Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 84 II 232



84 II 232

33. Urteil der H. Zivilabteilung vom 22. Mai 1958 i.S. Z. gegen Z.
Regeste

    Rückzug des in oberer kantonaler Instanz zugesprochenen Ehescheidungs-
oder -trennungsbegehrens:

    1.  Der Rückzug ist bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils
zulässig.

    2.  Auch wenn das kantonale Scheidungs- oder Trennungsurteil auf
gemeinsamen Begehren beider Parteien beruht, tritt es nicht sofort in
Rechtskraft, sondern erst nach schriftlicher Mitteilung gemäss Art. 51
lit. d OG und nach Ablauf der Berufungs- und Anschlussberufungsfrist nach
Art. 54 Abs. 2 OG.

    3.  Gibt das kantonale Prozessrecht (Gesetz und Gerichtsgebrauch) dem
kantonalen Gericht keine Befugnis, sein Urteil als durch nachträglichen
Klagerückzug dahingefallen zu erklären, so kann der Rückzug binnen
nützlicher Frist beim kantonalen Gericht zu Handen des Bundesgerichts
oder direkt bei diesem erfolgen.

Sachverhalt

    A.- Die Scheidungsklage des Ehemannes wurde in erster Instanz
abgewiesen, weil er an der vom Bezirksgericht bejahten tiefen Zerrüttung
der Ehe vorwiegend schuldig und daher zur Klage nicht berechtigt sei
(Art. 142 Abs. 2 ZGB). Die Ehefrau hatte sich der Scheidung widersetzt.
Vor Obergericht, an das der Kläger appellierte, schlossen die Parteien
dann aber folgende Vereinbarung:

    "1.  Die Parteien stellen ein gemeinsames Scheidungsbegehren gestützt
auf Art. 142 ZGB.

    2.  Der Kläger verpflichtet sich, die Liegenschaft ... der Beklagten
zu übertragen.

    3.  Die Beklagte übernimmt die Bezahlung der heute noch ausstehenden
Rechnungen für die Erstellung der Schwemmkanalisation im Maximalbetrag
von Fr. 1200.--.

    4.  ... bis 9. ..." (Hausrat, Wohnungsräumung, Entschädigungsrente,
Prozesskosten).

    B.- Das Obergericht, dem die Parteien diese Vereinbarung
unterbreiteten, fällte am 24. März 1958 folgendes Urteil:

    "1.  Die Ehe der Parteien wird auf Grund von Art. 142 ZGB geschieden.

    2.  Der Kläger ist verpflichtet, die Liegenschaft ... der Beklagten
zu Eigentum zu übertragen.

    3.  Im übrigen wird die Vereinbarung der Parteien ... genehmigt.

    4.  ... bis 6. ..." (Prozesskosten und Mitteilung).

    C.- Das Urteil wurde den Parteien am 14. April 1958 zugestellt. Am
3. Mai reichte der Kläger beim Obergericht zu Handen des Bundesgerichts
eine "Berufung" ein, mit dem Antrag,

    "es sei in Gutheissung der Berufung Dispositiv Ziffer 1 des
angefochtenen Entscheides aufzuheben und vom Rückzug der Klage Vormerk
zu nehmen."

    Die Begründung geht dahin: "Mit der Beklagten habe ich mich
ausgesöhnt, und wir haben vereinbart, die eheliche Gemeinschaft
fortzuführen. Demzufolge ziehe ich die Scheidungsklage zurück."

    Am Fusse der Berufungsschrift findet sich folgende mit dem Namenszug
der Beklagten versehene Erklärung vor:

    "Zum Zeichen des Einverständnisses mit dem Klagerückzug unterzeichnet
die Beklagte ebenfalls diese Eingabe."

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Als eigentliche Berufung kann die Eingabe des Klägers nicht gelten.
Denn sie zielt nicht, wie es dem Zweck dieses Rechtsmittels entspricht,
auf Änderung des obergerichtlichen Urteils zu seinen Gunsten ab. Es fehlt
ein Antrag im Sinne von Art. 55 lit. b OG, und es kommt denn auch eine
Weiterziehung durch den Kläger gemäss den Art. 43 ff. OR gar nicht in
Frage, da das obergerichtliche Urteil seinen Anträgen in allen Teilen
entspricht, so dass er durch dieses Urteil in keiner Weise beschwert und
daher zur Weiterziehung nicht legitimiert ist.

Erwägung 2

    2.- Was die Eingabe zur Geltung bringen will, ist ein Rückzug der
vom Obergericht zugesprochenen Scheidungsklage. In Verbindung damit gibt
die Ehefrau eine Erklärung ab, die besagt, dass sie das vor Obergericht
gemeinsam mit dem Ehemann gestellte Scheidungsbegehren auch ihrerseits
zurückzieht. Es ist zu prüfen, ob eine in oberer kantonaler Instanz
geschützte Scheidungsklage bis zum Ablauf der Berufungsfrist noch wirksam
zurückgezogen werden könne, und zwar beim Bundesgericht oder zu dessen
Handen bei der Vorinstanz.

Erwägung 3

    3.- Es ist anerkannt, dass der Rückzug einer Scheidungsklage,
solange die Scheidungsfrage noch rechtshängig ist, in jeder Instanz
zulässig ist. Selbst ein Ehegatte, der in oberer kantonaler Instanz
mit einem solchen Begehren obgesiegt hat, kann den Klagerückzug noch
in der bundesgerichtlichen Instanz erklären. Fraglich ist indessen,
ob er selbst auch beim Fehlen einer Beschwernis in der Lage ist, die
Angelegenheit beim Bundesgericht hängig zu machen, nur eben zum Zweck
des Klagerückzuges. Das wurde in BGE 43 II 454 ff. verneint, und es
wurde ausgeführt, dem rückzugswilligen Kläger bleibe nichts anderes
übrig, als die durch das obergerichtliche Urteil einzig beschwerte
Gegenpartei ihrerseits zur Einlegung einer rechtzeitigen Berufung im
Scheidungspunkte zu veranlassen, um hierauf seine Scheidungsklage noch
zurückziehen zu können. Diese Bedingung des Rückzuges war in einem
spätern Fall erfüllt (BGE 51 II 81/82). Auch in BGE 82 II 81 ff. liess
sich die Berücksichtigung des nachträglichen Rückzuges einer in der obern
kantonalen Instanz gutgeheissenen Scheidungsklage damit rechtfertigen, dass
eine zulässige Berufung im Scheidungspunkt seitens der andern, mit ihrem
eigenen Scheidungs- (Widerklage-)begehren vor Obergericht unterlegenen
Partei vorlag. Einleitend wurde indessen die Frage aufgeworfen, ob der
Klagerückzug nicht ohnehin zulässig wäre, d.h. "ob ein Scheidungskläger,
der mit seinem Begehren vor dem obern kantonalen Gericht im Scheidungspunkt
oder sogar vollständig (auch hinsichtlich der Nebenfolgen der Scheidung)
obgesiegt hat, während der Frist für die Berufung an das Bundesgericht
seine Klage noch wirksam zurückziehen kann, selbst wenn die Gegenpartei
das Urteil des obern kantonalen Gerichts nicht weiterzieht oder es doch
wenigstens im Scheidungspunkt unangefochten lässt". Diese für das Schicksal
des vorliegenden Klagerückzuges entscheidende Frage ist zu bejahen. Der im
Vorentwurf des revidierten OG enthaltene Schlusspassus von Art. 55 lit. b
("... Neue Begehren sind ausgeschlossen, ausgenommen solche zum Zweck der
Aufrechterhaltung der Ehe") fand zwar nicht Eingang in das Gesetz. Aber
die Zulässigkeit eines diesem Zweck dienenden Klagerückzuges bis zum
Eintritt der Rechtskraft im Scheidungspunkte wurde vom Gesetzgeber
nicht etwa verneint oder auch nur in Zweifel gezogen. Vielmehr hielt
man, laut der Vernehmlassung des Bundesgerichts zum Vorentwurf, eine
derartige Erweiterung des Bereiches der Berufung für unnötig, weil der
Klagerückzug durch einfache Abstandserklärung (bei der Vorinstanz), ohne
Einlegung eines Rechtsmittels, erfolgen könne. Nun ist aber das obere
kantonale Gericht jedenfalls nicht von Bundesrechts wegen verpflichtet,
eine nach Ausfällung und Verkündung seines Endurteils bei ihm eingehende
Abstandserklärung noch zu berücksichtigen und das Urteil als hinfällig
zu betrachten oder zu widerrufen. In der Lehre des Prozessrechts wird
auf der einen Seite freilich die Ansicht verfochten, zwecks Aufgabe der
ausgesprochenen Scheidung bedürfe es keiner Weiterziehung des Urteils,
sondern das Gericht, das die Scheidung aussprach, habe einen vor Eintritt
der Rechtskraft erklärten Abstand als dem Urteil nachfolgenden Grund der
Prozesserledigung zu beachten (LEUCH, N. 1 zu Art. 333 der bernischen
ZPO, S. 313, Zeile 14 der 3. Auflage, und N. 6 zu Art. 397). Anderseits
findet sich aber die Meinung vertreten, nach Verkündung der Endentscheidung
könne der Kläger sein Begehren nur in der Weise zurückziehen, dass er
vor Eintritt der Rechtskraft ein ordentliches Rechtsmittel einlege und
dann in der obern Instanz den Rückzug der Klage erkläre (GULDENER, Das
schweizerische Zivilprozessrecht I 247, N. 1 zu § 36). Nach dieser Ansicht
bleiben lediglich abweichende prozessuale Vorschriften vorbehalten wie
etwa Art. 443 Abs. 3 der Genfer ZPO, der (in der Fassung der Novelle vom
12. Februar 1944) den Rückzug eines Scheidungs- oder Trennungsbegehrens
in folgender Weise erleichtert:

    "Tout jugement ou arrêt prononçant le divorce ou la séparation de
corps sera réputé nul et non avenu si les deux parties ont, dans le délai
fixé pour l'opposition, l'appel ou le recours au Tribunal fédéral, ...,
déclaré renoncer au divorce ou à la séparation de corps. Cette déclaration,
qui est irrévocable en ce qui concerne le jugement ou l'arrêt rendu,
doit être faite par écrit et déposée auprès du greffier de la juridiction
chargée de communiquer le jugement ou l'arrêt en vue de transcription."

    Dass in ähnlichem Sinne auch der vorliegende beidseitige Rückzug
der Scheidungsklagen nach zürcherischem Prozessrecht (Gesetz oder
Gerichtsgebrauch) hätte entgegengenommen werden müssen, ist nicht
dargetan. Das Obergericht hat die bei ihm eingereichte "Berufung",
die sich in den beidseitigen Rückzugserklärungen und dem darauf
gestützten Antrag auf Aufhebung des kantonalen Urteils erschöpft, ohne
dahingehende Bemerkung an das Bundesgericht geleitet. Nach Art. 56 OG
war es zu keinem andern Vorgehen verpflichtet. Die Zulässigkeit eines
Rückzuges der Scheidungsklage bis zum Eintritt der Rechtskraft des
obergerichtlichen Scheidungsurteils, also bis zum Ablauf der Berufungs-
und einer allfälligen Anschlussberufungsfrist (Art. 54 Abs. 2 OG), ist
aber um der Aufrechterhaltung der Ehe willen als Grundsatz des materiellen
Bundesrechts anzuerkennen und unabhängig von der Gestaltung des kantonalen
Prozessrechts zur Geltung zu bringen. Damit dies in allen Fällen geschehen
kann, ist dem Kläger (oder Widerkläger), der sein in oberer kantonaler
Instanz zugesprochenes Scheidungs- oder Trennungsbegehren zurückziehen
will, zu gestatten, entsprechend den für die Einreichung der Berufung
geltenden Vorschriften eine dahingehende Erklärung beim kantonalen Gericht
zu Handen des Bundesgerichts (Art. 54 Abs. 1 OG) oder direkt bei diesem
(Art. 32 Abs. 3 OG am Ende) abzugeben. Das Bundesgericht hat alsdann
die sich aus dem Rückzug ergebende Prozesserledigung festzustellen und
die Sache demgemäss abzuschreiben, sofern das kantonale Gericht sich
nicht als befugt erachtet, einer bei ihm eingegangenen Rückzugserklärung
selber die ihr gebührende materiellrechtliche Folge zu geben. Derartige
Rückzugserklärungen sind um ihrer eherechtlichen Bedeutung willen auch
dann zuzulassen, wenn, wie im vorliegenden Falle, keine Partei durch
das Urteil der obern kantonalen Instanz beschwert ist, zur Einlegung
einer eigentlichen Berufung also keine Partei berechtigt wäre. Schon
die Möglichkeit, dass ein obsiegender Scheidungskläger nachträglich
auf seinen Scheidungsanspruch verzichten will (und gleiches gilt für
blosse Trennungsklagen), rechtfertigt es hinlänglich, das kantonale
Scheidungsurteil auch in einem solchen Falle nicht etwa sofort mit
seiner Ausfällung oder Verkündung, sondern erst mit dem Ablauf der
Rechtsmittelfristen nach den ordentlichen Regeln rechtskräftig werden zu
lassen. Diese Betrachtungsweise führt praktisch zum selben Ergebnis wie die
in Deutschland zugelassene Einlegung des Rechtsmittels selbst, "lediglich
zum Zwecke der Rücknahme der Scheidungsklage", wobei ausnahmsweise
vom Erfordernis einer Beschwerung abgesehen wird (Entscheidungen
des deutschen Reichsgerichts in Zivilsachen 115 S. 374/75; ROSENBERG,
Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 7. Auflage, § 161, Bem. V 2 a;
STEIN/JONAS/SCHÖNKE/POHLE, 17. Auflage, N. II B 1 zu § 511 und N. IV zu §
545 der deutschen ZPO).

Erwägung 4

    4.- Mit dem Scheidungsdispositiv 1, worauf allein die Eingabe der
Parteien Bezug nimmt, fallen notwendigerweise auch die Dispositive 2
und 3 des obergerichtlichen Urteils dahin; denn ausserhalb der Scheidung
können sie keinen selbständigen Bestand haben. Insbesondere ist Disp. 2
nur die Wiederholung eines (wohl bloss zur grundbuchlichen Vollstreckung)
aus der Scheidungskonvention herausgehobenen Bestandteils derselben. Zur
Klarlegung der Verhältnisse ist daher ausdrücklich der Hinfall dieser
durch die Scheidung bedingten Dispositive gleichfalls festzustellen,
was die Parteien nicht anders wollen können, und was daher nicht über
ihre richtig verstandenen Anträge hinausgeht. Die nicht angefochtenen
Kostendispositive 4 und 5 bleiben dagegen bestehen.

Erwägung 5

    5.- Der Abstand beendet den Rechtsstreit unmittelbar. Das
obergerichtliche Urteil (mit Ausnahme der Disp. 4 und 5) ist daher
infolge der beidseitigen Rückzugserklärungen der Parteien ohne weiteres
dahingefallen, somit in feststellendem Sinn als dahingefallen zu
erklären, so dass es keines Urteils mit gestaltender Wirkung bedarf. Die
Prozesserledigung ohne Urteil führt zur Abschreibung der Sache ohne
öffentliche Beratung, zumal bei der im vorliegenden Falle gegebenen
Einstimmigkeit (Art. 73 BZP/40 OG in Verbindung mit Art. 60 OG,
insbesondere in Anlehnung an dessen Abs. 1 lit. c).

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Vom Rückzug der Klage wird Kenntnis genommen und das Urteil der I.
Zivilkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 24. März 1958 als
dahingefallen erklärt.