweisung des Notwegrechtsbegehrens fest. Eventuell beantragen sie
Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Abklärung des Streitwertes;
für den Fall, dass dieser für die Berufung nicht genügte, ist gleichzeitig
eine staatsrechtliche Beschwerde eingereicht worden.

    Materiell machen die Beklagten, wie schon im kantonalen
Verfahren, geltend, es bestehe für die Klägerinnen keine ihren Anspruch
rechtfertigende Notlage. Ihr Haus liege unmittelbar an der öffentlichen
Strasse, es fehle ihm also der Zugang zu dieser nicht. Das von ihnen
benützte Personenauto und die Garage, die übrigens nur ein Schopf sei,
hätten für die Bewirtschaftung der Liegenschaft keine Bedeutung. Jeder
Wagen könne bis dicht vor die Haus- und die Ladentüre fahren. Ihr Kleinauto
hätten die - privatisierenden - Klägerinnen nur zum Vergnügen und bisher
sehr wenig, meist nur an Sonntagen, benützt, und in diesem Rahmen hätten
die Beklagten ihnen die Zufahrt zur Garage auch weiterhin gestattet,
ohne allerdings aus der Duldung ein Recht erwachsen zu lassen.

    D.- Die Klägerinnen beantragen Nichteintreten auf die Berufung mangels
des nötigen Streitwertes, eventuell Abweisung derselben. Sie halten daran
fest, Auto und Garage seien für die Bewirtschaftung ihrer Grundstücke
notwendig, eine Verlegung der Garage sei unzumutbar und anderseits die
verlangte Belastung für das Nachbargrundstück unschädlich. Die Verweigerung
des Fahrwegrechts stelle daher eine gegen Treu und Glauben verstossende
Schikane dar.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Für die Bezifferung des Streitwertes ist auf das Interesse der
Klägerinnen an der Einräumung des Wegrechts abzustellen (BGE 80 II 314 f.).
Nach ihrer Aussage besteht dieses Interesse darin, dass ihnen das Wegrecht
eine Garagemiete von monatlich Fr. 25.- bis 30.- erspart. Nach Art. 36
Abs. 5 OG ist als Streitwert der zwanzigfache Jahresbetrag dieser Auslage
einzusetzen, also Fr. 6000.-- bis 7200.--. Die Berufung ist mithin
zulässig; es hat das schriftliche Verfahren stattzufinden (Art. 46,
Abs. 1 OG).

Erwägung 3

    3.- In faktisch-technischer Hinsicht entbehren die Klägerinnen zur Zeit
einer genügenden Zufahrt zu ihrem als Garage benutzten Hausteil nicht, und
auch künftig soll sie ihnen, falls nur im bisherigen Rahmen beansprucht,
nach den Erklärungen der Beklagten offen stehen. Dagegen lehnen diese
die Begründung sowohl eines dinglichen als auch eines nur persönlichen
und zeitlich beschränkten Rechts zum Befahren ihrer Hofecke ab. Insofern
ist der Weg der Klägerinnen zu ihrer Garage, als lediglich prekaristisch,
rechtlich ungenügend. Dass die Klägerinnen mit Leichtigkeit eine andere
Garage mit Zufahrt auf eigenem Boden oder direkt von der öffentlichen
Strasse her erstellen könnten, ist nicht erwiesen. Die Vorinstanz stellt,
entgegen der Behauptung der Beklagten, fest, dass ein solcher Bau, falls
überhaupt möglich, unverhältnismässig teuer zu stehen käme und schwere
Nachteile in der Benützung des Hauptgebäudes, nämlich die Preisgabe
des Ladens an der Strasse oder des Treppenhauses am Vorplatz, mit sich
bringen würde. Unter solchen Umständen ist der Anspruch auf einen Notweg
grundsätzlich gegeben.

    Nun setzt aber der Notweganspruch gemäss Art. 694 Abs. 1 ZGB voraus,
dass das Grundstück als solches und als ganzes keinen genügenden Weg auf
die öffentliche Strasse habe. Hat es diesen aber, so kann nicht verlangt
werden, dass darüber hinaus irgend ein bestimmter Teil des Grundstückes
bzw. namentlich der auf ihm stehenden Gebäude auf Kosten des Nachbars
zugänglich gemacht werde. Die Liegenschaft der Klägerinnen hat eine
Zu- und Abfahrt zur Dorfstrasse, da sie mit der Südfront des Wohn- und
Geschäftshauses direkt an und auf gleichem Niveau mit dieser liegt und
ausserdem auf der Westseite über den gemeinsamen Vorplatz bis vor die
Haustüre mit jedem Fahrzeug zugänglich ist. Die Klägerinnen verlangen einen
weitern Zugang, der ihnen die Einfahrt in die im hintern Teil des Hauses
liegende Remise ermöglicht. Ein Begehren solcher Art ist nur begründet,
wenn die rationelle Bewohnung und Bewirtschaftung der Liegenschaft mit
den vorhandenen Zufahrten nicht möglich ist und den zusätzlichen Notweg
erfordert. Dies ist z.B. der Fall, wenn wesentliche Teile eines Bauerngutes
oder eines Fabrikbetriebes ohne eine besondere, nur durch Notweg mögliche
Zufahrt nicht genützt werden können, wenn also der schon vorhandene Weg
für die Nutzung des Gesamtgrundstückes nicht genügt (vgl. LEEMANN N. 16,
HAAB N. 17 zu Art. 694, GMÜR, Schweizerisches Zentralblatt für Staats-
und Gemeindeverwaltung 16 S. 173 f.).

    Die Vorinstanz hat diese entscheidende Frage damit zu beantworten
versucht, dass sie einfach erklärt, für eine Mehrzweckliegenschaft, wie sie
hier in Frage stehe, sei eine Garage heutzutage durchaus notwendig. Dies
geht im vorliegenden Falle zu weit. Es müsste festgestellt sein, dass
in concreto für die Bewirtschaftung des Grundstückes ein Auto und die
Möglichkeit, dieses auf dem eigenen Boden und zwar in einem bestimmten,
bereits vorhandenen Lokal einzustellen, notwendig sind. Dies ist hier nicht
dargetan. Mit dem von den Klägerinnen an Dritte verpachteten Konsumladen an
der Strassenfront haben Auto und Garage offenbar nichts zu tun, jedenfalls
ist etwas anderes weder bewiesen noch - zulässigerweise - behauptet worden;
es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern eine allfällige Erschwerung des
Auf- und Abladens eines Autos vor dem Laden, zufolge Einbeziehung des
schmalen Bodenstreifens vor demselben in die Strasse, durch die Zufahrt
in die Garage im Hinterhause sollte kompensiert werden können. Für die
wirtschaftliche Nutzung der Wohnräume, wozu auch das Bewohnen durch die
Eigentümerinnen gehört, ist das Privatauto derselben gewiss angenehm, aber
nicht unbedingt notwendig. Die Zufuhr von Brennmaterial, Lebensmitteln,
die Zufahrt eines Taxis, eines Möbelwagens, eines Krankenautos usw. ist
über den gemeinsamen Vorplatz bis vor die Haustür möglich. Das Interesse
der Klägerinnen am verlangten Notweg besteht somit nur darin, dass es
für sie eine Bequemlichkeit und eine finanzielle Erleichterung ist, wenn
sie ihr privates, für die Grundstücksbewirtschaftung nicht erforderliches
Auto in der unter dem eigenen Dache befindlichen, aber nur über den Hof des
Nachbars zugänglichen Remise versorgen können. Dass sie aus Erwerbsgründen
ein Auto halten müssen, dass der fragliche Raum nicht auch anderswie
nützlich zu verwenden wäre, dass etwa Ladenpächter, Mieter oder Gäste
je dort eine Garage beansprucht hätten, ist nicht behauptet, jedenfalls
nicht festgestellt. Damit soll immerhin nicht gesagt sein, dass nur ein aus
Erwerbsgründen gehaltenes Auto einen Notweganspruch zu begründen vermöge,
also nur drohende "Not" im engern, wirtschaftlichen Sinne in Betracht
käme; es lassen sich durchaus Fälle denken, wo der Grundeigentümer für
ein ihm bloss zur Bequemlichkeit oder zum Vergnügen dienendes Auto einen
Zugang zu seiner Liegenschaft muss beanspruchen können, nämlich wenn er
überhaupt keinen solchen hat, nicht aber nur um es an einer ungeschickt
gelegenen Stelle der Liegenschaft auch garagieren zu können.

    Dass die ablehnende Haltung der Beklagten rechtmissbräuchlich wäre,
trifft nicht zu. Wohl erscheint es als recht und billig, dass die
Klägerinnen die bisherige Benützung der Hofecke zur Ein- und Ausfahrt,
mit der sie offenbar die Beklagten - angesichts der Grösse des Hofes - in
keiner Weise beeinträchtigen, weiterhin im gleichen Rahmen ausüben können,
was ihnen die Beklagten in der Berufungsschrift neuerdings auf Zusehen
hin zugesichert haben. Ein dingliches Fahrwegrecht im Sinne von Art. 694
ZGB aber wäre ein erheblicher, dauernder Eingriff in das Grundeigentum
der Beklagten; es könnte baulichen oder betrieblichen Veränderungen,
die sie oder spätere Rechtsnachfolger als notwendig erachten würden,
entgegenstehen und würde damit die Liegenschaft entwerten. Ein solcher
Eingriff ist ihnen - ebenfalls unter dem Gesichtspunkt von Recht und
Billigkeit - nicht zuzumuten, wenn, nach dem Gesagten, dieser Notweg für
die Klägerinnen weder ein wirtschaftliches noch ein anderes dringendes
Bedürfnis ist.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben
und die Klage abgewiesen.