Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 I 250



83 I 250

34. Urteil vom 23. Oktober 1957 i.S. N. gegen Regierungsrat des Kantons
Appenzell a.Rh. Regeste

    Art. 4 und 31 BV.

    1.  Personen, die eine wissenschaftliche Berufsart im Sinne des Art. 33
BV ausüben, geniessen die Handels- und Gewerbefreiheit. Sie dürfen von
den Kantonen nur den Beschränkungen unterworfen werden, die sich aus
Art. 31 Abs. 2 und Art. 33 BV ergeben.

    2.  Darf die Bewilligung zur Ausübung des Berufs eines Zahnarztes
von der Niederlassung im Kanton abhängig gemacht werden?

Sachverhalt

    A.- Die Landsgemeinde von Appenzell a.Rh. erliess am 30.  April 1871
"Gesetzliche Bestimmungen betreffend die Freigebung der ärztlichen
Praxis". Art. 1 lautet:

    "In der Praxis herrscht, was den ärztlichen oder tierärztlichen
Beruf betrifft, mit Ausnahme der im nachstehenden Art. 3 bezeichneten
Fälle volle Freiheit und können die in bürgerlichen Ehren und Rechten
stehenden Kantonseinwohner, welche die gesetzliche Niederlsssung haben,
an der Ausübung dieses Berufes nicht gehindert werden."

    Entsprechend bestimmt § 15 der Verordnung über das Gesundheitswesen
vom 30. Mai 1924/25. Mai 1944:

    "Die Ausübung der Heiltätigkeit ist nur den in bürgerlichen Ehren
und Rechten stehenden Kantonseinwohnern gestattet, welche die gesetzliche
Niederlassung haben."

    Als ärztlicher Beruf bzw. Heiltätigkeit im Sinne dieser Rechtssätze
gilt auch der Beruf eines Zahnarztes.

    B.- N. mietete 1948 in Herisau eine Vierzimmerwohnung, in der er
seither eine zahnärztliche Praxis betreibt. Seme Ehefrau wohnte nur
kurze Zeit mit ihm an diesem Ort, angeblich, weil sie das dortige Klima
nicht erträgt. Seither wohnt sie in einem ihr gehörenden Einfamilienhaus
in Zürich. N. begibt sich in der Regel am Freitagabend nach Zürich,
um das Wochenende mit seiner Frau zu verbringen.

    Am 31. Dezember 1956 teilte ihm die Sanitätskommission von Appenzell
a.Rh. mit, als Kantonseinwohner im Sinne der eingangs erwähnten
Bestimmungen gelte nur, wer "regelrecht mit seiner Familie im Kanton"
wohne, "d.h. hier den Mittelpunkt seiner Lebensgewohnheiten" habe. Das
treffe für ihn nicht zu. Die Ausübung des zahnärztlichen Berufs werde
ihm mit Wirkung ab 30. April 1957 verboten, sofern bis dahin seine
"Wohnverhältnisse" nicht den Vorschriften entsprechend geordnet seien.

    Eine Beschwerde, die N. dagegen führte, wìes der Regierungsrat
des Kantons Appenzell a.Rh. am 23. Juli 1957 mit der Begründung ab,
der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse und damit der Wohnsitz des
Beschwerdeführers befinde sich eindeutig in Zürich. Eine ärztliche
Untersuchung habe ergeben, dass sich seine Ehefrau zwar in Zürich wohler
fühle, weil sie dort weniger nervösen Anspannungen ausgesetzt sei als am
Arbeitsort ihres Ehemannes, dass sie das Klima von Herisau aber durchaus
ertragen würde.

    C.- Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde beantragt
N. die Aufhebung dieses Entscheids. Er rügt eine Verletzung der Art. 4
(Verweigerung des rechtlichen Gehörs, rechtsungleiche Behandlung, Willkür),
31, 45 und 54 BV, des Art. 2 Üb.Best. BV sowie der Art. 11 Abs. 1 und
12 KV.

    D.- Der Regierungsrat des Kantons Appenzell a.Rh.  schliesst auf
Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht in materieller Hinsicht vornehmlich
geltend, Art. 1 der "Gesetzlichen Bestimmungen" vom 30. April 1871 und
§ 15 der Verordnung über das Gesundheitswesen verstiessen insofern,
als sie die ärztliche (zahnärztliche) und tierärztliche Praxis nur den
(in bürgerlichen Ehren und Rechten stehenden) Kantonseinwohnern, nicht
aber den Einwohnern anderer Kantone freigeben, gegen Art. 4 und 31 BV;
sie dürften deshalb nicht auf ihn angewendet werden. Können auch jene
kantonalen Rechtssätze selbst nicht mehr mit staatsrechtlicher Beschwerde
angefochten werden, weil die Frist dazu längst abgelaufen ist, so kann
doch ihre Verfassungswidrigkeit noch in jedem einzelnen Anwendungsfall
gerügt und verlangt werden, dass der sie anwendende Entscheid deswegen
aufgehoben werde (BGE 83 I 113/114 und dort angeführte Urteile).

Erwägung 2

    2.- Der Beruf eines Zahnarztes gehört zu den wissenschaftlichen
Berufsarten (BGE 42 I 35, 70 I 73), deren Ausübung die Kantone gemäss
Art. 33 BV von einem Ausweis der Befähigung abhängig machen dürfen. Unter
Vorbehalt dieser besonderen Befugnis der Kantone - von der Appenzell
a.Rh. keinen Gebrauch gemacht hat - geniessen auch die wissenschaftlichen
Berufe den Schutz der Handels- und Gewerbefreiheit (BGE 59 I 193; 67 I 87,
198; 79 I 121).

    Der Regierungsrat ist der Ansicht, wenn der Kanton die Ausübung
der zalmärztlichen Tätigkeit von einem Ausweis der Befähigung abhängig
machen dürfe, so müsse es ihm frei stehen, an Stelle dieser Anforderung
das bedeutend weniger weit gehende Erfordernis des Wohnsitzes im Kanton
aufzustellen. Diese Beweisführung verkennt, dass die zweite Anforderung auf
einer anderen Ebene liegt als die erste. Art. 33 BV ermächtigt die Kantone,
nur solche Angehörige wissenschaftlicher Berufsarten zur Berufsausübung
zuzulassen, die sich über bestimmte berufliche Fähigkeiten ausgewiesen
haben. Die (zugegebenermassen nur auf Berufsleute ohne eidgenössisches
Diplom anwendbare) Vorschrift des Kantons Appenzell a.Rh., wonach
Ärzte (Zahnärzte) und Tierärzte im Kanton Wohnsitz haben müssen, dient
demgegenüber nicht der Prüfung und Überwachung der beruflichen Fähigkeiten
des Heilkundigen (an die das kantonale Recht keine Anforderungen stellt),
sondern der Kontrolle seiner persönlichen Eigenschaften.

    Die Befugnisse, die den Kantonen auf diesem Gebiet zustehen,
ergeben sich indes nach dem Gesagten nicht aus Art. 33 BV; sie
beruhen vielmehr auf Art. 31 Abs. 2 BV, der die Kantone allgemein
zum Erlass gewerbepolizeilicher, d.h. durch Gründe des öffentlichen
Wohls gerechtfertigter Bestimmungen über die Ausübung von Handel und
Gewerbe ermächtigt, die ihrerseits jedoch den Grundsatz der Handels-
und Gewerbefreiheit nicht beeinträchtigen dürfen. Nach ständiger
Rechtsprechung können die Kantone auf Grund des Art. 31 Abs. 2 BV die
Zulassung zu den ärztlichen Berufen (ausser vom Befähigungsausweis)
von bestimmten persönlichen Eigenschaften wie insbesondere dem Besitz
der bürgerlichen Rechte, einem guten Leumund, Ehrenhaftigkeit und
Zutrauenswürdigkeit abhängig machen. Die Anforderungen, die in dieser
Hinsicht gestellt werden, dürfen jedoch nicht höher sein, als zum Schutze
des Publikums vor unfähigen oder gewissenlosen Ärzten bzw. Zahnärzten
und zur Aufrechterhaltung des Ansehens der Heilkunde und des Vertrauens
in deren Vertreter notwendig ist (BGE 79 I 121). Es gilt somit auch hier
der Grundsatz der Verhältnismässigkeit der polizeilichen Beschränkungen:
diese dürfen nicht weiter gehen, als es zur Wahrung des öffentlichen Wohls
notwendig ist. Aus dem Grundsatz der Rechtsgleichheit aller Bürger (Art. 4
BV) und insbesondere aller Angehörigen eines unter dem Schutze der Handels-
und Gewerbefreiheit stehenden Berufes (Art. 31 BV) ergibt sich ferner, dass
die gewerbepolizeilichen Beschränkungen keine Unterscheidungen zwischen
den einzelnen Berufsgenossen treffen dürfen, für die ein vernünftiger
Grund in den tatsächlichen Verhältnissen nicht ersichtlich ist.

Erwägung 3

    3.- Wenn Art. 1 der "Gesetzlichen Bestimmungen" und § 15 der Verordnung
über das Gesundheitswesen nur Kantonseinwohner zur freien ärztlichen
Betätigung zulassen, so hält diese Einschränkung demnach nur dann vor
Art. 4 und 31 BV stand, wenn der Wohnsitz innerhalb oder ausserhalb des
Kantons eine unter dem Gesichtswinkel des öffentlichen Wohls für die
Berufsausübung wesentliche Verschiedenheit begründet.

    a) Die Vernehmlassung des Regierungsrats sucht die getroffene
Unterscheidung in erster Linie mit dem Hinweis darauf zu stützen, dass
unlautere Elemente von der ärztlichen bzw. zahnärztlichen Tätigkeit
fernzuhalten seien; eine wirksame Überwachung sei aber nur möglich, wenn
diese Berufsleute im Kanton Wohnsitz hätten. Der polizeiliche Zweck dieser
an sich zweifellos gerechtfertigten Kontrolle kann indes nur im Schutz
der öffentlichen Gesundheit liegen. Um zu prüfen, ob ein Heilkundiger die
öffentliche Gesundheit gefährde, ist jedoch vor allem seine Heiltätigkeit
zu überwachen, während es auf seine übrigen Lebensverhältnisse höchstens
mittelbar ankommen kann. Die Kontrolle ist daher zur Hauptsache nicht am
Wohnort, sondern am Arbeitsort auszuüben. Unter dem hier massgebenden
Gesichtspunkt muss es daher jedenfalls genügen, wenn ein (nicht
eidgenössisch diplomierter) Arzt, Zahnarzt oder Tierarzt den Mittelpunkt
seiner beruflichen Tätigkeit (und nicht seiner gesamten Lebensverhältnisse)
im Kanton hat. Das aber ist beim Beschwerdeführer eindeutig der Fall. Als
Zahnarzt übt er seinen Beruf während fünf Tagen in der Woche in einer
eigens dafür eingerichteten Praxis in Herisau aus. Seine Berufstätigkeit
kann dementsprechend an jenem Orte vollständig überblickt werden. Dass er
allenfalls seinen Wohnsitz nicht in dieser Gemeinde, sondern ausserhalb
des Kantons hat, erschwert diese Kontrolle in keiner Weise.

    b) Um das Erfordernis des Wohnsitzes innerhalb des Kantons zu
rechtfertigen, macht der Regierungsrat ferner geltend, um den Patienten die
Durchsetzung allfälliger Schadenersatzansprüche aus nicht fachgerechter
ärztlicher Tätigkeit zu erleichtern, müsse der Heilkundige im Kanton vor
Gericht gezogen werden können. Wenn der Gläubiger auf diese Weise geschützt
werden soll, so entspricht dies aber einem rein privaten Interesse; mit
dem öffentlichen Interesse, insbesondere mit der Wahrung der öffentlichen
Gesundheit, hat dieser Schutz nichts zu tun. Dass die in Betracht gezogenen
Forderungen Schadenersatzansprüche aus kunstwidriger Heiltätigkeit
betreffen, ändert daran nichts. Ebensowenig vermag der Einwand zu helfen,
die leichtere Belangbarkeit könne einen nicht sachverständigen Heilkundigen
davon zurückhalten, eine Heiltätigkeit aufzunehmen oder eine bestehende
Praxis weiterzuführen. Sollte sich die Schaffung eines Gerichtsstandes
im Kanton je in diesem Sinne auswirken, so stände dieses Ergebnis in
keinem vertretbaren Verhältnis zu der Schwere der Einschränkung, die
der Gesamtheit der Berufsgenossen aus dem Erfordernis des Wohnsitzes im
Kanton erwächst.

    c) Der Regierungsrat sucht die angefochtene Anforderung schliesslich
damit zu begründen, dass die mit der Übersiedelung in den Kanton
verbundenen Kosten und Risiken manche ungeeignete Anwärter davon
abschrecke, eine Heiltätigkeit im Kanton Appenzell a.Rh. aufzunehmen. Die
Frage der Fernhaltung ungeeigneter Elemente stellt sich jedoch in ebendem
Masse mit Bezug auf die im Kanton niedergelassenen Anwärter. Es besteht
somit auch in dieser Hinsicht keine Verschiedenheit in den tatsächlichen
Verhältnissen, die eine unterschiedliche Behandlung von Kantonseinwohnern
und Auswärtigen rechtfertigen würde.

    Andere polizeiliche Gründe für das Wohnsitzerfordernis werden in
der Vernehmlassung nicht geltend gemacht; sie sind auch sonst nicht
ersichtlich. Es verhält sich somit bei Freigabe der Heilpraxis nicht
anders, als wo die Ausübung einer ärztlichen Tätigkeit an den Besitz eines
Fähigkeitszeugnisses gebunden ist, für welchen Fall das Bundesgericht
das Erfordernis der Wohnsitznahme im Kanton bereits in BGE 67 I 200 als
verfassungswidrig erklärt hat. Art. 1 der "Gesetzlichen Bestimmungen"
und § 15 der Verordnung über das Gesundheitswesen verstossen deshalb,
soweit sie nur Kantonseinwohner zur freien ärztlichen Praxis zulassen,
gegen Art. 4 und 31 BV.

Erwägung 4

    4.- Der angefochtene Entscheid ist mithin, weil in
Anwendung verfassungswidrigen Rechts ergangen, aufzuheben. Bei
diesem Ausgang erübrigt sich die Prüfung der weiteren Rügen des
Beschwerdeführers. Insbesondere besteht kein Anlass, auf die Beschwerde
wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs einzutreten, hätte deren
Gutheissung doch nur eine Rückweisung zu neuer Entscheidung zur Folge. Dazu
liegt aber bei der gegebenen Sachlage kein Grund vor (vgl. BGE 83 I 85).

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, und der Beschluss des Regierungsrates
des Kantons Appenzell a.Rh. vom 23. Juli 1957 wird aufgehoben.