Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 II 484



84 II 484

66. Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Oktober 1958 i.S. J. gegen
Vormundschaftsbehörde Chur. Regeste

    Mit der Berufung an das Bundesgericht kann entgegen BGE 49 II 151
auch im Falle der Entziehung der elterlichen Gewalt nicht gerügt werden,
dass der Entscheid der Vorinstanz kantonale Verfahrensvorschriften
verletze. Das kantonale Recht kann für die Entziehung der elterlichen
Gewalt ein Verwaltungsverfahren vorsehen und hat ausschliesslich darüber zu
bestimmen, ob die zuständigen Behörden auf Informationsberichte abstellen
dürfen oder die Gewährspersonen als Zeugen verhören müssen. Fehlen einer
den Anforderungen von Art. 55 lit. c OG genugenden Berufungsbegründung.

Sachverhalt

    Am 28. Juni 1958 hat der Kleine Rat des Kantons Graubünden
in Übereinstimmung mit der Vormundschaftsbehörde Chur und dem
Bezirksgerichtsausschuss Plessur dem J., dessen erste Frau am 3. Februar
1955 an der Geburt des ersten Kindes gestorben war und der seit dem
29. September 1955 wieder verheiratet ist, die elterliche Gewalt über
dieses Kind entzogen, weil aus einem durch Erhebungen des Fürsorgeamtes
der Stadt Chur bestätigten Bericht der Bezirksfürsorgestelle Chur vom
24. August 1957 hervorgehe, dass das Kind von ihm und seiner zweiten
Frau lieblos, verständnislos und brutal behandelt, insbesondere ganz
mangelhaft gepflegt, heftig geschlagen, geschüttelt und mit Fusstritten
traktiert werde, so dass es verängstigt sei und oft tagelang schreie.

    Diesen Entscheid hat J. mit der vorliegenden Berufung an das
Bundesgericht weitergezogen mit dem Antrag, die gegen ihn ergriffene
Massnahme sei aufzuheben; eventuell sei die Sache zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Bundesgericht tritt auf die Berufung
nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 55 lit. c OG soll die Begründung der Berufungsanträge,
die in der Berufungsschrift enthalten sein muss, kurz darlegen,
welche Bundesrechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen
Entscheid verletzt sind. Ausführungen, die sich gegen die tatsächlichen
Feststellungen richten, sowie Erörterungen über die Verletzung kantonalen
Rechts sind nach dem zweiten Satze dieser Bestimmung unzulässig. Diese
Grundsätze gelten auch für die in Art. 44 lit. b OG vorgesehene Berufung
gegen Entscheide über die Entziehung und Wiederherstellung der elterlichen
Gewalt.

    In BGE 49 II 151 steht freilich u.a., die zivilrechtliche Beschwerde
(die unter dem frühern OG das ordentliche Rechtsmittel für die
Weiterziehung solcher Entscheide an das Bundesgericht war) sei zulässig,
wenn sie sich auf Verletzung von Verfahrensvorschriften im Sinne von
Art. 288 ZGB berufe, womit nur die gemäss Art. 288 Abs. 1 ZGB von den
Kantonen erlassenen Verfahrensvorschriften gemeint sein konnten. Diese
(vom Berufungskläger nicht angerufene) Bemerkung ist jedoch auf ein
redaktionelles Versehen zurückzuführen. Weder aus Art. 288 ZGB, wonach die
Kantone das bei der Entziehung und der Wiederherstellung der elterlichen
Gewalt zu beobachtende Verfahren ordnen (Abs. 1) und die Weiterziehung
an das Bundesgericht vorbehalten bleibt (Abs. 2), noch aus irgend einer
andern Vorschrift des Bundesrechts lässt sich ableiten, dass in solchen
Angelegenheiten mit dem für die Weiterziehung an das Bundesgericht zur
Verfügung stehenden ordentlichen Rechtsmittel in Abweichung von Art. 43 OG
bzw. Art. 94 in Verbindung mit Art. 57 des frühern OG ausnahmsweise nicht
bloss die Verletzung von Bundesrecht, sondern auch diejenige kantonaler
Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden könne.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Falle besteht der grösste Teil der
Berufungsbegründung darin, dass die tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz und die ihnen zugrunde liegenden Berichte und Auskünfte als
unrichtig hingestellt werden, was nach dem Gesagten unzulässig ist.

    Die übrigen Ausführungen des Berufungsklägers bemängeln das
von den kantonalen Instanzen durchgeführte Verfahren. Dieser Teil
der Berufungsbegründung ist deshalb unbeachtlich, weil über die
Verfahrensfragen, auf welche sich die Rügen des Berufungsklägers beziehen,
keine bundesrechtlichen Vorschriften bestehen, die durch den angefochtenen
Entscheid verletzt sein könnten, sondern das Bundesrecht die Regelung
dieser Fragen dem kantonalen Recht überlassen hat, dessen Anwendung das
Bundesgericht nicht überprüfen kann. Insbesondere steht es den Kantonen
(die gemäss Art. 54 Abs. 1 SchlT die "zuständige Behörde" im Sinne von
Art. 285 ZGB zu bestimmen haben), gemäss Art. 54 Abs. 2 und 3 SchlT sowie
Art. 288 ZGB frei, statt eines gerichtlichen ein Verwaltungsverfahren
vorzusehen, und bestimmt sich ausschliesslich nach kantonalem Recht,
was als "rechtsgültiger Beweis" anzusehen ist. Das kantonale Recht
kann den von ihm als zuständig bezeichneten Behörden gestatten, auf
Informationsberichte abzustellen, wie sie hier vorliegen. Das Bundesrecht
enthält keine Vorschrift, aus der sich ergäbe, dass die Gewährspersonen
als Zeugen zu verhören seien und dass dem Beweisgegner gestattet sein
müsse, ihrem Verhör beizuwohnen und dabei Ergänzungsfragen zu stellen. -
Ob das durchgeführte Ermittlungsverfahren den massgebenden Sachverhalt
genügend zuverlässig abgeklärt habe oder ob weitere Erhebungen (z.B. die
Befragung der vom Berufungskläger erwähnten Ärzte) am Platze gewesen wären,
ist eine Frage der Beweiswürdigung, über welche die kantonalen Behörden
abschliessend zu befinden hatten.

    Dass die Vorinstanz die von ihr festgestellten Tatsachen nicht unter
Art. 285 ZGB habe ziehen dürfen, wird in der Berufungsschrift mit keinem
Worte geltend gemacht.

    Die Berufung entbehrt somit einer der Vorschrift von Art. 55 lit. c OG
genügenden Begründung. Dieser Mangel macht sie unwirksam (71 II 34 und 35,
72 II 6 E. 3, 77 II 343 E. 3, 80 II 30 E. 1, 148 E. 4).