Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 II 466



84 II 466

63. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. September 1958
i.S. Sch. gegen Sch. Regeste

    Weiterziehung eines Scheidungsurteils. Wird das Urteil in irgendeiner
Hinsicht im Scheidungspunkte selbst angefochten (hier: wegen der
in erster Instanz abgewiesenen Scheidungswiderklage), so unterliegt
die..Scheidungsfrage kraft Bundesrechts in vollem Umfange der Überprüfung
in oberer Instanz.

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    A.- Das Bezirksgericht Rorschach schied die Parteien auf Begehren des
Ehemannes nach Art. 142 ZGB und wies die ebenfalls auf Scheidung gehende
Widerklage der Ehefrau wegen überwiegenden Verschuldens an der Zerrüttung
ab. Die Ehefrau zog dieses Urteil an das Kantonsgericht St. Gallen weiter,
indem sie den Ausspruch der Scheidung auf das Begehren beider Parteien und
eine andere Regelung der Nebenfolgen verlangte. Mit Urteil vom 17. Februar
1958 wies das Kantonsgericht sowohl die Klage des Ehemannes wie auch
die Widerklage der Ehefrau ab, weil beiden Ehegatten die Fortsetzung
(Wiederaufnahme) der ehelichen Gemeinschaft zuzumuten sei.

    B.- Gegen dieses Urteil hat der Ehemann Berufung eingelegt. Sein
erster Antrag geht dahin, die Ehe sei auf sein Begehren nach Art. 142 ZGB
zu scheiden. Die Ehefrau unterstützt die Berufung des Klägers, soweit er
selber die Scheidung verlangt. Im übrigen beantragt sie die Abweisung der
Berufung und erneuert mit ihrer Anschlussberufung die vor Kantonsgericht
gestellten Begehren.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Den Antrag auf Gutheissung seines Scheidungsbegehrens bzw. auf
Wiederherstellung des bezirksgerichtlichen Urteils im Scheidungspunkte
begründet der Kläger in erster Linie mit dem Hinweis darauf, dass
das bezirksgerichtliche Urteil in diesem Punkte gar nicht angefochten
war. In der Tat ging der Antrag der Beklagten vor Kantonsgericht dahin,
die Scheidung sei auf Begehren beider Ehegatten (statt nur des Klägers)
zu scheiden. Sie wollte also mit ihrer Weiterziehung ihr eigenes
Scheidungsbegehren neben demjenigen des Klägers zur Geltung bringen,
ohne dessen Gutheissung durch das Bezirksgericht zu beanstanden. Daraus
schliesst der Kläger - mit Zustimmung der Beklagten -, das Kantonsgericht
sei nicht befugt gewesen, "den Scheidungsanspruch des Klägers, über
welchen das Bezirksgericht bereits rechtskräftig entschieden hat,
neu in Frage zu stellen". Allein es steht dem kantonalen Prozessrecht
(Gesetz und Gerichtspraxis) zu, die Rechtskraft eines erstinstanzlichen
Urteils im Scheidungspunkte selbst dann bis zum oberinstanzlichen Urteil
aufzuschieben, wenn sich die Weiterziehung nur auf Nebenfolgen der
Scheidung bezieht (BGE 62 II 273, 71 II 53 E. 2). Die Aufschiebung der
Rechtskraft bringt es freilich nicht ohne weiteres mit sich, dass ein in
erster Instanz gutgeheissenes und in oberer Instanz nicht bestrittenes
Scheidungsbegehren vom oberinstanzlichen Gerichte nochmals zu beurteilen
ist. Sieht die kantonale Prozessordnung eine solche Überprüfung nicht
vor, falls sich die Weiterziehung auf Nebenfolgen beschränkt, so hat
es dabei sein Bewenden; nichts Abweichendes ergibt sich aus Art. 158
Ziff. 3 ZGB (BGE 42 II 546). Bildet jedoch Gegenstand der Weiterziehung
die Scheidungsfrage selbst, so unterliegt sie kraft des materiellen
Bundesrechts in vollem Umfange der oberinstanzlichen Beurteilung,
gleichgültig wie weit das weitergezogene Urteil in diesem Punkte
angefochten ist. Denn einmal kann die Scheidung nicht rechtskräftig werden,
solange auch nur eines der beidseitigen Scheidungsbegehren streitig ist
(BGE 46 II 179, 77 II 289, 82 II 83). Und sodann stehen diese Begehren
und ihre rechtlichen Grundlagen in einem so nahen Zusammenhang, dass
das oberinstanzliche Gericht, an das die Scheidungsfrage auch nur in
einer bestimmten Hinsicht weitergezogen wurde, berechtigt sein muss,
eine nach seiner Ansicht unbegründete Scheidung zu verweigern, auch wenn
beide Parteien die in erster Instanz ausgesprochene Scheidung als solche
wünschen. So hat denn das Bundesgericht eine in kantonaler Instanz auf
beidseitiges Begehren ausgesprochene Scheidung, die der rechtlichen
Grundlage entbehrte, aufgehoben, obwohl die weiterziehende Partei im
Scheidungspunkte nur auf Abweisung der Gegenklage antrug und im übrigen
eine vom angefochtenen Urteil abweichende Regelung der Nebenfolgen
erstrebte (BGE 55 II 291 ff.). Ebenso frei ist das oberinstanzliche
Gericht in der Beurteilung der Scheidungsfrage dann, wenn, wie im
vorliegenden Falle, das angefochtene Urteil nur eines der beiden
Scheidungsbegehren gutgeheissen hat und die unterlegene Partei mit der
Weiterziehung lediglich neben jenem auch ihr eigenes Scheidungsbegehren
zur Geltung bringen will. Eine teilweise Rechtskraft des erstinstanzlichen
Scheidungsurteils (nämlich soweit das Begehren des Klägers betreffend)
war somit im vorliegenden Falle ausgeschlossen, und in der Ablehnung
der Scheidung überhaupt durch das oberinstanzliche Urteil lag nach dem
Gesagten auch keine verbotene reformatio in peius.

    . . . . .