Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 II 556



84 II 556

76. Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. Juni 1958 i.S. Baffra
A.-G. gegen "Schweiz" Allgemeine Versicherungs- A.-G. Regeste

    Seetransportversicherung.

    1.  Versicherungszertifikat "to whom it may concern" mit
auszugsweiser Angabe der allgemeinen Bedingungen für die Versicherung
von Gütertransporten der schweizerischen Versicherer ("ABVT
1940"). Anwendbarkeit dieser Bedingungen. Tragweite von Art. 3 VVG
(Erw. 1).

    2.  In den allgemeinen Bedingungen aufgestellte Regeln über

    a)  die Schadensfeststellung durch den Havarie-Kommissar des
Versicherers, wenn Güter ausserhalb der Schweiz beschädigt ausgeladen
werden; Vorschusspflicht des Anspruchsberechtigten;

    b)  die rechtsverbindliche Schätzung des Schadens durch unparteiische
bzw. beiderseits ernannte Sachverständige (Erw. 2).

    3.  Verwirkung des Ersatzanspruchs gegen den Versicherer kraft
vertraglicher Klausel. Gegebene Gründe: a) eigenmächtige Beauftragung eines
Experten eigener Wahl durch den Anspruchsberechtigten; b) Verweigerung
der Vorschussleistung an den Havarie-Kommissar (Erw. 3-8).

    4.  Entschuldigung nach Art. 45 VVG? (Erw. 9).

    5.  Rechtsmissbräuchliche Erhebung der Verwirkungseinrede? (Erw. 10).

Sachverhalt

    A.- Die Colcao A.-G. in Zürich schloss am 3. September 1949 mit
der Versicherungsgesellschaft "Schweiz" einen Versicherungsvertrag für
die Versicherung von Gütertransporten zu Lande, auf Binnengewässern,
zur See und in der Luft ab. Dieser Vertrag ist in der Generalpolice
Nr. 4486 festgehalten, und es liegen ihm die vom Schweizerischen Verband
der Transportversicherer aufgestellten "Allgemeinen Bedingungen für die
Versicherung von Gütertransporten" (ABVT 1940) zu Grunde.

    B.- Am 14./15. Mai 1954 meldete die Colcao, die inzwischen in
Liquidation getreten war, unter Hinweis auf die Generalpolice einen
Transport von 26'417 Ballen Tabak, die auf dem Seewege von Samsun und
Istanbul nach Hamburg verbracht werden sollten, zur Versicherung an,
und zwar zu einem Versicherungswert von USA-$ 1'100, 100, also etwa
5'000,000 Schweizerfranken. Sie erbat und erwirkte die Ausstellung von
Versicherungszertifikaten "für wen es angehen mag" ("to whom it may
concern"). Berechtigt war zunächst die Inventa K.G., Dr. C. Hruby & Co.
Nachf., mit Sitz in München. Die Prämie von $ 6325.--, am andern Tag,
weil irrtümlich berechnet, auf $ 9162.25 erhöht, wurde bezahlt. Dabei
erhielt die Colcao auf Grund der Generalpolice einen Rabatt von 10%.

    C.- Anlässlich der Beladung des Frachtschiffes "Aegaeis" in
Samsun kam es zwischen dem Kapitän und Vertretern der Inventa zu
einer Auseinandersetzung über die Art der Ladung. Inhalt und Ergebnis
dieser Aussprache sind umstritten und kommen in einem in Hamburg
schwebenden Prozesse zwischen der Inventa und 1) der Atlas-Levante-Linie
Aktiengesellschaft und 2) der Levante Schiffahrts-G.m.b.H. zur Erörterung.

    D.- Nach einer Fahrt von etwa 25 Tagen lief die "Aegaeis" am
10. Juni 1954 in Hamburg ein. Beim Entladen des Schiffes wies der Tabak
beträchtlichen Schaden auf. Das wurde sowohl dem Havarie-Kommissar der
"Schweiz" in Hamburg, Paul Sieveking, wie auch der "Schweiz" selbst
gemeldet. Die mit dem Empfang der Ware für die Inventa betraute
Speditionsfirma Schenker & Co. G.m.b.H., Hamburg, ersuchte den
Havarie-Kommissar am Tag nach Ankunft der Ware, seinen Havarieexperten
zur gemeinsamen Schadensfeststellung zum Lager zu entsenden. Der von
Sieveking in diesem Sinn beauftragte Experte Nehrenheim nahm einen
Augenschein vor und meldete am 24. Juni 1954, es seien 7723 beschädigte
Ballen ausgeschieden worden. Zu genauer Schadensfeststellung kam es
damals nicht, und auch an einem Augenschein vom 7. Juli 1954, an dem
neben Nehrenheim und einem Vertreter der "Schweiz" auch Vertreter der
Firma Schenker & Co. und der Vertrauensexperte der Inventa, Rathmann,
teilnahmen, wurden keine dahingehenden Massnahmen beschlossen. Die
"Schweiz" hatte bereits in einem Briefe vom 29. Juni 1954 an die
Colcao mit eingehender Begründung den Standpunkt eingenommen, es
liege kein durch die Versicherung gedeckter Schadensfall vor, und ihre
"Haftpflicht" abgelehnt. Dagegen hatte die Inventa, wie sich aus einem
Brief der Firma Schenker & Co. an den Havarie-Kommissar Sieveking vom
26. Juni 1954 ergibt, keine "Kautionspflicht" anerkennen wollen und
erklärt, der Schaden könne nur auf der Reise entstanden sein, daher habe
die Versicherungsgesellschaft das Nötige vorzukehren und sei für jede
Verzögerung und Schadensvergrösserung verantwortlich. Sie wich von dieser
Stellungnahme nicht ab, obwohl die Firma Schenker & Co. ihr am 2. Juli 1954
zu bedenken gab, "welche Gefahr für sie darin liegt, wenn die Expertise
und Schadensfeststellung weiter hinausgezögert wird", mit dem Beifügen:
"Sie wissen, dass wir in der Sache nichts unternehmen können, solange uns
die hiefür notwendigen Beträge nicht zur Verfügung gestellt sind, so dass
letztlich die Verantwortung ausschliesslich bei Ihnen selbst liegt". Die
Firma Schenker & Co. hatte die Kosten der Schadensexpertise auf ca. DM
200'000 geschätzt. Am 24. Juni 1954 teilte ihr mit Bezugnahme hierauf
die für die Colcao bezw. die Inventa handelnde Bank Landau & Kimche,
Zürich, mit, sie sei "vorläufig" nicht bereit, diese Kosten zu tragen. Die
Inventa begnügte sich damit, einen Befund ihres Vertrauensexperten Rathmann
einzuholen. Dieses vom 27. Juli 1954 datierte Schriftstück hebt hervor,
dass Rathmann auf Grund seiner Besichtigung nicht in der Lage sei, den
Schaden der Gesamtpartie zu beurteilen. Eine einwandfreie Schadenermittlung
sei nur möglich, wenn jeder Ballen geöffnet und sorgfältig geprüft werde;
diese Feststellung der Schadenshöhe hätte "unbedingt nach der Abkühlung der
Tabake, also spätestens nach einer Zeitspanne von 3-4 Wochen durchgeführt
werden müssen". Wenn nach dieser Zeit die Tabakballen nicht geöffnet werden
und der verpresste Tabak nicht herausgenommen werde, so vergrössere sich
der Schaden, "da durch die Verpressung der Tabak in den Ballen nicht
atmen kann und im Laufe der Zeit vollkommen muffig wird".

    E.- Am 21. August 1954 liess die Inventa Rathmann durch die
Handelskammer Hamburg mit der Feststellung von Art und Umfang des
Schadens beauftragen. Der "Schweiz" stellte sie alsdann die Teilnahme
an diesen Ermittlungen frei. Die "Schweiz" entsandte Nehrenheim als
"Beobachter", bemerkte aber zugleich in ihrem Briefe vom 26. August
1954 an die Bank Landau & Kimche, "dass durch das Vorgehen Ihrer Kunden
die im Versicherungsvertrag vorgesehenen Obliegenheiten nicht erfüllt
werden, weshalb ein Versicherungsanspruch nicht entstehen kann". Und
einige Tage später widerrief sie den Auftrag an Nehrenheim und verneinte
gegenüber einem Schreiben der erwähnten Bank die Voraussetzungen zu einem
Schiedsgutachterverfahren im Sinne von Art. 37 ff. ABVT.

    Rathmann erstattete sein Gutachten am 12. Januar 1955.

    F.- Nach Abtretung der Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag durch
die Colcao an die Inventa und durch diese an die Baffra AG in Zürich
erhob diese am 17. März 1956 gegen die "Schweiz" Klage auf Zahlung von
Fr. 1'669,148.95 nebst 5% Zinsen seit 10. August 1954. Die Beklagte
bestritt die Aktivlegitimation der Klägerin, indem sie die deren
Rechtserwerb zu Grunde liegenden Abtretungen bemängelte. Im übrigen
bestritt sie nach wie vor das Vorliegen eines durch die Versicherung
gedeckten Schadensfalles. Endlich erhob sie gestützt auf Art. 42 lit. b
ABVT die Einrede der Verwirkung wegen Nichterfüllung der sich aus Art. 32
und 34 ABVT für den Versicherungsnehmer bzw. den Anspruchsberechtigten
ergebenden Obliegenheiten.

    G.- Mit Urteil vom 27. Januar 1958 hat das Handelsgericht des Kantons
Zürich die Verwirkungseinrede der Beklagten geschützt und die Klage daher
abgewiesen. Die Begründung geht dahin, die Schadensanzeige sei zwar dem
Art. 32 ABVT entsprechend erfolgt, dagegen habe die Versicherungsnehmerin
bzw. die Anspruchsberechtigte es unterlassen, gemäss Art. 34 ABVT zu
tun, was ihr zur Herbeiführung einer unverzüglichen Schadensfeststellung
obgelegen hätte, und dadurch die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag
nach Art. 42 lit. b ABVT verwirkt.

    H.- Mit vorliegender Berufung erneuert die Klägerin das in der Klage
gestellte Begehren. Die Beklagte trägt auf Abweisung der Berufung und
auf Bestätigung des angefochtenen Urteils an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie schon in kantonaler Instanz hält die Klägerin der
auf Art. 42 ABVT gestützten Verwirkungseinrede in erster Linie
entgegen, es handle sich um einen besondern, nicht den "ABVT 1940"
unterstehenden Versicherungsvertrag, weshalb die in jenen Allgemeinen
Bedingungen vorgesehenen Verwirkungsgründe von vornherein unbeachtlich
seien. Massgebend sei das für die Versicherung dieses Tabaktransportes
ausgestellte Versicherungszertifikat Nr. 11'287, auf dessen Vorderseite
der vorgedruckte Hinweis auf eine offene Police ("under Open Cover
No ..........") nicht nur unausgefüllt geblieben, sondern mit der
Schreibmaschine durchgestrichen worden sei. Somit falle nach eindeutiger
Absicht der Vertragschliessenden die Generalpolice der Colcao mit den
ihr beigefügten "ABVT 1940" ausser Betracht.

    Diese Ansicht geht fehl. Es kann dahingestellt bleiben, ob jene
Streichung, was die Beklagte behauptet hat, jedoch nicht abgeklärt worden
ist, auf Irrtum beruhe, oder ob sie dem Willen entsprang, diesen von der
Colcao nicht für sich selbst, sondern "to whom it may concern", zunächst
für die Inventa, abgeschlossenen speziellen Versicherungsvertrag von der
Generalpolice der Versicherungsnehmerin unabhängig zu gestalten, zumal
er ohnehin deren Rahmen hinsichtlich der Höhe der Versicherungssumme
überschritt. Selbst wenn man letzteres annimmt und im übrigen davon
ausgeht, für den nicht mit der Colcao identischen Anspruchsberechtigten
sei die Streichung des Hinweises auf eine Generalpolice in dem über die
Versicherung dieses Tabaktransportes ausgestellten Zertifikat auf alle
Fälle gültig, erweisen sich die von der Beklagten angerufenen Allgemeinen
Bedingungen als anwendbar. Auf der Vorderseite des Zertifikates wird
nämlich, wenn auch nicht auf eine Generalpolice, so doch auf die
rückseits angeführten Bedingungen verwiesen: "(extract of conditions
see overleaf)". Und dieser die ganze Rückseite ausfüllende Text ist
überschrieben als Auszug aus den für schweizerische Gütertransportpolicen
geltenden Allgemeinen Bedingungen: "Extract of the printed conditions
(General Conditions of the Swiss Policy for the Insurance of Goods in
Transit G.C.I.T. 1940)". Damit waren die "ABVT 1940" eindeutig als
anwendbar erklärt, und nur der nachfolgende Teil jener Überschrift,
der sich mit den besondern Bedingungen der (allfälligen) Generalpolice
befasst ("and particular conditions of the Open Cover mentioned on the
reverse of this insurance certificate") mochte nach dem oben Gesagten
hier ausser Betracht fallen.

    Gegen die Anwendbarkeit der "ABVT 1940" in ihrer Gesamtheit spricht
nicht der Umstand, dass das Versicherungszertifikat nur einen Auszug
daraus enthält. Dieser ist ja ausdrücklich als solcher bezeichnet. Der
Versicherungsnehmer und jeder weitere Anspruchsberechtigte hatte daher
Veranlassung, sich nach dem vollen Texte der "ABVT 1940" umzutun, sobald
ein Schadensfall eingetreten war.

    Die Übergabe eines blossen Auszuges der allgemeinen
Versicherungsbedingungen entsprach allerdings nicht der Vorschrift von
Art. 3 VVG. Allein diese Vorschrift ist nicht zwingenden Charakters
(siehe die Art. 97 und 98 VVG) und denn auch in Art. 52 ABVT
wegbedungen. Im übrigen gilt Art. 3 VVG nicht, wenn der Antrag auf Grund
eines bereits laufenden Vertrages, also auf Grund bereits übergebener
Bedingungen gestellt wird (ROELLI, N. 1 am Ende zu Art. 3 VVG). Das
traf hier zu. Versicherungsnehmerin war die Colcao, die sich bei ihrer
"Vericherungsanmeldung" für den grossen Tabaktransport ausdrücklich auf
ihre Generalpolice berief. Der Umstand, dass die vorliegende Versicherung
in verschiedener Hinsicht aus dem Rahmen der Generalpolice fiel, ändert
nichts daran, dass die auch im erwähnten Versicherungszertifikat
als anwendbar erklärten ABVT der Colcao bereits übergeben worden
waren. Endlich besteht die Folge der Missachtung des Gebotes der Übergabe
der allgemeinen Versicherungsbedingungen (ohne Kürzung oder Auslassung)
nach Art. 3 Abs. 2 VVG darin, dass der Antragsteller an den Antrag
nicht gebunden ist. Diese Folgerung ist aber sowenig wie von der Colcao,
welche die Prämie bezahlt und die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag
abgetreten hat, noch von der Inventa oder der Klägerin gezogen worden, die
vielmehr den Versicherungsvertrag als Grundlage ihrer gegen die Beklagte
erhobenen Ansprüche geltend macht. Das kann sie nur gemäss den auch im
Vericherungszertifikat als Vertragsbestandteil erklärten ABVT 1940 tun.

Erwägung 2

    2.- Mit Recht hat das Handelsgericht die Schadensanzeige als dem
Art. 32 ABVT 1940 entsprechend befunden und die von der Beklagten in
dieser Hinsicht erhobene Einrede abgelehnt.

    Was die Schadensfeststellung betrifft, so fallen folgende Bestimmungen
der ABVT in Betracht:

    a) im Abschnitt "Schäden" (Art. 32-36):

    Art. 34

    1 Werden Güter ausserhalb der Schweiz beschädigt ausgeladen, so
ist unverzüglich der Havarie-Kommissar des Versicherers herbeizurufen,
damit dieser die Art, den Umfang und die Ursache des Schadens feststellen
und die ihm geeignet erscheinenden Massnahmen zur Erhaltung der Güter
anordnen kann.

    2 Der Havarie-Kommissar ist nicht der Vertreter des Versicherers. Seine
Intervention bewirkt keineswegs die Anerkennung oder Begründung eines
Gerichtsstandes an seinem Wohnsitz.

    .....

    5 Die Spesen und das Honorar des Havarie-Kommissars sind
vom Versicherungsnehmer zu zahlen. Der Versicherer wird sie ihm
zurückerstatten, wenn und soweit der Schaden durch die Versicherung
gedeckt ist.

    b) im Abschnitt "Schadenermittlung" (Art. 37-42):

    Art. 37

    1 Wenn der Versicherer oder der Havarie-Kommissar sich mit
dem Empfänger über Ursache, Art und Umfang des Verlustes oder der
Beschädigung nicht einigen können, so wird zur Feststellung des Schadens
ein Sachverständiger ernannt. Falls die Parteien sich nicht über die
Person einigen können, oder falls die Umstände die Mitwirkung mehrerer
Sachverständiger verlangen, so hat jede Partei einen davon zu bezeichnen;
wenn die beiden Sachverständigen sich nicht einigen können, so haben sie
einen sachverständigen Obmann zu wählen, oder ihn durch die zuständige
Behörde bezeichnen zu lassen.

    2 Kann ein Dritter für den Schaden haftbar gemacht werden, so muss
die Schadensfeststellung auf gerichtlichem Wege erfolgen, sofern das
Gesetz oder der Ortsgebrauch es verlangen.

    Art. 38

    1 Der oder die Sachverständigen untersuchen die Güter gemeinsam,
nachdem sie die Interessenten (Versicherer, Havarie-Kommissar, Empfänger,
Frachtführer usw.) zur Besichtigung eingeladen haben; sie verfassen und
unterzeichnen den Expertisenbericht, ..........

    Art. 42

    Der Versicherer ist von jeder Ersatzpflicht befreit:

    a) ..........

    b) wenn die Feststellung des Verlustes oder der Beschädigung nicht
in der vorgeschriebenen Weise erfolgte;

    c) ..........

    In diesen Bestimmungen liegt eine selbständige, aus sich selbst heraus
auszulegende Ordnung, wie denn Art. 67 VVG mit Ausnahme des auch für
die Transportversicherung zwingenden Abs. 4 in Art. 52 ABVT ausdrücklich
wegbedungen ist.

Erwägung 3

    3.- In erster Linie ist der Vorinstanz darin beizustimmen, dass
der Verwirkungsgrund des Art. 42 lit. b ABVT nicht nur bei Verstössen
gegen die Art. 37 ff., sondern auch bei solchen gegen Art. 34 ABVT
vorliegt. Zwar steht jene Verwirkungsklausel nur in dem durch Art. 37
eingeleiteten Abschnitt über die "Schadenermittlung". Sie betrifft aber
jede nicht in der "vorgeschriebenen" Weise erfolgte Schadensfeststellung,
und bei Gütern, die ausserhalb der Schweiz beschädigt ausgeladen werden,
fällt eben in erster Linie die nach Art. 34 ABVT vom Havarie- Kommissar
des Ausladehafens vorzunehmende Schadensfeststellung in Betracht.

    Diese Bestimmung schreibt vor, der Havarie-Kommissar des Versicherers
sei unverzüglich herbeizurufen, um Art, Umfang und Ursache des Schadens
feststellen und die ihm geeignet erscheinenden Massnahmen zur Erhaltung
der Güter anordnen zu können. Die Inventa bzw. die von ihr beauftragte
Speditionsfirma Schenker & Co. hat den Havarie-Kommissar Sieveking
demgemäss sogleich mit diesem Schadensfalle befasst. Zur Feststellung des
Schadens nach Art, Umfang und Ursache bedurfte es aber bei der vorliegenden
grossen Tabaksendung genauer und kostspieliger Untersuchungen, worüber
die Inventa bereits in der zweiten Hälfte Juni 1954 von der in solchen
Angelegenheiten erfahrenen Speditionsfirma unterrichtet wurde. Nun stand
es der Inventa nach der in Frage stehenden Vertragsbestimmung nicht
zu, mit diesen Feststellungen über den Kopf des Havarie-Kommissars
hinweg einen Sachverständigen ihrer Wahl zu betrauen. Vielmehr
hatte sie die Schadensfeststellung dem Havarie-Kommissar als dem
nach den Vertragsbestimmungen "herbeizurufenden" Vertrauensmann des
Versicherers zu überlassen. Dieser braucht sich die eigenmächtige
Beauftragung eines Sachverständigen durch den Versicherungsnehmer
oder den Anspruchsberechtigten nicht gefallen zu lassen und eine
auf solchem Wege zustande kommende Schadensfeststellung nicht als
"in der vorgeschriebenen Weise erfolgt" anzunehmen, sondern kann sich
gegenüber einem derartigen Vorgehen auf die Verwirkungsklausel berufen
(vgl. D. BERTHOUD, L'assurance des marchandises contre les risques de
transport, p. 179 unten; ferner zur Stellung des Havarie-Kommissars:
RITTER, Das Recht der Seeversicherung, Kommentar zu den Allgemeinen
deutschen Seeversicherungsbedingungen, 2, Anm. 61 zu § 74; MANES,
Versicherungslexikon, 3. Auflage, s.v. Havariekommissar).

Erwägung 4

    4.- Um die in Art. 34 Abs. 1 ABVT vorgesehenen Massnahmen in
gehöriger Weise zu veranlassen, genügt es nicht, den Schadensfall dem
Havarie-Kommissar zu melden, wie es hier seitens der Inventa geschehen
ist. Erweisen sich kostspielige nähere Untersuchungen unter Mitwirkung
eines Sachverständigen als notwendig, so ist der Versicherungsnehmer
bzw. der Anspruchsberechtigte überdies gehalten, dem Havarie-Kommissar
nach Abs. 5 daselbst die dafür aufzuwendenden Mittel zur Verfügung zu
stellen. Dass dies vorschussweise zu geschehen hat, versteht sich von
selbst. Ist doch dem Havarie-Kommissar nicht zuzumuten, seine Tätigkeit,
zumal wenn sie ihn während mehrerer Wochen in Anspruch nimmt, auf Kredit
auszuüben, geschweige denn beträchtliche laufende Aufwendungen für das
beizuziehende Personal und dergleichen aus eigenen Mitteln zu erlegen.

Erwägung 5

    5.- In der Regel wickelt sich die Schadensfeststellung durch den
Havarie-Kommissar in der Weise ab, dass er nach Vornahme der ersten
Feststellungen und sichernden Anordnungen dem Versicherungsnehmer bzw.
Anspruchsberechtigten den für die genaue Schadensermittlung erforderlichen
Kostenbetrag angibt und mit ihm allenfalls eine ratenweise Bezahlung
vereinbart. Im vorliegenden Fall ist ein solches Vorgehen des
Havarie-Kommissars nicht dargetan. Die Inventa wusste jedoch, dass
dieser und die Beklagte (die einen durch die Versicherung gedeckten
Schadensfall überhaupt verneinte) von sich aus nichts zur nähern
Schadensermittlung vorkehrten. Die von ihr beauftragte Speditionsfirma
Schenker & Co. machte sie eindringlich darauf aufmerksam, dass es an ihr
lag, durch Bevorschussung der (auf etwa DM 200'000.-- veranschlagten)
Kosten die rasche Schadensermittlung zu veranlassen. Unter diesen
Umständen war es offensichtlich Aufgabe der Inventa, die Voraussetzungen
des ihr obliegenden Schadensnachweises durch ordnungsmässige, dem Art. 34
ABVT entsprechende Art der Feststellung von Art, Umfang und Ursache des
Schadens zu schaffen. Sie hätte den Havarie-Kommissar ersuchen dürfen
(und, um ihre Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag zu wahren, auch
sollen), trotz der grundsätzlichen Ablehnung einer Ersatzpflicht durch
die Beklagte die Schadensfeststellung vorzunehmen, und zwar vorerst auf
Kosten der Versicherungsnehmerin bzw. Anspruchsberechtigten.

Erwägung 6

    6.- Was die Inventa statt dessen vorkehrte, lief auf eine Umgehung
des in Art. 34 ABVT vorgeschriebenen Feststellungsverfahrens und auf
eine Missachtung der danach dem Havarie-Kommissar des Versicherers
eingeräumten Stellung hinaus. Gewiss hätte Sieveking die genaueren
Feststellungen nicht selber vornehmen können, sondern einen besondern
Sachverständigen beiziehen müssen, wie denn die ersten von ihm angeordneten
Ermittlungen durch den von ihm beigezogenen Hans Nehrenheim erfolgten. Die
Bezeichnung des Sachverständigen stand aber nach Art. 34 ABVT eben dem
Havarie-Kommissar zu. Die Versicherungsnehmerin bzw. Anspruchsberechtigte
mochte sich mit ihm in Verbindung setzen, um sich wenn möglich mit ihm
über die Person des Sachverständigen zu einigen. Auf keinen Fall erfüllte
sie ihre Obliegenheiten nach der erwähnten Bestimmung, indem sie einfach
einen Sachverständigen ihrer Wahl mit Feststellungen betraute. Somit kann
sie sich, um der Verwirkung ihrer Ansprüche nach Art. 42 lit. b ABVT zu
entgehen, nicht auf das von ihr eingeholte Gutachten Rathmanns vom 27. Juli
1954 berufen, das übrigens auf die Notwendigkeit weiterer Feststellungen
hinwies. Aber auch die von ihr ohne Mitwirkung des Havarie-Kommissars
verlangte Beauftragung Rathmanns mit nähern Feststellungen durch die
Hamburger Handelskammer stand mit Art. 34 ABVT nicht im Einklang.

Erwägung 7

    7.- Eine Frage für sich ist, ob die Inventa die Einleitung eines
eigentlichen Sachverständigenverfahrens nach Art. 37 ABT zur grundsätzlich
rechtverbindlichen Abschätzung des Schadens (entsprechend Art. 67 Abs. 2
VVG; vgl. dazu OSTERTAG-HIESTAND, N. 6) hätte verlangen können, wenn
Verhandlungen mit dem Havarie-Kommissar über die gemeinsame Beauftragung
eines Sachverständigen im Rahmen von Art. 34 ABVT gescheitert wären. Das
kann jedoch offen bleiben, nachdem die Inventa derartige Verhandlungen
gar nicht angebahnt hat. Übrigens hätte auch das Verfahren nach Art. 37
ABVT mit dem Versuch einer Einigung über die Person des Sachverständigen
beginnen müssen, was die Inventa völlig unbeachtet liess. Zu einem solchen
Verfahren ist es auch nicht etwa infolge nachträglicher Einigung der
Parteien gekommen. Vielmehr widersprach die Beklagte einer dahingehenden
Anregung der für die Inventa handelnden Bank sogleich.

Erwägung 8

    8.- Zu Unrecht nimmt die Klägerin an der Höhe der von der Firma
Schenker & Co. geschätzten Kosten der Schadensermittlung Anstoss und wendet
ein, eine Vorschussleistung in solchem Betrage sei einem Versicherten
schlechterdings nicht zuzumuten. Gegenstand des nach Art. 34 Abs. 5 ABVT
zu leistenden Vorschusses ist der mutmasslich zur Feststellung von Art,
Umfang und Ursache des Schadens notwendige Aufwand. Hielt die Inventa
den ihr von jener Speditionsfirma genannten Betrag von ca DM 200'000.--
für übersetzt, so stand ihr frei, darüber mit dem Havarie-Kommissar zu
verhandeln. Sie trat aber darüber gar nicht in Diskussion, sondern lehnte
die Vorschussleistung aus unhaltbaren Gründen kurzweg ab. Weit übersetzt
war übrigens der erwähnte Kostenbetrag nicht. Beziffert doch die Klägerin
die Kosten der von der Inventa einseitig veranlassten Schadensfeststellung
in der Klage auf $ 40'386.97 (= Fr. 168'817.53); die hauptsächlichen
Teilbeträge davon sind $ 4784.70 = DM 20'000.-- für die Expertise und
$ 34'689.-- = DM 145'000.-- für Arbeitslöhne von Schenker & Co. Das
Handelsgericht bemerkt zutreffend, wer Handelsgeschäfte über Waren im Werte
von mehreren Millionen Franken abschliesse, habe auch dafür zu sorgen,
dass er die mit der Ausführung dieser Geschäfte verbundenen Aufwendungen
zu erbringen vermöge.

Erwägung 9

    9.- Der Eventualstandpunkt der Klägerin, eine ihren Rechtsvorgängern
vorzuhaltende Versäumung von Obliegenheiten aus dem Versicherungsvertrag
hinsichtlich der Schadensermittlung wäre gemäss (dem in den ABVT nicht
wegbedungenen) Art. 45 VVG zu entschuldigen, erweist sich ebenfalls
nicht als haltbar. Das Handelsgericht geht zwar zu weit, wenn es
als Entschuldigungsgrund nur ein eigentliches Hindernis gelten lassen
will. Art. 45 Abs. 1 VVG berücksichtigt allgemein die "unverschuldete"
Verletzung einer Obliegenheit. Hiebei fallen als Entschuldigungsgründe
ausser objektiven Hindernissen auch andere je nach den Umständen füglich
vom Versicherten nicht zu verantwortende Tatsachen in Betracht, wie
etwa Krankheit, Unmöglichkeit der Beibringung von Belegen, Verhalten
des Versicherers, seines Agenten oder amtlicher Stellen (vgl. ROELLI,
N. 5 d und 9, und OSTERTAG-HIESTAND, N. 10 zu Art. 45 VVG). An den
Tatbestand einer Fristversäumung zufolge eines Hindernisses knüpft
die spezielle Bestimmung von Art. 45 Abs. 3 VVG an. Doch können auch
Fristversäumungen aus andern Gründen entschuldigt werden (vgl. BGE 74
II 100 Erw. 4, a). Die Klägerin vermag sich nun aber auf keine triftigen
Gründe zu berufen. Dass die Inventa nach Eintritt des Schadensfalles
sich die im Versicherungszertifikat vermerkten "ABVT 1940" offenbar nicht
beschaffte, sie jedenfalls nicht zu Rate zog und über deren Bestimmungen,
namentlich Art. 34, hinwegschritt, lässt sich nicht entschuldigen,
wie denn grundsätzlich die Unkenntnis der Versicherungsbedingungen als
unentschuldbar zu gelten hat (vgl. ROELLI, aaO S. 538). Insbesondere kann
Art. 34 Abs. 5 ABVT vernünftigerweise nur im Sinn einer Vorschusspflicht
verstanden werden, zumal hinsichtlich der zur Schadensfeststellung in
einem Fall wie dem vorliegenden notwendigen Beiziehung von Arbeitskräften,
die fortlaufend, nicht erst nach Abschluss der Arbeiten, entlöhnt werden
müssen. Angesichts der eindringlichen Warnungen der Firma Schenker &
Co. konnte die Inventa hierüber, wenn sie die "ABVT 1940" aufmerksam las,
nicht ernstlich im Zweifel sein.

Erwägung 10

    10.- Endlich liegt in der Erhebung der Verwirkungseinrede kein
Rechtsmissbrauch. An der Einhaltung der in Art. 34 ABVT aufgestellten
Vorschriften hat der Versicherer ein schutzwürdiges Interesse. Ob
diese Bestimmungen dann als bedeutungslos zu erachten sind, wenn der
Schaden nach Art, Umfang und Ursache von vornherein feststeht oder auf
andere Weise rasch und einwandfrei festgestellt worden ist, kann offen
bleiben. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor, wie sich bereits
aus den im Bericht des Vertrauensexperten der Inventa vom 27. Juli 1954
hervorgehobenen Schwierigkeiten der Schadensermittlung ergibt.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichts des
Kantons Zürich vom 27. Januar 1958 bestätigt.